70. Überlebende

With the moods flaring, crew's glaring, cut-throats the lot

With a paranoid captain always smelling a plot

We've worked hard on this journey, but there's no land in sight

And before it's all ended there could be a fight

- Abney Park, Aether Shanties


Nachlässig spuckte das Meer Menschen, Schiffstrümmer und Segeltuchfetzen, die aussahen wie die Häute toter Drachen, an den Strand. Kreischend ließen sich Möwen auf den Leichen nieder, ein räudiger Hund riss knurrend an einem leblosen Arm. Seevögel umschwärmten ihn und versuchten ihn von seiner Beute zu vertreiben.

Stöhnend erhob Nicolas sich. Seine Kehle fühlte sich wie in Brand gesetzt, und auch nachdem er ausgespuckt hatte, blieb der fischige Geschmack von Seewasser und Sand. Alles schmerzte. Seine Glieder, sein Brustkorb, sein Kopf. Sein Rücken brannte, sogar seine Schulterwunde aus Imarad meldete sich wieder.

Er konnte sich kaum an den Angriff erinnern. Ich habe Darnovey gefunden und er hat mich besiegt. Wie sollte es auch sonst passieren. Zusätzlich zu seinem Körper schrie nun auch sein verletzter Stolz und das Wissen, dass Morgaine ihn nun umbringen würde.

Morgaine. Er sah sich hastig um. Nirgendwo regte sich eine einzige Menschenseele, nur die Tiere rissen weiter an den Toten. Mit einem Anfall von makabrer Neugier trat er auf eine Leiche zu. Kreischend stoben die Vögel auf, und er erkannte den Schiffsarzt. Seine Augen waren bereits gefressen worden, seine Haut war bleich und aufgedunsen und schimmerte blau im bleichen Mondlicht. Angewidert stolperte Nicolas rückwärts. Er muss schon lange hier liegen. Mindestens ein paar Stunden.

Nervös blickte er auf zum sternenübersäten Nachthimmel. Fern im Westen, über den Dünen, schimmerte es orangefarben. So lange kann der Untergang noch nicht her sein. Aber wo sind die anderen? Mit einem Blick auf den Sand, der sich in drei Richtungen ins schier Unendliche erstreckte, erinnerte er sich an die Geschichten über die Monster, die in den Outlands hausten, und eine kindische Panik ergriff ihn. Leise säuselte der Wind über den Strand und sang ein Lied von Tod und Verderben. Das Meer flüsterte bedrohlich. Der Lärm der Möwen klang plötzlich wie das verzweifelte Geschrei sterbender Männer, und das Knurren des Hundes erinnerte ihn an das Grollen des Fenris in Lichtenturm. Schaudernd fiel er auf die Knie und schlang die Arme um sich. Für einen Moment schloss er zitternd die Augen, dann öffnete er sie wieder. Ich bin ein Bruder des Lykaon, dachte er nicht ohne Bitterkeit. Ich habe keine Angst. Der Wolf in ihm knurrte laut und verlangend, und er kämpfte ihn nieder. Ich darf nicht noch einmal die Kontrolle verlieren. Nie wieder. Es hätte nie passieren sollen, als ich Morgaine angegriffen habe. Aber hätte ich sie Rusty töten... Er hielt inne. Rusty.

„Rusty!", brüllte er aus vollem Hals, und seine Kehle quittierte es mit einem reißenden Schmerz. Wasser, ich brauche Wasser. Aber erst muss ich Rusty finden. Ein Bild flammte vor seinem inneren Auge auf, der tote Schiffsarzt bekam Rustys Gesicht, und Nicolas würgte seinen Tränen hinunter. Rusty. Er wird mich hassen, dafür, dass ich einfach auf Darnoveys Schiff zustürmen wollte. Wieder einmal nicht nachgedacht. Rustys Vorwürfe hatten an ihm genagt, und sein Verhältnis zu seinem besten Freund hatte gewankt. Sie hatten nur noch das Nötigste miteinander gesprochen, und oft hatte Nicolas ihm die Braune Pest an den Hals gewünscht, doch jetzt hoffte er, dass Rusty noch am Leben war.

Suchend blickte er den Strand entlang und entdeckte von Süden einige Gestalten, die auf ihn zustolperten. Er kniff die Augen zusammen, um sie besser zu erkennen, doch der sichelförmige Mond war kaum hell genug, um ihre Silhouetten erahnen zu lassen. Alarmiert sah er sich nach einer Waffe um, doch je näher sie kamen, desto mehr sah er, dass es nicht nötig war.

Murdochs massige Erscheinung, ein breitschultriger, gehörnter Schatten, trug eine bewusstlose Gestalt in den Armen, die Nicolas als Morgaine erkannte. Roxane ging mit gesenktem Blick neben ihm her, ihre Finger fest mit Fairwells verschränkt, der mit schmerzverzerrtem Gesicht durch den weichen Sand stapfte. Portos lange schwarze Haare hatten sich aus seinem fettigen Zopf gelöst und klebten nun feucht um seine bloßen Schultern. Eine tiefe Wunde klaffte in seinem Rücken, doch er schien sie kaum zu bemerken. Zu sehr war er damit beschäftigt, gemeinsam mit Dalton den Eisernen Joe zu stützen, der immer und immer wieder das Gleiche vor sich hinmurmelte. Jamie Blakk humpelte stark und schwieg, eine Seltenheit bei ihm, und umklammerte etwas, das Nicolas nicht erkennen konnte. Rusty, der leise auf ihn eingeredet hatte, hob nun den Kopf und entdeckte Nicolas. Grüßend hob er den Arm und sagte etwas zu Murdoch.

„Du hast es also auch geschafft", brummte der Minotaurus angestrengt, als sie ihn erreichten

„Ja", sagte Nicolas abwesend mit einem Blick auf die vogelumschwirrten Leichen. „Wohin gehen wir jetzt?"

Murdoch wies mit dem Kopf auf eine Ansammlung flackernder Lichter in der Ferne. „Dorthin. Nach Arare. Wir versorgen unsere Wunden, und danach... Wer weiß."

Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, und die anderen folgten ihm. Nicolas gesellte sich zu Rusty und Jamie, doch keiner von ihnen sprach ein Wort. Ab und an hielten sie an einer Leiche und plünderten sie, und selbst Nicolas, dem sich jedes Mal der Magen umdrehte, wenn Blakk und Dalton die Toten grob nach Geld und Waffen durchsuchte, widersetzte sich nicht. Statt seinem üblichen Schwert trug er nun ein rostiges Messer im Gürtel, das einem der Seemänner gehört hatte, und schon jetzt vermisste er das vertraute Gewicht an seiner Hüfte. Der Einzige, der noch seine eigenen Waffen trug, war Murdoch, dessen gigantisches Schwert nach wie vor an seinem Rücken saß, und Dalton, der niemals ohne sein breites Messer anzutreffen war.

Auf halber Strecke erwachte auch Morgaine und übernahm grimmig die Führung. Fluchend stolperte sie durch den Sand und schnauzte alle an, die ihr zu nahe kamen. Nicolas versuchte gar nicht erst, ihr seinen Plan zu erklären, wie er doch noch das Attentat verhindern konnte. Sie würde mir nicht zuhören.

Er ließ sich etwas zurückfallen, um mit Rusty auf einer Höhe zu sein. „Rusty, kann ich mit dir reden?"

Sein bester Freund zuckte matt mit den Schultern. „Mach."

Unsicher darüber, ob Rusty ihn nun wieder als seinen Freund oder nur als einen Leidensgenossen ansah, fuhr er fort. „Ich... habe nachgedacht", Rustys Augenbrauen hoben sich leicht belustigt, „ich weiß, wie wir Darquir noch retten können."

Rusty schnaubte erschöpft. „Nicolas..."

„Wir warnen den König."

Überrascht sah Rusty ihn an. „Das ist zur Abwechslung wirklich überlegt. Du gehst kein Risiko ein. Bis auf..."

„Den Weg nach Caldera."

„Und die Wahrscheinlichkeit, dass du nicht vorgelassen wirst."

„Das werde ich", sagte Nicolas überzeugt. „Wenn ich sage, es geht um sein Leben, dann werde ich vorgelassen."

„Wie sollen wir nach Caldera kommen?

„Zu Fuß brauchen wir über eine Woche. Und wir müssen möglichst bald in Caldera sein, bevor Darnoveys Helfer den König töten."

„Dann Pferde oder Greife."

„Viel zu teuer. Wir müssen uns einer Karawane anschließen." Nicolas kratzte sein Wissen über Abisyala zusammen. „Sie beschützen sich gegenseitig vor den Banditen in der Wüste."

Rusty sah zu den anderen, die vorausgingen. „Es wird schwer, sie dazu zu überzeugen."

„Roxane wird mitkommen. Sie will immer noch Rache an diesem Söldner. Ich bin sicher, dass Darnovey ihn nach Caldera geschickt hat. Ihn und wen auch immer er aus dem Eisigen Norden mitgebracht hat. Wo Roxane ist, ist Fairwell auch, das ist sicher." Nicolas konnte nicht verhindern, dass sich ein bitterer Ton in seine Stimme schlich. Jedes Mal, wenn er sie zusammen sah, kratzte die Eifersucht an ihm, und er fühlte den Wolf in sich wüten, doch er verschloss seine Gefühle für sie sorgfältig und gedachte nicht, diese Schublade jemals wieder zu öffnen. Dennoch regte sich bei ihrem Anblick etwas in ihm, und er bemühte sich stets, es niederzukämpfen.

Er schüttelte den Gedanken an sie ab und fuhr fort. „Morgaine wird sicher versuchen, Roxane zu beschützen, und dann wird Murdoch ebenfalls dabei sein. Was mit den anderen Männern ist, weiß ich nicht."

Rusty nickte. „Frag Morgaine. Sie hat alle in der Hand."

Nicolas zweifelte nicht daran. Nach dem Untergang der Kroneneinhorn hatten die Männer nichts mehr außer sich selbst und dem, was sie am Leibe trugen.

Er schloss zu Morgaine auf. „Morgaine, ich muss mit dir reden."

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, doch in ihren Augen schimmerte der Schmerz. „Was willst du?"

Hastig erklärte er ihr ihren Plan und wartete gespannt auf eine Reaktion. Innerlich duckte er sich zusammen, um sich gegen einen verbalen Angriff zu schützen. Sie wird sicher anfangen zu schreien und zu fluchen, weil ich nach ihrem Verlust so viel von ihr verlange...

Doch auf ihr scharfes Einatmen folgte nur ein ermattetes Seufzen. „Irgendein Ziel brauchen wir. Und weil ich keins habe, hast du eins. Versauen wir diesem dreckigen Hurensohn von Darnovey seinen verfluchten Plan. Vielen Dank", schnaubte sie barsch und beschleunigte ihren Schritt, bis sie vor der Gruppe lief. Dort drehte sie sie sich um, ohne stehen zu bleiben. „Männer!", brüllte sie. „Er", sie wies auf Nicolas, „will nach Caldera, um den König zu warnen. Wir gehen mit ihm. Wir schließen uns einer Karawane an und reisen nach Caldera. Nebenbei können wir Roxanes Rechnungen begleichen und Darnoveys Handlanger dafür bezahlen lassen, was ihr verfluchter Herr uns angetan hat. Habt ihr verstanden?"

Die Männer nickten erschöpft, Jamie Blakk murmelte ein wenig begeistertes „Aye, Captain."

„Ich hätte es gern etwas beschwingter, aber nun, bei eurem Zustand kann ich es euch nicht verdenken. Gehen wir." Damit wandte sie sich um.

Nicolas wandte sich an Rusty. „Warum sie wohl eingewilligt hat?"

Rusty beobachtete Morgaine einige Momente lang. „Mit ihrem Schiff ist ihre Existenz, ihre Freiheit vernichtet, und du weiß ja, wie viel sie auf Freiheit gibt."

Nicolas schnaubte belustigt und dachte an Port Liberty.

„Ohne ihr Schiff kann sie nicht ihrem Handwerk nachgehen, sie kann weder Geld verdienen noch will sie sich unterordnen, um welches zu bekommen. Sie weiß keinen anderen Weg, ohne über ihren Stolz zu springen. Deswegen tut sie das einzige, wo sie weiter Herrscherin bleiben kann, und wenn auch nur über wenige. Sie wird sich nun zur Anführerin machen, aber mit ihr sind wir besser dran als mit dir. Denn du bist bei aller Freundschaft ein schrecklicher Anführer."

Nicolas senkte den Blick, sich der Wahrheit seiner Worte bewusst. Was habe ich dann wohl dem Kapitän angetan, dessen Mannschaft ich ermordet habe? Wieder spürte er den vertrauten Biss des Schuldbewusstseins.

„Wenn sie ihren Stolz überwunden hat, wird sie vielleicht auf einem Schiff anheuern oder eins kaufen oder gar kapern, und dann wird sie sich an Darnovey rächen." Rusty sah zu Morgaine, die mit neuem Tatendrang vorausstapfte. „Ich will sie wirklich nicht als Feindin."

„Besser nicht."

Sie erreichten Arare noch vor Mitternacht. Ein übernächtigter Wachmann am Tor ließ sie eintreten, ohne sie zu überprüfen, und verwies sie auf einen Hof, in dem Karawanenführer einkehrten. Erschöpft schlichen sie durch die verlassenen Gassen. Jamie Blakk stolperte und musste nun ebenfalls gestützt werden, während Porto den immer noch wie gelähmten Eisenjoe voranstieß. Dalton schleppte sich neben ihnen her und hielt sich die Seite.

„Was ist mit dem Eisernen Joe passiert?", flüsterte Nicolas Rusty zu.

„Sein Bruder ist tot. Bei dem Überfall gestorben. Als er es erfahren hat, von... seitdem ist er so, wie er ist. Nichts mehr übrig von dem, der einmal war. Das Meer hat ihn verschlungen."

Nicolas spürte die Gänsehaut auf seinen Armen. Plötzlich erschien das Rauschen des Meeres, das selbst innerhalb der Stadtmauern zu hören war, merkwürdig hungrig.

Der Hof war nicht zu übersehen. Ein großes, viereckiges Gebäude, von hohen Mauern umgeben, in denen Ställe und Gastzimmer eingerichtet waren. Gefesselte Greife ruhten im Hof. Einige schliefen, andere regten sich, als die Schiffbrüchigen an ihnen vorbeigingen. Glühende Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen. Irgendwo in der Dunkelheit knurrte einer von ihnen, und Nicolas spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. So sehr sie uns weiterbringen werden, vertrauenerweckend sind sie nicht.

Morgaine übernahm die Führung. „Sucht euch einen Ort zum Schlafen. Vorzugsweise, wo ihr möglichst wenig von eurem Geld loswerdet. Wir brauchen es für den Karawanenführer. Irgendwo muss es hier einen Strohhaufen geben, da könnt ihr euch zur Ruhe legen. Morgen haben wir einen harten Tag vor uns. Ich suche nach irgendeinem Irren, der uns durch die verdammte Wüste bringt." Sie winkte Murdoch zu sich und verschwand im Wohngebäude.

Murdochs Gebrüll weckte sie noch vor Sonnenaufgang. Müde befreite Nicolas sich aus den kratzenden Strohhalmen und wankte in die kühle Morgensonne. Morgaine stand mit zusammengebissenen Zähnen und einem säuerlichen Lächeln zwischen ihrem Ersten Offizier und einem struppigen, untersetzten Cerebra, dessen schwarzweiß gestreiftes Fell unter einem gelbbraunen Überwurf verschwand. Zwischen den Lippen seines grobschlächtigen Pferdekopfes steckte eine erloschene Zigarette. Jamie Blakk beäugte ihn und das große, gebogene Messer an seiner Hüfte skeptisch und trat nervös von einem Beins aufs andere. Roxane schien noch halb zu schlafen, sie lehnte an Fairwells Schulter, er hatte den Arm um sie gelegt.

Hinter ihnen standen über zwanzig gesattelte und beladene Greife, neben ihnen ein paar verstreute Cerebras, die mit Zügeln und Peitschen versuchten, die Tiere unter Kontrolle zu halten. Das Gekreisch der Tiere und das Gebrüll der Männer, von den hallenden Mauern verstärkt, schmerzte in Nicolas' Ohren. Staub kratzte in seinen Augen.

Sorgfältig mied er Roxanes Blick und stellte sich neben Rusty. „Wo sind die anderen Männer? Der Eiserne Joe und Porto?"

Rusty pflückte sich ein paar Strohhalme aus den Haaren. „Dalton sucht sie."

Das Cerebra wandte sich an Morgaine. „Ich warte nicht gerne", knurrte er drohend.

„Ich auch nicht", zischte sie zurück.

Ein beeindrucktes Lächeln spielte um die grauen Lippen des Karawanenführers. „Ich mag Euch", beschloss er.

„Sehr schön", gab Morgaine zurück.

Der Cerebra schnaubte belustigt.

„Captain!" Dalton trat aus dem Haus in den Hof. „Ich habe alles durchsucht, alle nach ihnen befragt. Einer hat behauptet, gesehen zu haben, wie sie mitten in der Nacht abgehauen sind."

Morgaine biss die Zähne zusammen. „Wer zurückbleiben will, wird zurückgelassen." Sie trat vor und wandte sich an den kümmerlichen Überrest ihrer Mannschaft. „Männer, dieser Mann hier", sie wies auf den Karawanenführer, der sein Gesicht zu einem schiefen, gelbzahnigen Lächeln verzog, „wird uns nach Caldera bringen. Ich hoffe doch sehr, dass ihr euch in seiner Anwesenheit zu benehmen wisst."

Die Männer nickten misstrauisch, Roxane flüsterte Fairwell mit einem ängstlichen Blick etwas zu. Nicolas beobachtete skeptisch, wie Morgaine dem Cerebra das wenige Geld, das sie besaßen, in die Hand drückte, und er es in den Untiefen seines Umhangs verschwinden ließ.

„Dann auf die Greife. Ich will noch vor dem Verlobungsfest in Caldera sein", befahl der Cerebra um seinen Zigarettenstummel herum. „Auf den Sätteln sind Umhänge. Wenn ihr nicht in der Sonne verbrennen oder unter dem Mond erfrieren wollt, zieht sie euch über. Wir fliegen tagsüber, von Sonnenaufgang bis in die Mittagshitze. Dann ruhen wir ein paar Stunden, und fliegen danach wieder bis Mitternacht." Mit wallendem Gewand wandte er sich um. „Gebt ihnen ihre Greife", befahl er seinen Untergebenen.

Das Fell von Nicolas' Greif hatte einen rotbraunen Farbton, seine Flügel waren weiß gefleckt. Er war aggressiv und schnappte nach allem, was ihm vor den scharfkantigen Schnabel kam. Nicolas war froh, auf seinem Rücken zu sitzen, außer Reichweite von Krallen und Maul. Dennoch war er sich sicher, dass das Reiten einfach war. In Crusadia bin ich gerne geritten. Jagden mit Pferd und Pfeil und Bogen. Es war nun so lange her, dass er fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte, auf einem Pferd zu sitzen. Und Greife... Nun, sie haben Flügel. Wenn wir fliegen, ist das sicher nicht einfach. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht falle.

Mit einem Blick auf die anderen wusste er, dass es ihm noch gut erging. Die Seemänner saßen linkisch und unwohl auf ihren Greifen, Morgaine umklammerte die Zügel so sehr, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, und Murdoch saß wie ein Stein im Sattel. Einzig Fairwell, der sich seinen Greif mit Roxane teilte, die sichtlich aufgeregt hinter ihm thronte, schien sein Tier etwas besser unter Kontrolle zu haben.

Der Cerebra gab mit einem gebrüllten Wort das Zeichen zum Aufbruch, und sie verließen den Hof. Schon jetzt verhieß die Sonne, die sich gerade beinahe schüchtern über dem Horizont hervorwagte, eine brütende Hitze, und Nicolas dachte fast wehmütig an die Kälte des Nordens.

Sie passierten die Wachen am Tor, und ihr Führer ließ seinen Greif angaloppieren und schwang sich in den Himmel. Der Wind peitschte Nicolas ins Gesicht, ließ seine struppigen Haare flattern und biss in seinen Augen. Ich verstehe, warum sich die Cerebras verschleiern. Die Cerebras, die sie begleiteten, hatten sich Tücher und Stoffe um die Köpfe gebunden, gegen den Wind und gegen die Sonne, so hatte es einer der Männer es Nicolas auf dem Weg zum Stadttor erklärt. Ich wünschte, ich könnte mich auch dagegen schützen. Doch der formlose Umhang aus ungefärbtem, flatternden Stoff ließ das Gesicht frei, und so konnte er nichts tun, außer hoffen, dass sie bald Halt machen würden.

Nicolas hatte nie gewusst, dass die Zeit von Sonnenaufgang bis Mittag so langsam verstreichen konnte. Sie schossen über den Himmel dahin, das Meer ein blauer Streifen, der von den gelbbraunen Dünen verschlungen wurde. Der Sand schien sich ins Unendliche zu erstrecken, und Nicolas war beeindruckt von der scheinbaren Endlosigkeit. Das Meer ist unendlich, ja, aber das Land? Sandmeer ist das wohl passendste Wort dafür. Nach nur wenigen Stunden hatte er das Gefühl, dass sie im Kreis flogen, so gleich sahen sich die Dünen. Es gab keine Punkte, an denen man sich orientieren konnte, und er fragte sich, wie der Cerebra so zielgerichtet voranfliegen konnte. Ob er uns ausrauben wird? Es wäre eine Schande, so kurz vor dem Ziel zu sterben... Er traute ihrem Führer nicht, doch er wusste, dass es niemand der Überlebenden tat. Er sah es den Seemännern an, Morgaines skeptische Blicke, Murdochs tiefes Misstrauen, und Fairwells Art, wie er versuchte, Roxane von dem Cerebra fernzuhalten, als wäre allein seine Nähe gefährlich.

Als sie mittags am Fuß eines kleinen Hügels von ihren Greifen rutschten, hatte Nicolas das Gefühl, er würde im Sandboden versinken. Seine Haut fühlte sich an wie von Sand geschmirgelt, seine Knie waren weich und sein Rücken schmerzte, nicht nur wegen seiner Narben. Müde und zerschlagen half er, die Greife zu versorgen und zu fesseln, und legte sich im Schatten eines Unterstandes, gebaut aus hölzernen Pfosten und einem Stück Segeltuch, zur Ruhe. Der Cerebra stellte einen seiner Männer als Wachen auf, und Morgaine befahl Dalton, ebenfalls einen Blick um sich herum zu haben.

Als Rusty ihn mit einem gezischten Wort weckte, war Nicolas sofort hellwach. Reflexartig griff er nach seinen Waffen, doch sein Freund beruhigte ihn. „Wir fliegen nur weiter. Steig auf deinen Greif", wies er ihn erschöpft an, und als Nicolas sich mit wundem Körper erhob, wusste er, wie Rusty sich fühlte. Er zog sein Hemd aus, wickelte es sich um den Kopf, warf sich den Umhang um und schwang sich wieder auf sein Reittier. Innerhalb weniger Minuten brachen sie ihr Lager ab und flogen weiter, der Hauptstadt entgegen.

Als der Mond über den Outlands aufging und der letzte orangefarbene Sonnenfunken hinter den Dünen verschwunden war, schlugen sie ihr Nachtlager auf. Murdoch machte sich daran, ein Feuer zu entzünden, und der Cerebra servierte Trockenfleisch und Tee.

Nachdem die Sonne untergegangen war, schien jegliche Wärme aus der Wüste gewichen zu sein. Statt an die Hölle aus Feuer und Staub erschien sie nun als eine eiskalte, tote Mondlandschaft, in der nur das Heulen der Wüstendrachen und das leise Kreischen der Greife zu hören war. Nicolas vermisste den brausenden Flugwind und das ständige Rauschen der See. Kaum zu glauben, dass es mich gestört hat, während wir auf See waren. Fröstelnd zog er den Umhang enger um sich und rückte näher ans Feuer.

Es war ein seltsamer Anblick, all die gestandenen Seemänner zitternd in ihren abgewetzten, stinkenden Umhängen, neben ihnen die hartgesottenen Cerebras, denen die Kälte ebenso wenig auszumachen schien wie die Hitze. Morgaine drückte sich an Murdoch, der ihr seinen riesigen Arm um die Schulter gelegt hatte. Sinnierend und verfroren starrte sie in die tanzenden Flammen. Roxane hatte sich in Fairwells Armen zusammengerollt und schien zu schlafen, doch ihre Wimpern flatterten. Er spielte erschöpft mit ihren Haaren. Nicolas spürte den vertrauten Stich der Eifersucht und ließ seinen Blick weiter zu Dalton gleiten, der sich mit einem der Cerebras unterhielt. Er war der Einzige, der sich mit ihnen verstand, aber auch die Cerebras unternahmen selten einen Versuch, sich mit den Menschen zu unterhalten.

„Wann sind wir in Caldera?", fragte er in die Runde hinein.

Der Karawanenführer nahm den Topf mit Tee vom Feuer und goss sich etwas davon in seine Tasse. „Morgen Mittag. Wir haben gutes Wetter." Er trank einen Schluck und verzog das Gesicht. „Es ist gut, dass wir morgen Caldera erreichen, dann kann ich meine Ware noch verkaufen und einlagern und mir übermorgen das Turnier zum Verlobungsfest ansehen." Er lächelte schief.

Nicolas nickte. Gut. Dann kann ich noch morgen den König warnen. Den ganzen Flug hatte er sich den Kopf zerbrochen, wann der Attentäter wohl zuschlagen würde, und nun war er sich sicher. Das Fest ist sicher öffentlich, sodass Hunderte und Abertausende sich das Turnier ansehen kann. Und der König wird sich ebenfalls zeigen... Für einen guten Killer ist es einfach, ihn dann zu töten. Dann kann er sich die Anstrengung, in die Festung einzubrechen, sparen. Außerdem ist es genau Darnoveys Stil, einen so gewaltigen Festakt für seinen großen Auftritt zu nutzen.

Dalton erhob sich, mit der Begründung, er wolle Rusty ablösen, und wenig später ließ sich der junge Lykaner neben Nicolas nieder.

„Weißt du einen Ort in Caldera, an den wir können, wenn wir dort sind? Wir haben kein Geld mehr", flüsterte Nicolas Rusty zu. Seit sie aus Arare aufgebrochen waren, beschäftigte ihn diese Frage.

Zu seiner Überraschung nickte Rusty. „Mein Halbbruder, Finn, er hat ein Boot auf dem Sabon, in der Nähe des Fischmarktes. Dorthin können wir."

„Wird er uns denn empfangen?"

„Er ist seit zwei Jahren tot. Gestorben im Aufstand von Jafar. Aber ich denke, jemand dort wird uns erkennen."

„Was hat er in den Kriegerstaaten getan?"

„Mein Onkel hat ihn verstoßen, weil er die Wege der Bruderschaft infrage stellte. Kurz danach ist mein Onkel gestorben, aber Finn war schon verschwunden. Mein älterer Bruder, der, der jetzt das Levasque-Rudel anführt, hat immer Wert darauf gelegt, seine Familie im Auge zu behalten, und er hat mir von Finns Boot erzählt. Anscheinend hat Finn zuerst bei einem Fischer gelebt. Als der verreckt ist, hat er wohl das Boot geerbt. Irgendwann ist er in der Wüste entführt und nach Jafar gebracht worden. Dort ist er vor zwei Jahren gestorben."

„Das... tut mir leid."

Rusty zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn nie gekannt. Er war schon fort, als ich zu meinem Onkel gezogen bin. Das Boot dürfte aber jetzt in Levasque-Besitz sein, und weil die Levasques zu den De Oros gehören, ist es deins."

„Ich wusste nicht, dass mir etwas in den Kriegerstaaten gehört", sagte Nicolas belustigt.

Rusty schnaubte und verschränkte fröstelnd die Arme.

Obwohl Nicolas so müde war, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, dauerte es lange, bis er den Schlaf fand. Bilder von wütenden Wüstendrachen und blutdurstigen Banditen suchten ihn heim. Doch eine Vision, die des gesichtslosen Killers, der den König Abisyalas tötete, während Nicolas danebenstand, unfähig, es zu verhindern, war es, die ihn wirklich vom erlösenden Schlaf abhielt. Wenn ich scheitere, oder wenn ich auch nur nicht vorgelassen werde, ist das Schicksal der Kriegerstaaten besiegelt. Es muss mir gelingen, den König zu warnen. Es muss einfach. Und wenn ich es geschafft habe, und einen Krieg verhindert habe, werde ich Darnovey für seine Taten zur Verantwortung ziehen. Mord an Dante Thomas Darnovey. Mord an Alonzo de Oro. Und versuchter Mord an Palaimon Castillo, König von Abisyala. Er hoffte, es würde nur bei versuchtem Mord bleiben.

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