62. Eine andere Wahrheit

Run boy run! They're trying to catch you

Run boy run! Running is a victory

- Woodkid, Run Boy Run


Sie rannten.

  Die Hufe der Einhörner donnerten und knirschten auf dem gefrorenen See, ihr Keuchen hallte in Ravans Ohren wider. Sein Herz galoppierte im Gleichtakt mit ihnen, die eisige Luft, die er atmete, schnitt ihm in die Lungen und der Wind fuhr ihm in sein Fell. Er roch die Tiere, witterte ihr kaltes Blut, den scharfen Gestank ihres Fells, ein Geruch nach kaltem, faulem Fleisch und verrottenden, schneebedeckten Leichen, und sah ihre spitzen Zähne durch den Spalt zwischen ihren Lippen, an denen Eiszapfen hingen. Ihr Fell hatte die Farbe ihres Geruchs, kalt, weiß und glatt wie gefrorene Haut. Klirrend schlugen die Ketten ihres Zaumzeuges aneinander, ein Geräusch, bei dem sich Ravans Fell aufstellte, ebenso unangenehm wie ihre klagenden Schreie, die über den See hallten und von den Bergen verhundertfacht wurden, ein lautes Jammern, wie der Wind, der über scharfe Felskanten strich. Ihre blauweißen Augen waren zu schmalen, glühenden Schlitzen verengt, die den rennenden Wolf, der sich beeilen musste, um mit ihrem mörderischen Tempo mithalten zu können, argwöhnisch taxierten.

  Ravan wusste am Rande seines Bewusstseins, dass nur ihre Reiter die Ungeheuer davon abhalten konnten, ihn zu töten und zu verschlingen. Ravans Begleiter preschten über den See, über die eisverkrusteten Hälse ihrer Reittiere gebeugt, der Duft nach Wärme und frischer Beute, den Mensch und Eiswolf verströmten, weckte seine Jagdinstinkte und ließ ihn beschleunigen. Sein perfekter Wolfskörper arbeitete, seine Tatzen flogen über das Eis und sein Fell schützte ihn vor dem eisigen Wind und den Schneeflocken, die wie kleine Messer in den Gesichtern des Menschen stachen mussten.

  Schnell wie der Sturm, der um sie tobte, jagten sie durch Eis und Schnee, Einhörner neben Lykaner. Eines der beiden gefrorenen Kreaturen schnappte nach ihm, er knurrte durch seinen rasenden Atem eine wortlose Drohung hervor. Mit einem hörbaren Geräusch schlug das Gebiss des Einhorns gegen seine Zähne, als sein Reiter hart an den Zügeln riss, um es vor einem weiteren Versuch, Ravan zu töten, abzubringen. Es war eine Jagd, wer immer voraus rannte, wurde von seinen Nachfolgern gehetzt, sie stachelten sich gegenseitig auf bis zum Rand ihrer Kräfte.

  Sie mochten Stunden über den See gerannt sein, als sich das knirschende Eis unter ihnen sich in flüsternden Schnee verwandelte, der durch die Hufe und Tatzen aufgewirbelt wurde. Einer der Reiter schrie etwas, doch Ravan verstand ihn nicht. Er war gleichzeitig auf der Jagd und auf der Flucht, vollkommen in seinem Element.

  Plötzlich bogen die Einhörner scharf ab, jemand schrie ein Wort, das er nach einigen Sekunden als seinen Namen erkannte. Er folgte ihnen, auf eine Felsgruppe zu, die eine kleine Höhle gebildet hatte, vor der die Einhörner schlitternd abbremsten. Eiswolf und Mensch stiegen ab, gekleidet in schwere, gefütterte Mäntel, die sie vor der Kälte schützten.

  Besser als mein Fell können sie nicht sein, dachte Ravan in einem Anflug seiner menschlichen Arroganz, und folgte ihnen in den Schutz der Felswände.

  Jetzt, wo er aufgehört hatte zu rennen, sprang ihn die Müdigkeit an wie ein wildes Tier. Mit einem Schnaufen ließ er sich auf dem Fels nieder, während die beiden Zweibeiner über etwas stritten. Der Größere von ihnen schien zu gewinnen, denn der Kleinere stapfte missgelaunt tiefer in die Höhle hinein, während der Größere an den Einhörnern hantierte.

  Wie heißen deine Begleiter? Ravan zuckte zusammen, als er über die Frage nachdachte und merkte, dass er sie nicht beantworten konnte. Ihre Namen, wie lauten ihre Namen, wer sind sie, du weißt ihre Namen, erinner dich, lass den Wolf nicht gewinnen, niemals, du bist eine Bestie, doch nur zur Hälfte, Vernunft, du musst die Vernunft gewinnen lassen, sonst vergisst du, wer du bist... Seine Gedanke überschlugen sich, während er versuchte, seinen menschlichen Teil zu erreichen. Mühsam zwang er sich zur Ruhe.

  Dein Name ist Ravan Bane Darnovey. Deine Begleiter heißen...Skyoll Komarov und Madrid Yarrow, der Bastard. Erleichtert atmete er aus. Ganz gewonnen hatte der Wolf nicht.

  Doch es wäre so einfach, den Wolf die Oberhand gewinnen zu lassen, für immer als perfektes Wesen zu leben, ohne dass man stets unterdrücken musste, was man wirklich war, es wäre zu einfach... Schnell vertrieb Ravan den Gedanken. Es war unmöglich. Es gab Dinge, um die er sich kümmern musste, Spiele, die seinen Einsatz erforderten, und Feinde, die besiegt werden mussten.

Inzwischen hatte Bastard etwas trockenes Holz in der Höhle gefunden und begann, es auf dem Fels aufzuschichten, und einige Minuten später brannte ein kleines Feuer. Ravan legte den Kopf auf den Boden und beobachtete die tanzenden Flämmchen. Komarov beendete seine Arbeit bei den Einhörnern setzte sich auf eine Stein in der Nähe des Feuers. Kaum hatte er sich niedergelassen, stand Bastard auf, ging zu den Einhörnern und wühlte in den Satteltaschen, überwacht von vier Augen: Zwei dunkelbraune, ein hellblaues und ein bernsteinfarbenes. Er kehrte zurück mit einem kleinen, verrosteten Topf, bis zum Rand mit Schnee gefüllt, und stellte ihn nahe der Flammen auf den Boden. Dann setzte er sich ebenfalls auf einen Stein, hüllte sich in seinen warmen Mantel und in eisiges Schweigen und beäugte den Eiswolf, der seinerseits ins Feuer starrte und hasserfüllte Seitenblicke auf den Söldner warf.

  Bastard verengte die Augen. „Weißt du eigentlich, wie sehr ich es genossen habe, dir wehzutun? Jeder einzelnen Faustschlag auf deinem verfluchten Gesicht, jeder Tritt war eine verdiente Rache für Eziel. Du hast ihn erschossen, erinnerst du dich?"

  Komarov verzog die Lefzen zu einem grausamen Lächeln, verzerrt durch seine Narbe. „Ja. Ich erinnere mich. Er hat gejammert wie ein kleines Kind, er war ein Feigling. Er war kein Mann, sonst wäre er aufrecht gestorben und nicht bettelnd auf seinen Knien herumrutschend!"

  Bastard sprang von seinem Stein auf und zog sein Schwert aus seinem Mantel „Sollen wir die kleine... Uneinigkeit zwischen uns jetzt klären oder später, wenn Ravan nicht mehr seine schützende Hand über dich hält?"

  Komarov erhob sich ebenfalls, sein weißes Fell glühte im Schein des Feuers. Aus seinem Gürtel zog er das Messer des Mannes aus dem Gefängnis, verrostet und fleckig, aber trotzdem scharf. „Wir können es jetzt gleich regeln, wenn du unbedingt willst. Toter Mann."

  Ravan war plötzlich hellwach. Verdammt, ich muss mich zurückverwandeln, sonst bringen sie sich gegenseitig um. Er strengte seinen Willen an, kämpfte gegen den Sog, mit dem die Wolfsgestalt seinen Verstand gefangen hielt wie ein Sumpf, und spürte, wie seine Knochen knirschten und knackten, sich neu arrangierten, wuchsen und schrumpften. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in seinem Körper aus, und der Schmerz wuchs plötzlich ins Unermessliche, sodass ihm ein leises Stöhnen entwich. Hört auf zu streiten, wollte er sagen, doch alles, was über seine Lippen kam, war ein unwirsches Knurren.

  Als sein Fell verschwand, fiel die Kälte gierig über ihn her. Der eisige Wind strich nun über seine nackte Haut, ohne eine schützende Fellschicht, biss ihn und saugte jegliches Leben aus ihm. Etwas Warmes, ich brauche etwas Warmes, dachte er. Er war unfähig zu sprechen, sein Kopf war zur Hälfte wölfisch, seine Stimmbänder waren nicht die eines Menschen. Zitternd kämpfte er gegen den Ruf des Wolfes in ihm an, der sich immer noch an seinen Körper klammerte wie ein kleines Kind an seine Mutter, wälzte sich auf den eiskalten Boden und schüttelte ihn schließlich ab.

  Wie schnell man verlernt zu sprechen, dachte er, als er versuchte, ein Wort zu sagen, doch nur ein klägliches Wimmern über seine Lippen kam, ungehört von den beiden Männern, die sich mittlerweile mit gezogenen Klingen gegenüber standen und sich gegenseitig Beleidigungen ins Gesicht fauchten. Bebend und schwer atmend, zu einem Ball zusammengerollt, saß er auf dem nackten Fels, wiegte sich vor und zurück und versuchter verzweifelt, seine Fähigkeit zu sprechen zurückzugewinnen.

  „Hört auf zu streiten", krächzte er heiser und hustete seinen warmen Atem in die Kälte.

  Eiswolf und Söldner sahen sich nach dem Geräusch um, ohne die Waffen sinken zu lassen. Als Bastard ihn sah, ließ er das Schwert fallen und stürzte auf ihn zu.

  „Bist du wahnsinnig? Verwandle dich sofort zurück, sonst stirbst du!", zischte er.

  Ravan schüttelte zitternd den Kopf. „Dann vergesse ich mich. Gib mir was zum anziehen, sonst sterbe ich wirklich", presste er zwischen seinen klappernden Zähnen hervor.

  Bastard wirbelte herum und lief zu den Einhörnern. Komarov steckte sein Messer zurück in den Gürtel, legte Ravans Mantel ab und legte ihm ihn über die Schultern. Dankbar schlüpfte der Lykaner hinein und verschränkte frierend die Arme. Der Mantel war durch die Körperwärme des Eiswolfes angewärmt und stank nach Frosteinhorn, doch Ravan hatte nie ein kostbareres Kleidungsstück besessen. Bastard kehrte mit Ravans Kleidung zurück, die beinahe steif gefroren war, trotzdem legte er sie an. Als er den Mantel wieder ausziehen musste, um sich sein Hemd überziehen zu können, heulte eine Windbö herein, Ravans zitternde Knie gaben unter ihm nach und er fiel fast zu Boden. So schnell er konnte, zog er mit seinen gefrorenen Fingern die anderen Kleidungsstücke an und hüllte sich wieder in das schwere gefütterte Leder.

  Gerade, als er in seine Stiefel schlüpfen wollte, hörte er Komarovs tiefe Stimme. „Gib ihm deine Stiefel", grollte er, an Bastard gewandt.

  Bastard starrte ihn skeptisch und aggressiv an. „Warum?", wollte er wissen.

  „Damit er warme Füße kriegt, sonst frieren ihm die Zehen ab."

  Dieses Argument überzeugte den Söldner, ohne Widerworte gab er seine Schuhe an Ravan weiter, der sie sich über seine gefrorenen Füße zog, und schnürte Ravans ungewärmte Stiefel an seinen eigenen fest. Komarov warf ein paar Blätter in das inzwischen heiße Schneewasser im Topf.

  Müdigkeit wallte in Ravan auf und schlug über ihm zusammen wie eine Welle, und die Erschöpfung seines Laufs über den See zeigte sich endgültig. Ich bin müde, so müde. Ich würde all mein Gold geben für etwas Schlaf, und etwas, das mich vor dieser verfluchten Kälte rettet. Er zog die Beine an und legte das Kinn auf seine Knie. Schlafen, nur für eine Minute... davon wird mir wieder warm, ganz sicher. Der Schlaf lockte ihn wie der Abgrund seiner Wolfsgestalt, und er schloss die Augen.

  Sofort klatschte eine Handfläche in sein Gesicht, brutale Hände packten seinen Mantelkragen, rissen ihn vom Fußboden hoch und pressten ihn gegen die Wand. Ravans Augenlider flatterten und er griff schwach wie ein Kätzchen nach den Handgelenken. Durch eine Spalt zwischen seinen Lidern erkannte er verschwommen weißes Fell und zwei verschiedenfarbige Augen.

  „Hey", zischte Komarov. Als Ravan nicht reagierte, schlug er nochmal zu. „Hey. Wandling. Augen. Auf. Mich." Er schüttelte Ravan heftig, der langsam die Augen wieder öffnete. „Sieh mich an. Sieh mich an!", fauchte er.

  Ravan starrte den Eiswolf an.

  „Siehst du mich?"

  Ravan nickte langsam.

  „Kannst du stehen?"

  Wieder nickte er.

  „Gut." Komarov stellte Ravan wieder auf seine eigenen Füße. Vorsichtig lehnte der Lykaner sich an die Felswand.

  „Wozu sollte das jetzt gut sein?", knurrte Bastard in dem streitlustigen, zweifelnden Tonfall, den er sich für den Mörder reserviert zu haben schien.

  Komarov trat ein paar Schritte zur Seite. „Wenn er einschläft, wacht er nicht wieder auf. Er muss wach bleiben, sonst können wir ihn hier und jetzt den Einhörnern vorwerfen."

  Ravan ging langsam zum Feuer und ließ sich davor nieder, Komarov folgte ihm und setzte sich wieder auf den Stein. „Und wie halte ich mich am besten wach?", flüsterte Ravan.

  „Rede. Sing. Lauf herum. Egal, aber sei nicht still", sagte Komarov und drückte ihm einen Becher mit Tee in die Hand.

  Bastard betrachtete seine Handschuhe. „Du könntest uns die Wahrheit über dich, den alten De Oro und deinen Bruder verraten. Mal hast du einen von ihnen getötet, dann beide mit bloßen Händen erschlagen, dann hast du einen Killer beauftragt. Das glaube ich am ehesten, schließlich ist das dein Stil", sagte er mit einem missbilligenden Seitenblick auf Komarov, der ihn nicht beachtete. „Mittlerweile kenne ich hundert verschiedene Versionen, und ich frage mich, welche davon wahr ist."

  Ravan trank einen Schluck des bitteren Tees, der ihm sofort die Zunge verbrannte, und dachte über Bastards Vorschlag nach. Eigentlich kann ich es ihnen sagen. Aber was, wenn sie es an jemanden weitererzählen, für dessen Ohren es nicht bestimmt ist? Dann bin ich schneller eine Leiche in den Gassen von Amostown, als ich 'Bruderschaft' sagen kann. Und überhaupt, warum ist er so interessiert an der Wahrheit? Will er mich doch noch verraten, nach allem, was wir durchgemacht haben? Ravan beobachtete den Söldner, der ungerührt seinen Blick erwiderte.

  „Also?", hakte Bastard nach.

  Ich sollte mehr Vertrauen in sie setzen. Sie sind zwei der wenigen Verbündeten, die ich habe. Er holte Luft, um mit der Wahrheit zu beginnen, als er innehielt. Und was ich für großartige Verbündete habe. Zwei gekaufte Kapitäne, einen skrupellosen Mörder und einen Söldner. Keiner von ihnen würde für mich kämpfen, wenn ich ihnen nicht mein Gold vor die Füße legen würde. Aber verpflichtet mein Gold auch zum Schweigen? Kann ich ihnen wirklich vertrauen? Es gibt eine Person, der ich blind vertrauen würde, und die ist nicht hier. Werde ich es bereuen, sie einzuweihen?

  Schließlich atmete er tief durch, auch um sein brennendes Gesicht vor einem weiteren Schlag zu schützen, denn Komarov beobachtete ihn aufmerksam, und Ravans Schweigen schien ihn höchst misstrauisch zu machen. „Ich hoffe, ich bereue es nicht, euch einzuweihen. Ich habe selten jemanden mehr als auf Sichtweite vertraut, und ich beschließe nun, euch zu vertrauen." Zumindest in dieser Angelegenheit. „Versprecht, es nicht weiterzuerzählen. Wenn ihr mich verratet, werde ich irgendwie einen Weg finden, euch beide umzubringen, und glaubt nicht, dass ich dazu nicht fähig wäre. Selbst wenn ich tot bin, jemand wird euch finden und ihr werdet sterben. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?" Dass ich im Moment nicht mal dazu in der Lage bin, auf ein Einhorn zu steigen, muss ich ihnen ja nicht unter die Nase reiben.

  Bastard nickte interessiert, während Komarov sein Messer zog und begann, es zu schärfen. Nach einem Moment nickte auch er.

  Angesichts des Messers wurde Ravan etwas unwohl, doch er sagte nichts dazu. „Ich gestehe", sagte er schwach, doch mit einem sarkastischen Unterton. Ich sehe, mir geht es schon besser. „Ich habe meinen Bruder tatsächlich getötet. Das habe ich dir schon einmal gesagt, Bastard, und es stimmt." Er hatte bisher nur wenige in dieses Wissen eingeweiht, und hoffte, es würde auch so bleiben. „Hector Stanraer behaupte steif und fest, ich hätte den Lilienmörder beauftragt, aber das ist nicht wahr. Ich wusste nicht einmal, dass er existierte, weil ich zu seiner Zeit irgendwo auf den Racheinseln vor mich hinvegetierte." Ich weiß genau, wo ich war. Ich war auf der Insel der Söldnerkompanie, die Thiago übernommen hatte, nachdem wir die Irren Ritter verlassen hatten. Die Neunfinger, so nannten wir uns. Ich bin wohl der einzige, der sich nicht den Ringfinger hat abhacken lassen, wie es ihre Tradition war. „Schließlich habe ich erfahren, dass es einen Killer gab, der Unruhe in der Bruderschaft stiftete. Die Rebellen in den Bergen hatten ihn gesandt, einer ihrer lächerlichen Versuche, sich von uns zu befreien. Ich hörte mich um, sammelte alle Hinweise über ihn, und erfuhr von seinem Zeichen, das er bei seinen Opfern zurückließ."

  „Was für ein Zeichen?", wollte Bastard wissen. Seine Atemluft bildete weiße Wölkchen vor seinem Gesicht. Komarov saß schweigend auf seinem Stein, seine ungleichen Augen blitzten wachsam im Feuerschein.

  Ravan drehte die Tasse in seinen Händen. Aus dem Tee blickten ihm finsteren Augen unter eisverkrusteten Augenbrauen entgegen. Ein struppiger Bart bedeckte ein ausgemergeltes Gesicht. Bleiche Haut spannte sich über scharfe Wangenknochen, wie das weiße Fell über Komarovs Rippen. Er riss erschrocken seine schweren Augenlider auf, und das Gesicht imitierte die Bewegung. Bei den Geistern, sehe ich scheußlich aus. Der Norden bekommt mir nicht.

  Angeekelt wandte er sich wieder zu seinen Begleitern. „Der Lilienmörder tötete mit einem Schnitt in den Hals und einem Einschussloch in der Stirn, in das er einen Lilie steckte. Ein reizender Zeitgenosse, wie ihr euch denken könnt. Ich übte das Schießen, bis ich keine Pistolen mehr sehen konnte und von präzisen Schüssen träumte, wieder und wieder explodierten die Holzsplitter der Zielscheiben, an denen ich übte, vor meinem inneren Auge. Dann segelte ich nach Crowne zurück. Ich brach in das Haus meines Bruders ein, was erstaunlich einfach war, ermordete ihn mit den Mitteln des Lilienmörders und spielte für die Wachen und die Bruderschaft den trauernden Bruder, dem man seine letzte lebende Familie genommen hat. Ich rief zur Hatz auf den echten Lilienmörder, fand ihn und und ließ ihm ein schauerliches und widerwärtiges Ende zuteilwerden. Hector Stanraer, mein alter Freund, ahnte natürlich, dass ich daran schuld war, und begann seine Hetze gegen mich, als er mich nicht auf seine Seite ziehen konnte. Niemand glaubt seine Anschuldigungen. Nicht eine Seele. Er ist nur ein verrückter, alter, machtgieriger, und ganz und gar verbitterter Mann, dem sein Mitleid und seine Gerechtigkeit zum Verhängnis wurden." Ravan hielt inne. „Doch, Nicolas de Oro glaubt ihm. Ein naiver Idiot, der einem Traumtänzer folgt. Sind sie nicht ein hübsches Gespann?"

  Bastard lachte leise in seinen Mantelkragen. „Was sind dann wir? Ein Söldner und ein mörderischer Hurensohn, die einem halb erfrorenem Träumer folgen?"

  Ravan richtete sich auf. „Ihr seid ein edler Bastard und ein exzellenter Killer, die einem Mann mit großen Zielen folgen", sagte er würdevoll.

  „Oh, ich bin ein edler Bastard. Ich werde es mir merken, falls du mich jemals wieder einen verdammten Bastard nennen wirst."

  „Natürlich."

  Bastard schnaubte. „Und was ist mit De Oro?"

  Ravan starrte wieder auf sein verwahrlostes Spiegelbild und atmete tief durch. „Mit Alonzos Tod hatte ich nichts zu tun. Er war alt und ist gestorben, das tun alte Männer manchmal. Nicolas de Oro wurde nur von Stanraer gegen mich aufgehetzt. Der Alte kann mich wohl nicht in Ruhe lassen. Offensichtlich ist er zu feige, um sich mir allein zu stellen." Die ganze Wahrheit müssen sie ja nicht wissen.

  Als er von seinem Getränk aufsah, starrte Bastard in die Flammen. Er umklammerte wieder sein Schwert und warf aus dem Augenwinkel immer wieder wütende Seitenblicke auf Komarov.

  Doch das scharrende Geräusch von Stahl auf Leder war verstummt. Komarov saß mit gezogenem Messer auf dem Stein und löste seinen kalten, wissenden Blick nicht von Ravan. Er bewegte sich nicht, wie eine gefrorene Statue.

  Ravan erwiderte ungerührt seinen Blick. Ob er weiß, dass ich gelogen habe? Es scheint fast, als könnte er meine Gedanken lesen. Aber das kann niemand. Niemand, bis auf die weißen Hexenmeister, und er ist keiner. Sonst wäre er nicht hier. Trotzdem fühlte der kalte Blick des Eiswolfs an, als würde er ein Loch in ihn brennen.

  Steif erhob Ravan sich, stürzte seinen Tee herunter und wünschte sich still, es wäre Whiskey. Mit gefrorenen Fingern knöpfte er seinen Mantel auf. Der Wolf ihn ihm regte sich voller Vorfreude. „Wir sollten aufbrechen."


* * *

Bin schon wieder zu spät dran mit posten. Wird langsam zur Gewohnheit.

Eines der ersten Kapitel, die ich für Brotherhood geschrieben habe. Weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, warum eigentlich genau. Aber der Anfang ist irgendwie ganz schön, und es war der Grundstein für das Verhältnis zwischen den Wolfs- und Menschenseelen.

Außerdem, einen guten Rutsch ins neue Jahr! Hebt die Gläser!

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