78. Ein Himmel aus Blau und Silber




There's sugar on your soul

And you're like no one I know

You're the life from another world

-Editors, Sugar


Marie sah sie alle. Hunderte, tausende winzige Lichter, die sich vervielfältigten, sobald sie ihrem Geist mehr Raum gab. Eine Seele nach der anderen erschien in der Finsternis, wie flackernde Kerzen in einer Gruft. Sie schimmerten in allen Farben, von eiskaltem Weißblau bis zu finsterem Weinrot.

Entspanne dich, flüsterte Mathocain, ein helles, weißes Licht direkt neben ihr.

Marie spürte, wie sich die Wölfin erhob, voller Frustration. Entspannung, ja. Und zur gleichen Zeit ist es so schwer, als würde man versuchen, die Welt anzuheben.

Es ist gewaltig, dass du es überhaupt kannst. Es ist immer einfacher, sich auf nur eine Seele zu konzentrieren, als auf hunderte, und dass du es vermagst, zeigt nur, wie mächtig du geworden bist. Was siehst du?, fragte der Weiße Hexenmeister.

Lichter. In allen Farben.

Jedes Licht ist eine Seele. Du kannst in eine hineinspringen, und du wirst eine Essenz finden, so wie der goldene Sand von Ikaria.

Marie unterdrückte ihren aufwallenden Stolz und griff nach einem dunkelblauen Licht, gleißend hell trotz seiner Farbe, silberne Funken sprühend wie die Lunte einer Bombe. Sie kannte es. Kaum hatte sie es betreten, spürte sie, wer es war. Dunkle Seide streckte sich nach allen Seiten aus, selbst über ihr, nur in der Ferne schimmerte es hellblau. Seltsam spitze, eckige Felsen erhoben sich vor dem Türkis, während sie wie ein Schatten durch das weiche indigofarbene Meer schlich, durchsetzt von blitzenden weißen Lichtern. Ein Vogel flackerte auf und erlosch wieder. Marie sah einen aufblitzenden Drachenflügel, einen Panthera, eine Katze, eine Kobra, alles für den Bruchteil eines Augenblicks, bevor das Tier wieder verschwand. Sie alle flüsterten wie tausende Schmetterlingsflügel, wie Wind, der über Scherben strich, und gaben Marie das Gefühl, als wäre sie in einem Raum eingesperrt, gemeinsam mit ihnen allen. Bedrohlich und finster war es, doch Marie fand mühelos den Funken, in dem ein Mensch aufflackerte. Die Bewegungen schienen ruckartig durch den schnellen Wechsel zwischen Licht und Dunkel, doch Marie erkannte die Gestalt trotzdem. Ein Mädchen, mit langen glatten Haaren, schlank und wunderschön. Sie war nackt, und Marie konnte nicht anders, außer sie für einen winzigen Moment lang anzustarren. Wilde, ungezügelte Gedanken schossen durch ihren Kopf, bevor sie sie energisch vertrieb.

Die Wölfin kicherte. Gib ihnen nach, bevor du sie im Schlaf auffrisst vor Lust.

Marie ignorierte sie und löste sich aus dem sprühenden Licht. Nicht, dass sie doch meine Gedanken erkennen kann. Mathocain kann es nicht, aber wer weiß, was ihre Seelen vermögen? Und falls ich einen der ihren finde... Es käme mir wie Verrat vor, ihr ein Geheimnis zu entreißen. Fasziniert beobachtete sie das Meer aus Kerzenflammen, die Seelen der Welt. Merkwürdig. Ihre Essenz sieht aus wie das, was ich sehe, wenn ich alle Seelen beobachte. Einige waren hell, doch die meisten waren kaum mehr als ein Glühen im Dunkel, wie ein erlöschender Kienspan. Manche verschwanden plötzlich spurlos, andere erschienen zögerlich aus dem Nichts.

Das helle Licht neben ihr loderte plötzlich rot auf und verglühte beinahe. Mathocains Anwesenheit zog sich so plötzlich zurück, dass Marie beinahe verwirrt war von der plötzlichen Dunkelheit. Ihre Konzentration wankte und fiel, hastig schnappte sie nach Luft. Der kalte Zug in ihren Lungen fühlte sich an wie ein Messer, und der leichte Schmerz riss sie aus den Schatten. Plötzlich saß sie wieder auf einem Kissen auf kaltem Marmor. Sie riss die Augen auf, die Abbilder hunderte Kerzen glühten auf ihrer Netzhaut wider. Sie blinzelte heftig, und sah, wie ihr Meister zusammengekrümmt auf den Fliesen lag. Seine Mähne ringelte sich über seinen Körper. Blut rann aus seinem Mund und quoll langsam unter seinen Augenlidern hervor. Er rührte sich nicht.

Marie schrak zurück und stieß beinahe gegen eine Vase. Verdammte Geister. Was ist los mit ihm? „Mathocain!", rief sie, und ging langsam auf ihren Meister zu. Er gab keinen Laut von sich, außer ein ersticktes Stöhnen. Vorsichtig tastete sie nach seinem Geist und fand einen einzigen, roten Brocken aus Nebel. Schmerz schoss durch ihre Adern, als sie ihn nur sah, und sie schrie auf. Oh Geister. Nein. Der Knochenfresser...

Sie sprang auf. „Wachen!", brüllte sie. „Schnell!"

Sogleich erklangen eilige Schritte, und zwei Maskierte stürmten in den Raum. Sie zögerten nicht, sondern legten die Arme des Löwen um sich und hoben ihn hoch.

Marie sah verstört und tatenlos zu. „Was... geschieht mit ihm?"

„Wir wissen es nicht, Mylady. Wir sind nicht vertraut mir seiner Krankheit. Er wird nun zu den Heilern gebracht, und die Nemesis wird davon erfahren", erklärte einer von ihnen.

Sie biss die Zähne zusammen. „Ich werde es ihr erklären", sagte sie. „Kümmert Euch um Mathocain."

Er nickte. „Sehr wohl, Mylady." Die Männer wankten mit dem Löwen davon.

Marie sah ihnen ängstlich nach. Bitte, stirb nicht, sandte sie in seine Richtung, doch sie wusste, die Worte würden nur an der Wand aus Schmerz abprallen. Selbst die Wölfin schien nervös. Schließlich wandte sie sich um und schlug den Weg zu den Gemächern der Nemesis ein.

Lilyah erschien wie ein Geist in der Tür, kaum dass der Wachmann davor sie geöffnet hatte. Sie trug ihre üblichen schwarzroten Gewänder und ihre Dämonenmaske, die Marie mit flammendem Zorn anblickte. Als hätte ich Mathocain getötet, und sie würde mich deswegen umbringen... Donnernd fiel der Türflügel wieder ins Schloss, und Lilyah riss sich den Dämon vom Gesicht. Ihr schönes Gesicht hellte sich auf, und sie lächelte Marie an.

„Marie. Ich wollte gerade nach dir suchen." Sie umarmte sie fest. „Wie geht es deinen Verletzungen?"

„Beinahe abgeheilt." Selbst der tiefe Schnitt an ihrem Rücken war beinahe verschwunden, und nur noch saubere, rosafarbene Narben erinnerten an Ikarias Messer. Das, und das Gefühl von goldenem Sand, der in Blut ertrank. Das Bild und Ikarias splitternder Geist verfolgte Marie bis in ihre Träume. Doch es waren gute Träume, voller Triumph und Sieg.

„Wie kommt es, dass du schon jetzt deine Übungen beendet hast?", fragte Lilyah

Marie sah zu Boden. Es tut mir in der Seele weh, sie jetzt traurig zu machen. Ich hasse Traurigkeit. Schon auf der Dunkelwacht hatte sie stets versucht, die Freude wieder anzufachen, die lange, langweilige Winter oder Streit erstickt hatten. Sie hatte immer für Ablenkung gesorgt, sobald Roxane sich wegen Madrid Yarrow grämte... Für einen Moment fragte sie sich, wo Roxane wohl war. Ob sie sich an Yarrow gerächt hat? Ob sie ihn gefunden hat? Sie ist einfach kopfüber davongesegelt... Wer weiß, wo sie gelandet ist. Ob sie jemanden gefunden hat, der sie vor der finsteren Welt beschützt. Schnell schüttelte sie die Gedanken ab. Ich habe dringendere Probleme als Roxane, die so weit fort ist von hier... Die Wölfin rumorte verwundert und doch zufrieden.

Marie sah auf. „Nein, es ist etwas mit Mathocain passiert. Er ist bewusstlos geworden, während der Übungen."

Lilyah senkte den Blick. Langsam wandte sie sich um und winkte Marie mit sich auf ihren Balkon. Die Abendsonne schien warm und angenehm auf das Holz und ließ die roten Maurn des Palastes strahlen. „Ich dachte es mir fast", murmelte sie und lehnte sich an das Geländer. „Ich habe gemerkt, wie er verstummt ist."

Marie sah sie erstaunt an und stellte sich vor sie. „Hast du auch die Fähigkeiten einer Hexenmeisterin?"

„Nein. Aber Mathocain geistert immer in meiner Nähe umher. Er hält sich aus meinen Gefühlen heraus, doch er ist immer in Hörweite, wenn man es so ausdrücken kann." Sie sah sie verlegen an. „Er merkt, wenn ich in Gefahr bin, und würde mir dann zur Hilfe kommen."

Was für ein Glück, dass er meine Gedanken nicht lesen konnte, bemerkte Marie. Das Bild der nackten Lilyah inmitten eines schwarzblauen Meeres erschien in ihrem Kopf, und sie merkte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Die Wölfin streifte ihre Fantasien von sich und Lilyah, ihre Lippen auf denen der Nemesis, schmale, weiße Finger, die über Maries Brüste flossen wie warmes und kaltes Wasser zugleich. Ihr Körper kribbelte, und sie errötete. Lass es!

Die Wölfin kicherte so verschlagen, dass Marie beinahe lachen musste. Wir können hoffen, dass sie sich das Gleiche vorstellt wie du, und dass Mathocain es nicht mitbekommen hat.

Aber denkst du, sie hofft auf das Gleiche wie ich? Selten gibt es jemanden, der Frauen so begehrt wie ich. Noch seltener ist es, wenn jemand mich begehrt und auch liebt. Und noch seltener ist es, dass ich eine solche Person auch liebe.

Es mag selten sein, doch es geschieht bisweilen. Die Wölfin schlich um sie herum, warmes, lebendiges Fell strich unter ihrer Haut entlang, und weckte die Erinnerungen an das weiße Licht, in der Gestalt eines nackten Mädchens, zusammen mit einer heulenden, verlangenden Sehnsucht und Hoffnung.

Lilyah riss sie aus ihren Gedanken. „Ich wäre nicht gerne ein Hexenmeister. Immer die Gedanken anderer zu hören... Es muss ermüdend sein."

Marie lächelte etwas abwesend. „Es ist anstrengend, immer aller Leute Gedanken zu lesen... Es braucht eine Menge Kraft, und ich kann es nicht immer. Nur, wenn ich es wirklich versuche. Einfach so... kann ich es kaum. Aber ich kann starke Gefühle spüren."

Lilyah musterte sie scheu. „Du kannst aber nicht meine Gefühle spüren, oder?"

„Wenn ich es darauf anlegen würde, schon."

Sie lächelte verlegen. „Tu es besser nicht, bevor etwas Verstörendes findest."

Oh, wenn du wüsstest.

Sie sahen einander unbehaglich an, und Marie überlegte, ob sie einfach einen Schritt vortreten und sie küssen sollte. Es wäre so einfach... Was wäre, wenn sie mit etwas Verstörendem ihre Liebe zu mir meint? Aber wenn nicht... Wir sind Freunde. Sonst nichts. Sie biss die Zähne zusammen, um ein erregtes Zittern zu unterdrücken, und sah auf die orangefarben glühenden Berge.

„Denkst du, Mathocain wird es überleben?", brach sie schließlich das unbehagliche Schweigen.

Lilyah atmete beinahe erleichtert aus. „Ja. Er hat schon so viel durchgestanden, da wird das, was ihm jetzt geschehen ist, auch nur ein einfaches Aufpeitschen sein." Trotz ihrer zuversichtlichen Worte hörte Marie die Angst in ihrer Stimme.

Wenn er stirbt... dann bin ich die Weiße Hexenmeisterin, die die Nemesis beschützen soll. Ihr vielleicht sogar helfen muss, zu regieren. Sie schauderte bei dem Gedanken. So viel Verantwortung. Aber so, wie ich es sehe, muss ich nicht viel tun. Ich weiß nicht einmal, was Nayrakka und Canto den ganzen Tag machen... Ich glaube, Nayrakka sorgt für ihre schreckliche Wissenschaft, und Canto vergnügt sich in den Bordellen in der Stadt. Aber ich denke, ich werde meine Aufgabe gut erledigen... Was ich liebe, verteidige ich mit meinem Leben, dachte sie grimmig, und erinnerte sich an ihren Kampf gegen Maura Ithakea. Jetzt, nach all dem, was Mathocain mich gelehrt hat, könnte ich sie in der Luft zerreißen. Niemand würde Roxane jemals etwas antun, wenn sie unter meinem Schutz stehen würde. Aber ob sie meinen Schutz wirklich wollen würde... Sie wollte auch meinen Rat nicht. Obwohl, vielleicht hat sie ja gelernt, dass dieser Bastard nicht gut für sie ist.

Sie sah zu Lilyah, die ebenfalls über ihren Gedanken brütete. „Lass uns etwas zu essen und zu trinken bringen. Bevor wir hier uns unseren Sorgen hingeben."

Lilyahnickte. „Ein guter Vorschlag", befand sie und rief nach denDienern.

Wenig später lagen sie auf den gemütlichen Diwanen im Abendlicht, aßen vor Bratensaft triefendes, köstliches Fleisch, saftiges Obst und ofenwarmes Brot, während sie den süßen Wein der Racheinseln tranken. Die Sonne verschwand hinter den Bergen von Gantega, die feuchte Hitze der Tropen erkaltete zu einer glimmenden Wärme, weniger ein brodelndes Feuer als eine sanfte Erinnerung daran. Nachden ersten Gläsern wurden sie ausgelassener und gelöster. Marie merkte, wie ihre Sorgen in den Hintergrund traten und einem Glühen Platz machte, die sich in jeden Winkel, jede Stelle ihres Körpersnausbreitete, wie das Fell der Wölfin unter ihrer Haut. Je länger sie Lilyah ansah, desto stärker wurde das Gefühl, und es war zuangenehm, als dass sie es mit einer Lüge vertreiben wollte.

Sie nahm einen Schluck des Weines. „Wusstest du, dass ein Weißer Hexenmeister alle Seelen der Welt sehen kann?"

Lilyah riss übertrieben die Augen auf und kicherte. „Wie sehen sie aus?", fragte sie mit schwerer Zunge, dennoch fasziniert.

Marie nahm eine der Kerzen, die zwischen den Tellern und Schalen auf dem Tisch zwischen den Diwanen stand. „Genau so. Wie ein Meer aus Kerzen. Tausende, Millionen von Lichtern. Manche sind heller, manche nur ein Glühen. Und sie brennen in allen Farben."

„Hast du auch mich gesehen?"

Marie nahm einen Schluck und sah Lilyah so übertrieben verführerisch an, wie sie konnte. „Ja, das habe ich."

Lilyah kicherte betrunken. „Welche Farbe habe ich?"

„Blau wie der Nachthimmel."

Lilyah lachte so laut, dass ein Schwarm Vögel aus einem Gebüsch im Garten aufflatterten. Marie bemerkte, was sie gesagt hatte, und kicherte ebenfalls los. Heilige Geister. Sie ist sternhagelvoll, und ich werde es nicht ausnutzen. Die Wölfin knurrte verlangend und animalisch, und Marie kämpfte gegen den Drang an, auf Lilyah zuzuspringen und sie so lange zu küssen, bis sie keine Luft mehr bekam.

Die Nemesis grinste und schwenkte das Weinglas, und wieder zog sich etwas in Marie schmerzhaft und voller Sehnsucht zusammen. „Und wenn ich nichts getrunken hätte?", kicherte sie.

„Du bist wie der Sternenhimmel. Tiefblau und dunkel, aber nicht feindselig. Tausende Lichter schimmern darauf, wie Silberstaub. In jedem scheint ein Tier zu leben, sie flackern auf wie Funken. Du strahlst eine Macht aus, die einem den Atem nimmt. Als lebten unzählige Seelen in dir." Bei den Geistern, an mir ist eine Poetin vorbeigegangen. Stattdessen bin ich eine Weiße Hexenmeisterin.

Verschwendetes Talent, schnaubte die Wölfin.

„So, wie es tatsächlich ist", sagte Lilyah fröhlich und warf sich eine Traube in den Mund.

„Myladys?"

  Marie und Lilyah fuhren herum. Canto hatte sich ihnen unbemerkt genähert. Sein Gesicht war sorgenvoll und sah aus, als wäre er von Geistern heimgesucht worden. Verfluchte Geister, und wir sind beide so betrunken, dass sich der Boden unter uns bewegt wie ein Schiff bei Sturm.

  Lilyah sprang alarmiert auf, schlagartig nüchterner. Dennoch schwankte sie kurz und griff nach der Lehne des Diwan. „Was gibt es, Canto?"

Der Rote zeigte nicht einen Hauch der Missbilligung, nur Sorgen. Seine Finger umklammerten den Schwertgriff fester. „Mathocain."


~ ~ ~

Das Kapitel, in dem ich bemerkt habe, dass ich Verlangen doch ganz gut darstellen kann. Nun ja.

Und das Video - es ist nicht nur Soundtrack. Schaut es euch an, und wisset um die vielen Lichter. Ich persönlich bekomme jedes Mal Gänsehaut, wenn ich es sehe.

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