65. Voller Bedauern

I've seen the blood

I've seen the broken

The Lost and the the sights unseen

I want a flood

I want an ocean

To wash my confusion clean

I can't resolve this empty story

I can't repair

The damage done

- Linkin Park, Rebellion


Es fühlte sich so an, als wäre sein Rücken eine einzige gigantische Fleischwunde. Nicolas konnte sich kaum bewegen, ohne dass ein Reißen durch seinen ganzen Körper schoss. Selbst jetzt, fast eine Woche nach seinem Handel mit Morgaine, war die weiße Haut an seinem Rücken durchzogen von blutigen brennenden Striemen, die sich bei der kleinsten Bewegung wieder öffneten wie grausige rote Augen.

Rusty hatte sich gut um ihn gekümmert. Er hatte seine Wunden verbunden, ihn gefüttert und versorgt, während der Schiffsarzt nicht einen Finger für ihn gerührt hatte. Trotzdem war er etwas kurz angebunden und konnte oder wollte nicht verstehen, dass Nicolas sich für ein Land, zu dem er keinerlei Beziehungen hatte, dermaßen in Gefahr gebracht hatte. Morgaine strafte ihn nur mit verächtlichen Blicken voller Hass. Roxane dagegen schien schuldbewusst, sie hatte ihn sogar an seinem provisorischen Krankenbett besucht, das aus ein paar zusammengeschobenen Kisten und einer dünnen mit Stroh gefüllten Matratze bestand. Nicolas konnte sich zwar nicht vorstellen, weshalb, doch sie war um einiges freundlicher als vor seiner Strafe.

Doch sein Verlangen nach ihr war abgekühlt. Es schien nun nebensächlich nach seinem Sieg über Morgaines Verbot, nach Abisyala zu segeln. Ich werde verhindern, dass Darnovey die Kriegerstaaten vernichtet. Was sind meine Wünsche schon gegen die Möglichkeit, den Frieden zu retten? Er wusste, sobald er seine Gedanken laut ausgesprochen hätte, würde Morgaine ihn über Bord werfen. Sie fürchtete ihn nicht, das wusste er, doch sobald sich der Wahnsinn, der sich gezeigt hatte, nachdem Darnovey ihn angeschossen hatte, sich erneut erheben würde, würde sie nicht zögern, ihn als Quelle der Gefahr für ihr Schiff zu beseitigen.

Er spürte es immer noch, das Gefühl unbestimmten, rastlosen, peitschenden Zorns auf Darnovey und seine Taten. Er hat meinen Vater getötet. Dafür muss er büßen. Der Wolf in ihm erhob sich grollend, so viel wacher und mächtiger als vor seinem Kampf auf Darnoveys Schiff. Es machte ihm Angst. Er fürchtete den Tag, an dem der Wolf erneut aus ihm herausbrechen würde und er wieder zu einer Bestie werden würde, die von Sinnen alles auf ihrem Weg tötete.

In der Zeit, in der er im dunklen, muffigen Schiffsbauch eingesperrt war, zusammengepfercht mit den anderen Gefangenen, die nach Krankheit und Resignation rochen, ihrer ewigen, nach Gewalt gierenden Langeweile und ihrem herablassenden, gespielten Respekt, hatte er über die Leben nachgedacht, die er genommen hatte. Die Schuld fraß ihn auf. Er hatte so viele getötet und so viele waren unter den Messern und Kugeln gestorben, die er auf die Mannschaft der Leviathan gehetzt hatte. Es war seine Schuld, seine ganz allein. Das Wissen, dass er, der niemals ein Tier hatte sein wollen, aus purem, kindischen Rachedurst verantwortlich für so viele Tote war, stach in ihm und seinem Gewissen wie ein Messer im Herzen. Jedes Mal, wenn er an die Leichen auf dem Deck dachte, drehte es sich ihm den Magen um, und er saß zitternd und mit Grauen erfüllt in der Dunkelheit. Oft saßen ihm die Tränen wie eine Faust um die Kehle im Hals, und er hielt sie fest zurück. Nie wieder würden die anderen Männer es ihn vergessen lassen, wenn er vor ihnen weinte.

Die Bruderschaft würde meine Taten unterstützen. Endlich habe ich es begriffen, wie ein Lykaner seinen Feinden schadet, erkannte er verzweifelt. Nicht nur einmal wünschte er sich, einfach davonlaufen zu können, in Dalcaster zusammen mit Pokey das Schiff zu verlassen und nie wieder einen Weg in den Süden mit seinen widerlichen Gesetzen einzuschlagen. Doch er wusste, er hatte eine Mission. Darnovey wird sich an meiner Tat kaum aufhalten lassen. Es sind wieder nur ein paar Menschen, die für ihn gestorben sind. Nichts, was ihn weiter stören würde, in wenigen Tagen hat er ein neues Schiff, mit seinen Fähigkeiten und seinen Mitteln... Ein Leben ist für ihn nichts als ein lästiges Hindernis, und sein nächstes Ziel wird für Tausende das Ende bedeuten, wenn ich ihn nicht aufhalte. Er wusste, er musste weitermachen. Wenn es einen Weg gab, um den Mord an König Palaimon zu verhindern, musste er ihn ergreifen. Das nahm er sich vor, in Gedenken an jene, die unter seinen Zähnen gestorben waren, an Fair Johnny, der sich stöhnend in seiner Hängematte herumwarf, verletzt von den Männern, die Nicolas auf die Frau gehetzt hatte, die er beschützen sollte, und an jene, die sterben würden, wenn er aufgab.

Als Morgaine ihm den Tausch vorschlug, die Jagd fortzuführen, wenn er sich auspeitschen ließ, war seine Entscheidung klar. Ich hatte Bestrafung verdient, nach all dem, was ich getan habe. Und es ist eine Bürde, die ich tragen kann, um Darquir zu retten.

Die Stärke der Strafe hatte er jedoch unterschätzt. Morgaines Schläge waren kräftig und unerbittlich gewesen, und der Schmerz hatte ihm das Gefühl gegeben, auseinandergerissen zu werden. Der Knebel hatte seine Schreie erstickt, und trotzdem war er von Tränen und Schmerz heiser gewesen. Nachdem sie ihn aus den Wanten gelöst hatten, war er in Rustys Armen zusammengebrochen und war mehrere Tage ins Delirium gefallen. Als er erwachte, fürchtete er sofort, der Wahnsinn sei zurückgekehrt, doch sein Hass auf Darnovey war nur eine Glut denn eine wütende Flamme. Nun teilte er sich Tag und Nacht das Orlopdeck mit Fair Johnny, der in einem eigenartigen Zustand zwischen Wachen und Bewusstlosigkeit schwebte, und Roxane, die mit einem Buch in der Hand und einer Kerze an seiner Seite wachte. Über ihm stritt Morgaine sich mit Rusty, der sie zur Eile antrieb und ihr immer wieder vorhielt, was Nicolas für die Mission geopfert hatte, und dass sie sich nun an ihre Abmachung halten sollte. Jeden Tag hatten sie diese Diskussion gehabt, manchmal zweimal täglich, und mittlerweile ließ Morgaine sich nicht einmal mehr zu einer Antwort herab, sondern befahl Murdoch, Rusty aus ihrer Gegenwart zu entfernen.

Nicolas starrte auf den dunklen Stahl einer Kanone vor ihm. Er lag auf dem Bauch auf den Kisten und versuchte, das reißende Gefühl auf seinem Rücken zu verdrängen, das sich bei jeder Bewegung zeigte. Vorsichtig wandte er den Kopf und sah zu Roxane. Sie las aufmerksam das Buch in ihrem Schoß, immer wieder mit hastigen Blicken zu Fair Johnny, sobald er im Schlaf ein Geräusch von sich gab. Die Kerze warf flackernde Schatten auf ihr Gesicht, die sie wie eine mythische Königin erscheinen ließ. Eine Königin der Wölfe, die über ein untergegangenes Kartell herrscht...

Ein Gefühl der Wärme wallte in seiner Brust auf, das erste Zeichen der Zuneigung zu Roxane seit Wochen. Für einen Moment war er versucht, sie anzusprechen, nur um ihre Stimme zu hören, oder um den überraschten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen, wenn sie aus ihrem Buch gerissen wurde. Doch er beschloss, ihre gebannte Stille nicht zu zerstören und versuchte, sich ihr Gesicht einzuprägen. Die helle Haut, beinahe unversehrt von Salz und Wind, golden schimmernd im Licht der Kerze, die dunklen Augen, ihre vollen Lippen, die sich bewegten, wenn sie auf ein Wort stieß, das sie nicht kannte, ihre schwarzen Haare, die nun schulterlang und struppig waren, statt lang und in sanften Wellen, wie damals in der Obsidianfestung. Morgaine hatte sie mehr schlecht als recht mit einem Dolch gestutzt, und das Salzwasser, mit denen Roxane sie gewaschen hatte, hatte den Rest getan.

Plötzlich wurden die Schritte lauter, und Rusty polterte missmutig die Treppe hinab. „Bei allen Geistern, ich werde wahnsinnig mit dem Captain. Sie weiß genau, dass sie jetzt so schnell wie möglich nach Süden segeln muss, aber setzt nicht Vollzeug, obwohl sie es könnte!" Mit schnellen Schritten war er bei Nicolas und ließ sich im Schneidersitz vor seinem Kistenlager nieder. „Geht es dir gut?"

„Den Umständen entsprechend", antwortete er und zuckte zusammen, als ein Stechen durch seinen Rücken schoss.

„Was hast du auch angestellt? Du hättest..."

„Rusty", unterbrach Nicolas ihn, „es war nötig. Ich habe es dir oft genug erklärt."

„Trotzdem verstehe ich nicht, wie du..."

„Ich habe das Wohl von tausenden über meins gestellt. Ist das so ungewöhnlich?"

„Ja!", schnaubte Rusty. „Niemand hätte es getan. Niemand, den ich kenne, außer du. Ich weiß nicht, ob du nun ein Held oder ein Idiot bist."

„Weder noch. Ich bin kein Held. Ich will nur nicht, dass Tausende für ein paar Kreuzer sterben."

„Ziemlich viele Kreuzer. Unendlich viele Kreuzer. So viel Gold, dass wir darin schwimmen könnten", murmelte Rusty.

Nicolas richtete sich auf. „Rusty", zischte er heftig, „willst du damit sagen, dass..."

„Nein", beschwichtigte er ihn. „Ich bin auf deiner Seite. Ich bewundere dich dafür, dass du Morgaines Peitschenhiebe für das Wohl von irgendwelchen Kriegern erträgst. Und dafür, dass du dem Ruf des Goldes widerstehen kannst. Das können nur wenige."

„Ich bin mir sicher, du könntest es auch, Rusty. Wenn es auf dich ankäme, würdest du dich auch für andere opfern."

Rusty starrte in die Dunkelheit. „Für manche, ja. Aber nicht für ein paar Krieger, die ich nicht kenne."

„Du könntest", widersprach Nicolas überzeugt. Er zweifelte nicht an seinem Freund. „Dann wärst du auch ein Held", fügte er schief grinsend hinzu.

„Held ist auch nur ein anderes Wort für Idiot. Ein ehrenhafter Idiot zwar, aber nichtsdestotrotz ein geisterverdammter Idiot." Rusty fluchte und fuhr sich durch die strähnigen dunklen Haare. „Und ich habe die Gelegenheit, Darnovey schon in Norden fassen zu können, einfach verstreichen lassen."

Nicolas erstarrte. „Was hast du gesagt?"

Rusty zuckte zusammen. „Was?"

„Du hast gerade gesagt, dass du Darnovey schon im Norden fassen konntest, aber es nicht getan hast. Was heißt das?"

Rusty starrte Nicolas an. Dann schüttelte er sich kurz und sein Gesichtsausdruck wechselte zu reserviert. „Damit meine ich, wenn wir uns etwas beeilt hätten..."

„Lüg mich nicht an", unterbrach Nicolas ihn grob. „Was weißt du, was ich nicht weiß?"

Rusty zögerte. „Morgaine hat geschworen, mich umzubringen, wenn ich es dir..."

„Das wird sie nicht. Was verschweigst du mir?"

In Rustys Blick erkannte Nicolas die stumme Bitte, nicht nachzufragen. Offensichtlich hatte er wirklich Angst vor Morgaine. Doch Nicolas gab nicht nach. Was meint er damit?

Rusty sah auf die Planken hinab. „Als ich in Lichtenturm dem Captain von dem berichtet habe, was... du auf der Leviathan angestellt hast, sind wir auf das Schiff gegangen, und im Laderaum haben wir den Spion gefunden. Der, der dir immer über Darnoveys Bewegungen berichtet hat. Er war fast tot, und wir haben von ihm erfahren, dass Darnovey in den Eisigen Norden gesegelt ist. Und nicht nur das, er sagte uns sogar das Ziel. Svardens Ark."

Nicolas starrte ihn an. Wir hätten Darnovey aufhalten können, noch bevor er seinen Auftragsmörder hatte. Wir hätten noch so viel Zeit... und jetzt müssen wir es schaffen, ihn zu stoppen, bevor er Caldera erreicht.Ich habe mich auspeitschen lassen, nur weil Morgaine und Rusty vor mir geheim halten wollten, wo Darnovey hinwollte...

„Aber der Captain hätte niemals die Jagd weitergeführt, selbst wenn ich es dir verraten hätte. Sie war, nein, sie ist so wütend auf dich, dass sie keinen deiner Befehle annimmt..."

„Aber jetzt tut sie es", sagte Nicolas tonlos vor Fassungslosigkeit.

„Nein, sie befolgt nur einen einzigen. Sie hat nur zugestimmt, Darnovey ein letztes Mal aufzuhalten. Indem sie mit dir nach Süden segelt und... den Rest ihres Plans kenne ich nicht. Nicolas, sie hat nur zugestimmt, weil sie etwas im Gegenzug bekommen hat."

Gewalt. Sie hat mich ausgepeitscht, und das war ihr so recht wie Gold, oder was auch immer man als Gegenleistung für einen Dienst verlangen kann... Es hat ihr mehr Spaß gemacht, als man spüren konnte. Er hatte nicht gesehen, wie Morgaines Gesicht während der Schläge ausgesehen hatte, doch nun schob sich das Bild von Morgaine, wie sie mit einem manischen Grinsen auf ein bewusstloses, blutiges Bündel auf den Schiffsplanken einschlug, in seinen Kopf. Voller Abscheu versuchte er, das Bild zu vertreiben, doch es biss sich in seinen Gedanken fest. Der Wolf in ihm heulte vor Zorn.

Vorsichtig setzte er sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Die Planken waren kühl und rau unter seinen bloßen Fußsohlen.

„Was soll das werden? Leg dich wieder hin!", wies Rusty ihn entsetzt an und erhob sich.

„Nein. Ich stelle Morgaine zur Rede. Warum verheimlicht sie mir so etwas? Sie wusste, wie wichtig die Jagd für mich ist!"

„Aye, und sie weiß, dass sie dich deinen Verstand gekostet hat! Wenn sie es dir verraten hätte, hättest du uns ins Verderben getrieben! Wer weiß, was du getan hättest... mit der Kroneneinhorn in den Eisigen Norden aufbrechen, ohne einen Nordfahrer, oder sie umgebracht, wenn sie versucht hätte, dich daran zu hindern!"

„Trotzdem. Es war wichtig, und ihr hättet es mir nicht verheimlichen sollen!" Nicolas belastete vorsichtig seine Füße. Sein Rücken schrie seinen Protest heraus, und er spürte jeden einzelnen Schlag, doch er beachtete ihn nicht. Mit einem Ruck stand er auf. Schwankend sah er in die Schatten, bunte Lichter tanzten vor seinen Augen. Roxane sah ihn entgeistert an, das Buch vergessen in ihren Händen, doch sie tat nichts, um ihn aufzuhalten. „Wusstet Ihr auch davon, Miss Blackheart?", wandte er sich an sie.

Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Nein", sagte sie verwirrt. Nach einem kurzen Zögern meinte sie, leiser: „Aber man kann es nun nicht ändern. Wann wir Darnovey und seine Kameraden finden, ist im Grunde nicht wichtig. Nur dass wir sie finden."

Aber könnten wir nicht jetzt schon längst auf dem Weg nach Hause sein, wenn wir es damals gewusst hätten? Nicolas vergewisserte sich taumelnd, dass seine Beine ihn nicht betrügen würden, dann machte er sich unsicher auf den Weg zur Treppe nach oben. Er wartete darauf, dass Rusty ihm hinterherrannte, doch niemand folgte ihm.

So schnell er konnte, bahnte er sich seinen Weg durch die Männer. Manche riefen ihm Beleidigungen oder hämische Ehrenbezeugungen zu, doch er ignorierte sie allesamt und marschierte weiter zum Achterdeck, wo Morgaine neben dem Steuermann stand und mit Murdoch redete. Als sie Nicolas entdeckte, hielt sie inne und flüsterte dem Minotaurus etwas zu. Er nickte und trat einen Schritt zur Seite.

„Nicolas", rief die Kapitänin. „Was willst du? Ich dachte, ich hätte dich totgeprügelt. Schön wäre es gewesen. Ich nehme an, du willst mir Schwierigkeiten machen?"

Nicolas erklomm die letzte Stufe und sah sie wütend an. „Ich denke eher, dass du mir Schwierigkeiten machen willst. Gibt es nicht etwas, was du mir erzählen solltest?"

Morgaines Gesichtsausdruck flackerte nicht. „Es gibt nichts, was du wissen solltest."

„Es geht um einen Spion. Der Spion auf Darnoveys Schiff, der dir verraten hat, wo er hinwollte! Dass Darnovey auf dem Weg nach Svardens Ark war!" Schwer atmend funkelte er sie an.

Morgaines selbstgefälliger Gesichtsausdruck wich purem Zorn. „Dieser elende kleine Hurensohn", flüsterte sie. „Gut, ich habe ihn gewarnt."

„Morgaine", hob Nicolas wütend an, „Warum hast du mir..."

Doch sie beachtete ihn nicht. „Eisenjoe, Beauferras! Holt mir Levasque an Deck! Wenn er versucht, sich zu wehren... tötet ihn."

Zu Nicolas' Zorn gesellte sich Angst um seinen Freund. „Morgaine, Rusty hatte damit nichts zu tun. Ich habe ihn gezwungen, es mir zu sagen. Das ist eine Sache zwischen dir und mir!"

„Oh nein. Ist es nicht. Ich habe gedroht, ihn zu töten, sollte er verraten, was der Spion uns sagte. Und das werde ich." Morgaine legte ihre Jacke und ihren Waffengurt ab und reichte sie an Murdoch weiter, während die Männer Rusty an Deck zerrten. Vor dem Achterdeck brachten sie ihn zum stehen, und er sah zu Morgaine und Nicolas hinauf.

Nicolas machte einen Schritt auf sie zu, doch Murdoch stellte sich ihm in den Weg. „Lass mich vorbei", grollte er, der Wolf in ihm schrie. Doch der Minotaurus zog nur ruhig sein Schwert und hielt es locker und kampfbereit in der Hand.

Morgaine schlüpfte aus ihren Stiefeln und sah dann zu Rusty herab. „Levasque, erinnerst du dich, was ich in einem Schiffsbauch in Lichtenturm zu dir sagte? Bezüglich eines Spions und dessen Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben sollten?"

Er erwiderte ihren Blick. „Aye, Captain."

„Und was habe ich dir gesagt?"

„Dass Ihr mich töten werdet, wenn ich jemandem verrate, was der Spion zu uns sagte."

„Warum hast du es dann an Nicolas verraten?"

Rusty sah zu Nicolas, der versuchte, an Murdoch vorbeizukommen. Doch der Minotaurus würde ihn nicht passieren lassen, das wusste Nicolas. „Morgaine, lass ihn!"

Die Kapitänin sah nicht einmal zu ihm.

Rusty straffte die Schultern. „Weil er mein Bruder ist, und ich es ihm schon damals hätte verraten sollen."

„Wie überaus loyal. Ich wusste schon immer, das Nicolas in dir einen besonders braven Schoßhund gefunden hat." Sie sah zu Nicolas. „Gibt er auch auf Befehl Pfötchen?" Die Männer lachten grölend.

Rusty wirkte gequält und beobachtete Morgaine aufmerksam, die die Schulter kreisen ließ und kurz sinnierend in die Sonne blickte.

Als sie sich in Bewegung setzte, war in zwei Schritten an der Brüstung, setzte darüber hinweg und stürzte sich auf Rusty. Noch in der Luft überzog struppiges braungraues Fell ihren Körper, Arme und Beine verwandelten sich in schmale Wolfsbeine. Ihre Kleidung zerriss. Ihr Gesicht verzog sich zu dem Kopf einer Wölfin mit gefletschten, gelblichen Zähnen und ihr wütendes Knurren erfüllte die Luft. Die Mannschaft schrie ihre Überraschung und Zustimmung heraus.

Nicolas kam es vor, als bewege sich die Welt in Sirup. Noch als Morgaine losrannte, wusste er, was sie vorhatte. Er brüllte Rusty eine Warnung zu und warf sich an Murdoch vorbei.

Der Wolf kam mit einer erschreckenden Ereignislosigkeit zu ihm, als verwandele er sich jeden Tag. Als wäre er immer ein Wolf, und sein Menschenkörper war das, was er als Tarnung benutzte. Er bemerkte kaum, wie sich sein Körper veränderte, spürte nur das leichte Ziehen der sich verformenden Knochen und Muskeln, kurz und heftig. Der Schmerz auf seinem Rücken nahm ab. Die Erleichterung einer Erlösung umfing ihn wie Wasser. Endlich, endlich bin ich nicht mehr gefangen, summte er im Einklang mit dem Abgrund.

Ebenso schnell, wie der Wolf ihn gefunden hatte, so schnell reagierte Nicolas auch. Es war keine Zeit zum Genießen. Als sandfarbener Schatten schoss er auf Morgaine zu und rammte sie mit voller Wucht in die Seite. Irgendetwas knackte bedrohlich unter seinem Gewicht, und Morgaine heulte auf vor Wut und Schmerz.

Als ineinander geschlungenes Knäuel aus Fell, Beinen und Zähnen schlugen sie auf den Planken auf. Ein paar Seemänner stolperten zurück, um ihnen Platz zu machen. Morgaine war als erstes auf den Pranken. Sie warf sich sofort wieder auf Nicolas, der sich ebenfalls hastig erhob. Die Kapitänin versenkte ihre Zähne in seinem Rücken, dort, wo die Abbilder der Peitschenhiebe seines Menschenkörpers prangten. Gleißender Schmerz schoss durch seinen Körper. Er wollte sich wehren, als Morgaines Gewicht plötzlich von ihm weggerissen wurde. Ihre Zähne nahmen Haut und Fleisch mit sich, und er heulte auf. Schnell sprang er auf die Pranken und sah sich nach Morgaine um.

Ein dritter Wolf, dunkelbraun, mit kurzem Fell, hatte sie zur Seite gerissen und stand ihr nun grollend gegenüber. Dort, wo Rusty gestanden hatte, war ein Haufen zerrissener Kleidungsstücke nebst achtlos hingeworfenen Waffen.

Stolz erfüllte Nicolas, Stolz auf seinen Freund, der nun seinem Anführer beistand. Oder war es der Wolf, der so dachte? Doch es gab keine Zeit zum nachdenken. Morgaine warf sich auf Rusty und vergrub ihre Fänge in seinem Vorderbein. Mit einer schnellen Kopfbewegung brach sein Knochen, und sein schrilles Heulen ließ das Schiff erbeben. Er wollte nach ihr beißen, doch sie wich ihm mit Leichtigkeit aus. Ihr Knurren hatte etwas von einem verächtlichen Lachen.

Nicolas trat auf sie zu und biss sie in den Nacken. Sie schrie auf, doch bevor er seinen Griff verstärken konnte, befreite sie sich und positionierte sich so, dass sie Rusty und Nicolas vor sich hatte. Hinter den beiden war die Reling, sie konnten nicht zurück. Vor ihnen stand Morgaine mit gefletschten Zähnen. Offensichtlich wollte sie sie zur Aufgabe zwingen.

Ich bin ein Anführer der Bruderschaft. Der Herr über das Zafiro-Kartell. Ich werde mich nicht von einer struppigen Wasserwölfin in die Knie zwingen lassen! Er schielte zu Rusty, der sein Bein abgewinkelt hielt. Er würde ihm kaum helfen können. Er selbst war verletzt, und Morgaine wusste genau, sowohl als Mensch als auch als Wolf, wie sie Verletzungen ausnutzen konnte. Also half nur die Offensive. Er kauerte sich zusammen, und beobachtete, wie Morgaine ihn genau fixierte, um seine Züge vorauszusehen, als ein Schuss die gebannte Stille durchschnitt.

Nicolas zuckte zusammen, als direkt vor seinen Füßen Holzstaub aufstob. Rusty machte einen Satz von ihm weg, landete auf seinem gebrochenen Bein und jaulte herzzerreißend. Morgaine war die einzige, die nicht herumwirbelte und auch nicht ihre gespannte Haltung löste, doch eines ihrer Ohren drehte sich in die Richtung des Geräuschs und sie neigte leicht den Kopf.

Als Nicolas sich umsah, erwartete er, Roxane zu sehen, die ihm schon allzu oft das Leben vor Morgaine gerettet hatte. Doch vor ihm stand Murdoch, eine rauchende Muskete in der Hand. Seine Lippen bewegten sich, und nach einem Moment erkannt Nicolas die Wörter.

„Schluss damit. Weg von unserem Kapitän."

Nicolas und Rusty zögerten, doch Murdoch bellte erneut einen Befehl, diesmal harscher, und mehrere Männer hoben ihre Waffen.

Du kannst es, greif sie an, und siege! Nicolas war beinahe versucht, dem Ruf des Abgrunds nachzugehen, doch er wusste, dass es sinnlos war. Langsam trat er zur Seite.

Morgaine ging auf ihn zu. Er blieb stehen und erwiderte ihr Knurren, als das Klicken der gespannten Waffen erklang. Er ließ seine Drohung fallen und blieb starr stehen. Rusty beobachtete ihn angespannt.

Die Kapitänin blieb dicht vor ihm stehen. Dann ließ sie einmal ihre Kiefer vor seinem Maul zuschnappen, wirbelte herum und verschwand in ihrer Kajüte. Nicolas sah ihre nackte Silhouette, wieder ein Mensch, bevor sie die Tür schloss.

Murdoch scheuchte sie mit einer schnellen Bewegung unter Deck, dann folgte er seiner Kapitänin.

Nicolas machte einen halbherzigen Versuch, seine Kleidung vom Achterdeck zu holen, doch ein Seemann mit gespannter Waffe stellte sich ihm in den Weg. Mit einem Grollen folgte er dem hinkenden Rusty unter Deck. Sein Rücken brannte.

Unter Deck stand Roxane mit gezogenem Schwert neben Fairwells Hängematte. Entgeistert starrte sie die beiden Wölfe an, die sich stöhnend vor Schmerz wieder in Menschen verwandelten. „Was ist passiert?"

Nicolas bedeckte sich notdürftig mit den Händen und taumelte zu seiner Kiste. Blut rann seinen Rücken hinab, erreichte seine Beine und kitzelte an seinen Waden. Er fand seine Kleidung und schlüpfte in die erste Hose, die er fand. „Ihr habt sicher mitbekommen, was Rusty mir verheimlichte und welche Rolle Morgaine dabei spielte... es ist ernst geworden. Aber es droht keine Gefahr mehr." Fürs Erste nicht mehr.

Rusty hüpfte fluchend durch den Laderaum, seine gebrochene Hand von sich weghaltend. Mit der anderen versuchte er, sich seine Hosen anzuziehen. „Ich habe dir gesagt, dass es eine blöde Idee war, dir davon zu erzählen. Was hast du nun davon? Geht es dir nun besser? Götter und Geister!"

Nicolas schüttelte den Kopf. Das Schuldbewusstsein über seinen verletzten Freund arbeitete in ihm. Was hätte ich auch erreichen können? Dass Morgaine klein beigibt? Das wird sie niemals tun. Aber... es war nicht gerecht. Ich hätte mir so viel Schmerz ersparen können, wenn wir Darnovey schon im Norden gefasst hätten. Andererseits... jetzt ist es geschehen. Man kann nichts daran ändern.

Rusty fluchte und betrachtete seine Hand, die langsam violett anlief. „Verdammt, dieser verfluchte Arzt wird mir auch nicht helfen. Jetzt nicht mehr."

Roxane verstaute ihr Schwert. „Ich kann Euch zu Rockey bringen, Master Levasque. Ich denke, eine Grundversorgung wird er Euch geben."

Rusty sah sie mit angestrengter Dankbarkeit an. „Danke, Miss Blackheart, vielen verfluchten Dank. Hoffentlich kann Murdoch den Captain zur Ruhe bringen." Er sah zu Nicolas. „Wenn das heldenhaftes Verhalten war, bin ich lieber kein Held. Lieber ein Feigling als ein Idiot. Und falls du das nächste Mal die Drohung einer sadistischen Hure nicht beim Wort nehmen willst, denk nach, bevor du es tust!" Er spuckte aus und biss die Kiefer zusammen. „Denk überhaupt mehr darüber nach, was deine Handlungen auslösen. Darnovey weiß nämlich, was er tut. Weißt du es?"

~ ~ ~

Dieses Kapitel hatte ich eigentlich gar nicht schreiben wollen, es ist einfach so passiert. Aber es ist toll geworden.

Und hatte ich schon erwähnt, dass dieses Buch nun fertig geschrieben ist? Jede Woche, noch 19 Kapitel lang, geht es weiter. Und dann? Wer weiß. Aber zuerst - Hausarbeiten.

(wer sich fragt, warum ich jetzt nicht schon alles poste: 1. Ich spanne Menschen liebend gern auf die Folter. 2. Dann bleibt ihr immerhin bei mir, bis ich wieder was zu posten habe. Sonst ist eeeewig Pause, und dann habe ich alle verloren, die hier regelmäßig vorbeischauen. Und das wäre eine himmelschreiende Schande, meine lieben Freunde!)


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