Kapitel 3 - Die Mühle

"Nun halt schon still!", schnaubte Laina unwirsch, als Veikko fiepend zusammen zuckte. Wie durch Butter glitt die scharfe Klinge ihres Küchenmessers durch seine seidige Fohlenmähne. Dicke, schwarze Strähnen fielen zu Boden, als sie sein Langhaar bis zum Ansatz  stutzte, sodass er aussah, wie eines der armseligen Sklavenfohlen, das von Pferdehändlern gefangen genommen, ausgepeitscht, rasiert und schließlich nach Van Alvarr gebracht worden war, um dort als lebenslanger Diener an das Königshaus verkauft zu werden. 

Traurig betrachtete der dunkelbraune Junghengst sich im Spiegel. Es war seine Idee gewesen, nicht die seiner neuen Familie. Sie hätten ihm so etwas sicher niemals freiwillig angetan, da war sich Veikko sicher.

Bjame hatte deutliche Bedenken geäußert, dass einige Pferde im Dorf womöglich misstrauisch werden könnten. Solche Pferde würden nicht davor scheuen, seinen Aufenthaltsort gegen die auf seinen Kopf ausgesetzte Belohnung an das Königshaus weiterzuleiten. Deshalb musste er sich tarnen. Sein von den Dornen zerfetzter Pelz war da erst der Anfang. Aber er würde größer werden. Sein Körper würde sich der harten Arbeit auf dem Hof anpassen, sein Fell würde ausschimmeln und spätestens dann würde niemand mehr in ihm das entflohene Fohlen des Königs erkennen können.

Jeder im Königreich wusste, wie die beiden Fohlen des Königs aussahen. Das war schließlich keine Kunst. Erst recht jetzt, wo mit Gewissheit bald Ausschreibungen auf seinen Kopf im ganzen Dorf ausgehängt werden würden. Das hatte Bjame zumindest gesagt.

Immer, wenn ein Pferd gesucht wurde, hängte man Plakate mit einer Zeichnung des Gesuchten  im Dorf auf. Derjenige, der das Pferd fand, wurde mit hohen Geldsummen entlohnt. Und eine solche Geldsumme war in einem armen Dorf wie Kilgrim ein ganz außerordentlicher Anreiz, die Treue zu seinen Freunden ein wenig schleifen zu lassen und damit seine eigene Haut zu retten.

Aber Bjame und Laina würden sterben, wenn es soweit kam. Das konnte Veikko nicht zulassen! Immerhin hatte er mit dem Kürzen seiner Mähne einen Schritt in die richtige Richtung gewagt.

"Deine Mähne macht mir weniger Sorgen, als dein Abzeichen", knurrte Bjame jedoch nur düster. "Du siehst exakt wie dein Bruder aus. Niemand wird das leugnen können. Umso schwieriger wird es, dich überJahre hinweg glaubwürdig vor den Augen der Ritter zu tarnen."

"Ich dachte, ihr hättet Freunde, die euch helfen", wieherte Veikko erschrocken. Hatten sie ihn angelogen, nur um ihn zu beruhigen? "Ihr habt gesagt, dass alles gut werden würde! Ihr habt gesagt, hier wäre ich in Sicherheit!"

Laina warf Bjame einen flehenden Blick zu, damit er die nagenden Zweifel des Fohlens stillte. Ihr Gemahl suchte vorsichtig schnaubend Veikkos Aufmerksamkeit, der sich mit hängenden Ohren von ihm abgewendet hatte, ehe er seufzte und schwermütig aus dem Fenster blickte.

"Das bist du doch auch, Junge!", brummte er mit tiefer, warmer Stimme. Veikko hob den Kopf und erblickte die massive Silhouette des Pferdes gegen das, durch das Fenster hereinströmende, Sonnenlicht. Und trotz der Stärke, die er ausstrahlte, bemerkte Veikko zum ersten Mal etwas wie Wehmut in dem alten Pferd, als es seinen Blick wachsam über die Gefilde außerhalb der Mühle schweifen ließ.

"Ja, wir haben Freunde, die uns helfen. Aber wie überall gibt es Schwarze Schafe, die egoistisch sind und anderen ihr Glück nicht gönnen. Dem müssen wir vorbeugen."

"Wir könnten auch einfach die Zeichnung verfälschen", schnaubte Veikko schließlich. "Dann würden sie nach einem falschen Pferd suchen!"

"Das wäre eine Möglichkeit", merkte Bjame an. "Wir haben das Glück, dass unsere Mühle so weit außerhalb von Kilgrim liegt. So wirst du wenigstens nicht allzu oft gesehen werden, wenn du dich hinaus wagst."

Laina, die in der Zwischenzeit geschäftig in einer Schale gerührt hatte, trat nun näher und rieb eine dickflüssige, schwarzbraune Masse aus Ruß, Lehm und Wasser auf Veikkos Stirn. Der junge Hengst blickte in den Spiegel vor sich und staunte. Das Abzeichen auf seiner Stirn war vollständig verschwunden. Bis auf den nassen Fleck, der langsam trocknete, erkannte man nur noch, wenn man es wusste, dass sich darunter sein Stern verbarg.

"Oder wir machen uns einfach Mutter Natur zu Nutze und begehen nicht noch mehr Verrat an unserem Königreich, als wir ohnehin schon tun, indem wir ihn verstecken. Und es wird nicht mehr lange dauern, dann wirst du auch nicht mehr so alleine sein, das verspreche ich dir!"

Auf Bjames Lippen erschien ein schelmisches Schmunzeln, als er Lainas Worte hörte. Er hatte also recht behalten! Laina erwartete tatsächlich bald Nachwuchs! Veikko hoffte, dass es ein kleiner Bruder würde, mit dem er spielen konnte.

Unterdessen betrachtete sich Veikko im Spiegel. Mit dem verdeckten Stern auf der Stirn wirkte es beinahe so, als blickte ihn ein völlig anderes Pferd an. Der junge Hengst erkannte sich beinahe selbst nicht mehr.

Als ein lautes Klopfen an der Tür ertönte, fuhren die Pferde ängstlich in sich zusammen. Laina drängte Veikko voller Angst hinter sich, zog ihm eine Decke über den Rücken und eine Kapuze über seinen Kopf, sodass der fremde Besucher nicht sein Gesicht sah. 

Bjame drehte sich für einen Augenblick zu seiner Gefährtin um und öffnete dann die Tür, als diese nickte. Veikkos Herz schlug ihm bis zum Hals. Waren das die Ritter, die nach ihm suchten? Kamen sie, um ihn zu holen?

Er kniff die Augen ängstlich zusammen, als er Hufe über die Schwelle treten hörte, dann erklang ein schrilles Wiehern.

"Ohhh, Laina! Ist er das?"

Mit einem Mal wurde Veikko angerempelt und eine hübsche, alte Palomino Stute zog ihm die Kapuze vom Kopf. Vor Entzücken quiekend stieg sie auf die Hinterbeine und knuffte seine Backen zwischen ihren Vorderbeinen, während sie wild über seinen abgeschorenen Schopf wuschelte.

"Ohhh, der ist ja wirklich zum Knutschen! Dich würde ich ja glatt selbst behalten, aber ich habe schon sieben auf einem Haufen. Tut mir leid!"

"Martha, nicht so laut", zischte Laina mit einem flüchtigen Blick nach draußen, bevor sie die Tür hinter dem aufgedrehten Pony schloss. Martha strahlte über beide Augen, dann reichte sie Veikko ein Stück Brot, das sie in einem Körbchen mitgebracht hatte, welches seitlich an einem Gurt um ihren Bauch befestigt war.

"Hier! Damit du groß und stark wirst, du süßes Ding, du!"

Dankend nahm der junge Hengst die Gabe an, obwohl die Stute ihm etwas zu fröhlich für diesen Anlass vorkam. Schließlich musste sie doch wissen, dass er seine Familie verloren hatte. Zum Glück konnte sie nicht sehen, wie zerkratzt sein Pelz war. Sonst hätte sie ihre Meinung sicherlich schnell geändert.

"Und jetzt geh schön spielen!", schnaubte sie geschäftig. "Ich habe etwas mit deinem 'Vater' zu besprechen."

Sie wusste es also, wer er war. Erleichtert atmete Veikko auf. Aber mit wem sollte er denn spielen? Andere Fohlen hatte er hier jedenfalls noch nicht gesehen. Unschlüssig blickte er sich um, als ihm plötzlich etwas um die Beine streifte. Veikko senkte den Blick und erkannte eine langhaarige, braun getigerte Katze mit vier weißen Beinen und einer weißen Schnauze, die ihren dicken Kopf schnurrend an seinen Hufen rieb.

"Wie es aussieht, hat wenigstens euer Sokki genug zu Fressen", schnaubte Martha mit einem Anflug von Ekel in ihrer Stimme. "Also mir käme so ein Vieh nicht in meine Bäckerei! Überall diese Haare, bah!"

"Er fängt die Mäuse aus dem Kornspeicher", erklärte Laina. "Und unsere Kinder hatten ihn sehr gern."

"Ihr habt noch andere Kinder?", wieherte Veikko begeistert. "Wie toll! Wo sind sie? Vielleicht kann ich mit ihnen spielen!"

Mit einem Mal wurden Bjame und Laina ganz still. Veikko schnappte nach Luft, Er merkte recht schnell, wenn er etwas gefragt hatte, was er vielleicht nicht hätte fragen sollen. Und das war ein solcher Moment. Es war wohl besser, wenn er nun nicht weiter redete.

"Ich gehe dann mal nach draußen. Darf ich Sokki mitnehmen?", fragte er schüchtern. Als Bjame nickte, tapste Veikko zur Hintertür und schob sich lautlos hinaus in den Hof. Hühner pickten gackernd auf dem Pflasterstein herum. Wind säuselte in den Wipfeln des nahe liegenden Waldes. Die Nieße plätscherte leise an einem riesigen Gebäude aus Holz entlang, dessen gewaltige Segelgatterflügel sich eifrig drehten.  Ein Blick in den Himmel sagte Veikko, dass bald ein Sturm aufziehen würde.

Als der junge Hengst sich zu dem Gebäude umdrehte aus dem er gekommen war, erkannte er, dass er sich gar nicht in dem Bau befunden hatte, den er für die eigentliche Mühle gehalten hatte. Stattdessen war das Wohnhaus der Familie flach und aus Naturstein gemauert. Alter, dunkelbrauner Reet bedeckte das modrige Dach. Es war ein billiges Mittel, sein Haus trocken zu halten, aber es wirkte.

Was allerdings auffallend war, waren die dunklen Rußspuren zwischen den Steinen. Als ob das Haus wiedererrichtet worden war und nicht alle Spuren der Zerstörung beseitigt werden konnten. Die Mühle sah hingegen komplett neu aus. Allerdings war sie so nahe an dem Wohnhaus gebaut, dass ein Brand sich schnell auf das trockene Reetdach ausbreiten konnte. Und Reet, das wusste er, brannte wie Zunder.

Sein Bruder und er hatten einmal ausversehen einen Julbock aus Reet in Brand gesetzt. Zum Glück waren die Wände der Burg komplett aus Stein und hatten keinen größeren Schaden angerichtet. Aber der Gedanke, den Veikko nun fortführte, ließ ihn erschauern. Er meinte nun zu verstehen, warum Bjame und Laina nicht von ihren Kindern sprechen wollten und er würde sie auch nie wieder danach fragen. 

Mit einem Mal fühlte er, wie sein Herz sich erwärmte, wenn er an die beiden dachte. Er hatte erst vermutet, dass sie sich nur um ihn kümmerten, weil sie gute Leute waren, die gerne halfen. Das waren sie auch, keine Frage. Aber nun verstand er, dass da noch so viel mehr war. Er hatte seine Eltern verloren und sie hatten ihre Kinder verloren. 

Ihre Schicksale ergänzten sich. Und Veikko verstand, dass sie ihn mit Sicherheit genau so sehr brauchten, wie er sie.

"Oh, Sokki", schnaubte er niedergeschlagen. Mit den Lippen kraulte er sachte das weiche Fell des Katers, der sich schnurrend an seinen Beinen entlang rieb. Im Schloss hatten sie nie Katzen halten dürfen, weil sie die Jagdhunde aufregten und überall ihre Geschäfte verrichteten. Das stetige, leise Schnurren war wie ein Pflaster für seine aufgewühlte Seele.

"Das ist mein zu Hause. Hier gehe ich nie wieder weg."

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