71. Warnung

All I believe

is it a dream

that comes crashing down on me

All that I hope

is it just smoke and mirrors

- Imagine Dragons, Smoke & Mirrors


Caldera erschien wie ein riesiges Geschwür in den unberührten Wellen der Wüste. Das Wasser der Flüsse Rubio und Sabon glitzerte träge in der Zenitsonne, hunderte Schiffe segelten die Ströme langsam hinauf oder hinab. Eine gigantische Stadtmauer, dick genug, um Kanonen und Belagerungsmaschinen zu widerstehen, umschloss ein brodelndes Chaos aus flachen, braunen Häusern, die zu der Festung hin immer höher und edler wurden, aus tobenden Massen von Menschen und Kriegern, die sich durch enge Gassen und breite Straßen drängten, immer auf der Hut vor Wagen und Reitern. Märkte pulsierten auf den großen Plätzen, die sich wie Seen der Freiheit zwischen den dicht an dicht gedrängten Häusern auftaten. Schon in der Luft war das Gebrüll der Händler, das Fluchen der Wagenfahrer und den Gesang von Spielleuten zu hören. Einer von ihnen, direkt am Nordufer des Sabon, war frei von Buden und Ständen. Stattdessen war dort ein Turnierfeld aufgebaut, mit einer gigantischen Tribüne, über der die Flagge Abisyalas wehte, der schwarze Greif mit Rose und Schwert auf goldenem Grund. Soldaten und Arbeiter rannten über den Platz. Über allem thronte die Festung, eine kolossale, mächtige Wehranlage aus Türmen und Mauern aus gelblich-weißem Sandstein. Katapulte und Kanonen standen auf den Wehrgängen, Soldaten marschierten aufmerksam auf und ab. Greife flogen durch die Lüfte und beobachteten die Karawane misstrauisch.

Nicolas spürte, wie sein Puls in die Höhe schnellte. Die Hauptstadt der Welt. Der Dreh- und Angelpunkt der Kriegerstaaten.

Sie landeten auf einem Platz im Süden der Stadt, auf dem hunderte Greife kampierten. Cerebras und Tiere schrien gleichermaßen, ein paar Musiker sangen ein Lied über die Wüste, während eine halbnackte Cerebra sich dazu drehte. Fliegende Händler und Taschendiebe drängten sich unter Krallen, Flügeln und Schnäbeln hinweg, um ihrem Handwerk nachzugehen. Es roch nach Greif, Schweiß, Gewürzen in der Ladung der Karawanen und nach dem Gestank der Stadt: Schlamm, Dreck, Hitze und Staub.

Nach der einsamen Stille der Wüste wurde Nicolas von der brüllenden, bebenden, hektischen Stadt beinahe erschlagen. Die Dudelsäcke und Trommeln der Spielmänner dröhnte in seinen Ohren, das Gedränge verschluckte ihn und die anderen Reisenden und tobte um sie wie ein Meer aus schwitzenden Leibern. Ein paar angetrunkene Cerebras gingen an ihnen vorbei und stießen Nicolas auf Rusty. Um ihr Gleichgewicht bemüht stolperten sie zur Seite.

„Weißt du, wo das Boot ist?", schrie Nicolas, um den Lärm zu übertönen.

Rusty nickte. „Am Ufer des Sabon. Gehen wir."

Gemeinsam bahnten sie sich den Weg durch das Gedränge. Morgaine beschimpfte wüst jeden, der ihr zu nahe kam, während Roxane sich ängstlich an Fairwell klammerte. Dalton und Jamie Blakk hielten Ausschau nach Tavernen und Bordellen und schienen zunehmend begeistert von der Stadt.

Nicolas dagegen hasste die Stadt schon jetzt. Sie erinnerte ihn zu sehr an Amostown, und bei dem Gedanken, sich noch oft durch das stinkende Chaos kämpfen zu müssen, wurde ihm übel.

Als sie den Fluss erreichten und die Luft beinahe erträglich roch, bekam Morgaine bessere Laune und beleidigte fröhlich die Schiffe an den Docks. Wahrscheinlich hat sie endlich gemerkt, dass sie nicht mehr auf einem Greif sitzen muss. „Das dort drüben ist eine wahre Hässlichkeit, sieh dir den Bug an... Die Segel von dem sind miserabel in Schuss, ich könnte mich übergeben... Du hast gesagt, Levasque, dass du hier ein Schiff hast?"

Rusty nickte. „Aye, Captain. Es ist eher ein Flusskahn als das, was Ihr gewohnt seit, aber ein Schiff ist es."

Morgaine kicherte. „Habt ihr gehört, Männer? Er nennt mich immer noch Captain! Brav, Levasque. Dürfte ich mir das Schiff nach dieser Himmelfahrtsmission ausleihen und bis zum Südkap fahren? Dann ist die Heimfahrt nicht mehr so weit."

Nicolas fuhr zu ihr herum. „Du tust so, als ob schon alles erledigt sei! Wir haben noch viel zu tun, was interessiert uns die Heimfahrt!" Sofort bereute er seinen Ausbruch. Diese Stadt macht mich einfach wahnsinnig. Aber ich muss es schaffen, den König zu warnen.

„Höflicher waren wir auch schon einmal", sagte Morgaine kalt.

Nicolas beachtete sie nicht, sondern stürmte mit Rusty voran. Wir haben keine Zeit zum Trödeln. Ich weiß nicht, wann und wie viele Bittsteller der König vorlässt, und ich muss heute noch zu ihm.

Als sich die breiten Docks über eine Brücke über den Sabon verließen und zu einem schmalen Gasse direkt am Wasser gelangten, an dem Bug an Heck die flachen Flussschiffe lagen, beschloss Rusty, einen ergrauten Cerebra vor einer Taverne nach dem Boot eines gewissen Finn Levasque zu fragen.

Der Cerebra spuckte bräunlichen Speichel auf das bucklige Straßenpflaster. „Wer will das wissen?"

„Sein Bruder. Rusty Levasque. Bruder des Lykaon", sagte er und präsentierte dem Mann die Tätowierung an seinem Unterarm.

Der Cerebra grinste schwarzzahnig. „Aye, Master Finn trug das gleiche Mal. Es ist das Boot dort drüben", antwortete er und wies auf das Schiff ihnen gegenüber. „Es ist in einem schlechten Zustand, aber ich habe Master Finn seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Eine Schande ist das, er war immer sehr nett. Immer ein guter Kunde. Wollt ihr nicht auch hineinkommen und euch erfrischen? Ihr seht müde aus."

Rusty lehnte freundlich ab und trat auf das Boot zu, während Dalton und Jamie Blakk ihn mit empörten Blicken musterten. „Ich mochte ihn lieber, als er noch nicht mit De Oro befreundet war. Da war er ein besserer Zeitgenosse", hörte Nicolas Blakk sagen.

Nicolas biss die Zähne zusammen.

Finns Flussschiff entpuppte sich als flacher, gräulich gefärbter Holzkahn, dessen Rumpf vor Muscheln starrte. Zerrissenes Segeltuch bedeckte das Deck, eine tote Ratte lag neben dem Steuerruder, das den Eindruck erweckte, als lasse es sich nur noch unter größter Anstrengung bewegen. Als Rusty es betrat, schaukelte es bedenklich.

Morgaines gute Laune war verschwunden, und sie beschwerte sich mürrisch über den Zustand des Bootes. „Bei den Geistern. Wenn man die Muscheln abschlägt, fällt es sicher auseinander", knurrte sie und setzte misstrauisch einen Fuß auf die knarrenden Planken.

Unter Deck roch es nach fauligem Flusswasser und nach totem Fisch, doch der Stauraum war groß genug, um selbst Morgaine etwas freundlicher zu stimmen. Statt übellaunig waren ihre Befehle nun mit etwas Begeisterung gefärbt, als sie die Männer anwies, etwas zu Essen und Trinkwasser aufzutreiben und das Schiff nach Gegenständen zu durchsuchen, die sie verwenden konnten.

Nicolas beteiligte sich nicht an der Suche, sondern machte sich mit Rusty im Schlepptau auf zur Festung. Die Menge drängte von allen Seiten auf ihn ein und schien ihn zwischen sich zerreiben zu wollen, und Nicolas konnte es kaum erwarten, ihr endlich zu entkommen.

„Warst du schon einmal in Caldera? Oder kennst du jemanden, der schon eine Audienz beim König hatte?", fragte er.

Rusty schüttelte den Kopf. „Nein. Kaum ein Lykaner wagt sich in die Hauptstadt der Kriegerstaaten. In die Höhle des Löwen. Schließlich wollen die Krieger uns die Krallen ziehen und uns unseren Handel verbieten. Deswegen hat Darnoveys Vorhaben auch so viele Anhänger. Weil mit ihm das Problem vorbei wäre. Die Krieger wären viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als sich um uns zu kümmern."

Nicolas schwieg und ließ sich von der Menge weitertreiben. Wenn ich nach Crusadia zurückkehre, werde ich mich vorsehen müssen. Alle werden hinter mir her sein. Hinter mir, der ihnen die Hände gebunden hat. Für einen Moment bekam er beinahe ein schlechtes Gewissen, dass er all die Jahre der Geschäfte, die seine Vorfahren geführt hatten, nicht würdigte, doch er vertrieb es. Lieber gehen meine Geschäfte ein, als dass Millionen sterben! „Und die Seefahrer, die du kennen gelernt hast? Und...", er schluckte unwohl, „Rizabelle?"

„Sie hat nie von ihrer wahren Herkunft gesprochen", sagte Rusty kalt, und Nicolas bereute es augenblicklich, ihn danach gefragt zu haben. „Die Seefahrer", fuhr er freundlicher fort, „haben auch nie mit dem Adel zu tun gehabt. Die meisten haben noch nie einen Fürsten gesehen."

„Also können wir nur nach einer Audienz verlangen, und aufs Beste hoffen?"

„Aye."

Nicolas schwieg und drängte sich an einer Gruppe schwatzender Frauen vorbei, zwischen einem Wagen voller Rüben und einer Häuserwand hindurch und stand plötzlich auf dem Platz des Turniers.

Der Sand glühte weiß in der Nachmittagssonne, begrenzt auf der einen Seite von den Häusern der besser betuchten Händler, auf der anderen von den Fluten des Sabon. Ein Soldat ritt mit einem Greif das Feld ab, während eine Gruppe Arbeiter den Sand rechten. Knappen in bunter Stoffkleidung, bestickt mit den Wappen ihrer Herren, beobachteten wachsam das Feld und redeten aufgeregt über die Heldentaten ihrer Lehrer und jene, die sie eines Tages vollbringen würden. Auf einer Bühne neben der Loge des Königs musizierten Spielmänner, und Nicolas bemerkte, wie viel Wert die Cerebras auf Musik legten.

Vor der Loge stand ein Cerebra in leichter Rüstung und wesentlich edlerem Gebaren, als Nicolas es bei denen auf den Straßen gesehen hatte. Er gab ruhig und bestimmt seine Befehle weiter, die die Arbeiter ohne zu zögern befolgten. Der Soldat rief ihm etwas zu, und er notierte es auf seiner Schriftrolle.

Nicolas duckte sich unter der Absperrung, einem gespannten Seil, durch und trat auf den edel Gekleideten zu. Rusty folgte ihm.

Die Arbeiter bemerkten sie als erste und bedachten sie mit wütenden Zurufen. Der Soldat hörte sie, riss seinen Greif herum und galoppierte auf sie zu.

Direkt vor ihm zügelte er ihn. „Verschwinde, Mann! Du hast hier nichts zu suchen!"

Nicolas schluckte. „Ich möchte zu deinem Herrn. Palaimon Castillo. Es geht um ein Attentat."

Der Soldat zögerte, doch der Edle griff ein. „Was wollen sie?"

„Sie wollen zum König."

Gemächlich schlenderte der Edle auf sie zu. „Ich bin Hauptmann Garjad. Ich hoffe, euer Anliegen ist von äußerster Wichtigkeit, ansonsten lasse ich euch unverzüglich entfernen."

„Hauptmann Garjad, ein Mann möchte am morgigen Tag den König ermorden. Ich weiß nicht, wer es ist, doch es ist anzunehmen, dass er ein Eiswolf ist. Unter seinen Verbündeten befindet sich wahrscheinlich jemand mit dem Namen Madrid Yarrow, genannt der Bastard. Der Killer selbst wurde von Ravan Bane Darnovey, dem Anführer des Kartells der Virrey aus Crusadia beauftragt. Ihr müsst ihn aufhalten. Er will den König töten und einen Krieg auslösen, der die Kriegerstaaten vernichten würde!" Nicolas starrte den Hauptmann mit klopfendem Herzen an.

Der besorgte Ausdruck des Hauptmanns wich bei seinen letzten Worten einer milden Belustigung. „Wer seid Ihr?"

„Nicolas de Oro."

„Nicolas de Oro", wiederholte der Hauptmann sinnierend. Skeptisch musterte er ihn von oben bis unten, seine verdreckten Stiefel, sein zerrissenes Hemd, seine Hose, die an der Seite mehrere tiefe Schlitze trug, seine sonnenverbrannte Haut und seine fettigen Haare. Nicolas wand sich unwohl unter seinen Blicken. „Schön", sagte er. „Vielen Dank, Master de Oro, für Eure Warnung. Ich werde sie an meinen Vorgesetzten weiterleiten."

„Lasst mich zum König vor! Dann kann ich ihn warnen!", schlug Nicolas mit flatternden Nerven vor. Wenn ich ihn jetzt einfach gehen lasse, wird der König nie gewarnt.

Garjad lächelte ihn an wie ein dummes Kleinkind. „Die Audienzen sind vorbei. Der König ist sehr beschäftigt und kann sich nicht um jeden dahergelaufenen Idioten kümmern, der an seine Tore klopft und ihn sprechen will. Es wird genügen, wenn ich ihm die Nachricht überbringe."

„Es geht um sein Leben! Wenn Ihr es vergesst..."

Garjad schob mit dem Daumen sein Schwert ein Stück aus der Scheide, die polierte Klinge glänzte träge. „Zweifelt Ihr an meiner Loyalität oder meiner Kompetenz, Master de Oro?" Den Namen spuckte er aus, als wäre er giftig.

„Nein, aber..."

„Wenn Ihr so unbedingt zu Seiner Majestät wollt, Master de Oro, kommt an einem anderen Tag. Warum wollt Ihr den König so unbedingt persönlich sprechen?" Seine Stimme senkte sich zu einem bedrohlichen Flüstern. „Oder wollt Ihr vielleicht das Gerücht eines Attentats in die Welt setzen, um Euren eigenen Versuch zu verschleiern?"

Nicolas stockte der Atem. „Nein, niemals... Ich will nur...", stammelte er.

„Es ist mir egal, was Ihr wollt. Ich werde die Warnung vor einem Söldner und einem Eiswolf", der Unglaube war hörbar, „weitergeben. Und jetzt, bei allen Höllen, verschwindet."

Nicolas holte Luft, doch Rusty packte ihn an der Schulter. „Lass es, Nicolas. Er wird dir nicht mehr zuhören."

Ermattet ließ Nicolas die Schultern sinken und sah Garjad zu, wie er wieder zu den Arbeitern ging. Der Soldat auf dem Greif folgte ihm. „Ich dachte, der Plan sei narrensicher."

Rusty seufzte. „Bis auf diese Kleinigkeit. Lass uns zurückgehen. Wir können nichts mehr tun", sagte er mit einem Blick auf die Arbeiter, die sie immer noch wachsam beobachten.

Nicolas ließ sich von Rusty zurück in die Menge führen. „Denkst du, er gibt meine Warnung wirklich weiter?"

„Dieser Hurensohn? Ich würde sagen, ja. Er wird es seinem Vorgesetzten sagen, der wahrscheinlich der Lord Kommandant ist, und der wird es dem König sagen." Trotzdem klang Rusty nicht hoffnungsvoll, obwohl er es versuchte.

„Wir könnten es bei einem anderen Wachtposten versuchen", schlug Nicolas vor.

„Ich glaube nicht, dass wir mehr Erfolg haben. Sieh dich an, du siehst aus wie einer der Süchtigen, die in den äußeren Bezirken leben. Du bist schmutzig und abgerissen und stinkst wie ein totes Tier. Niemand wird den armen Augen des Königs deinen Anblick zumuten wollen."

„Und wenn ich mir neue Kleidung kaufe..."

„Von welchem Geld? Die paar Pennys, die wir haben, müssen wir in Essen investieren. Dazu bräuchtest du einen Barbier und ein Bad. Der Fluss reicht da nicht mehr. Nein, wir können nur noch hoffen, dass der Killer doch noch einen Fehler macht."

„Denkst du, das passiert?", fragte Nicolas hoffnungslos.

„Nein."

Ich habe verloren.


~ ~ ~

Angesichts der Tatsache, dass nun dieses Kapitel erscheint, wisst ihr, wie mein Versuch, mein Buch bei Amazon unterzubringen, verlaufen ist. Aber nun, freut euch, das bedeutet: ihr bekommt Brotherhood auf dieser Website, bis zum blutigen Ende.

Wer mehr über den dubiosen Finn Levasque erfahren möchte, und warum er nicht mehr in seinem Boot weilt: schaut mal in Kapitel 14. Rebellion aus "Der letzte Pirat" rein. Nebenbei seht ihr, wie sehr sich mein Schreibstil verbessert hat. Und DLP ist ist mittlerweile fast peinlich, so grausig ist es bisweilen.

Danke für eure Geduld! ;)

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