5. Die Letzte der Blackhearts
Love is blindness, I don't want to see
Won't you wrap the night around me?
Oh, my heart, love is blindness
- Jack White, Love is Blindness
„Schau mal, da drüben. Wie der dich angafft. Der hat sich voll in dich verliebt", kicherte Marie, lehnte sich näher an Roxane und zeigte in die entsprechende Richtung.
Roxane, überrascht vom plötzlichen Themawechsel, warf einen Blick in den Gang, an dem der besagte Mann stand. Sie hatte ihn noch nie gesehen, ein junger, blonder Kerl, wahrscheinlich jünger als sie selbst mit ihren vierundzwanzig Jahren. „Kennst du ihn, Marie?"
Marie zuckte mit den Schultern. „Ich wette, es ist der Erbe des Zafiro-Kartells. Heute war die Bestattung vom alten Alonzo, und jetzt gerade ist eine der Ratssitzungen. Obwohl es durchaus seltsam ist, dass fast die Hälfte der Ratsmitglieder nicht im Saal ist."
Vor kaum einer Minute war den beiden jungen Frauen Ravan Darnovey begegnet, er hatte freundlich gegrüßt und war dann aus der Festung spaziert. Das war schon öfter vorgekommen, Roxane erinnerte sich, dass er ihnen bei fast jeder Versammlung über den Weg gelaufen war. Aber noch ein Kartell-Oberhaupt, das einfach so aus dem Ratssaal ging? Das war ungewöhnlich.
Marie hakte sich bei ihr ein. „Komm, wir gehen zu ihm und machen ihn ein bisschen glücklicher. Wenn er wirklich derjenige ist, für den ich ihn halte, ist heute sein erster Tag hier und sein Vater ist tot, da kann ein Gespräch mit einer so eine hübschen jungen Dame wie dir nur helfen." Sie versuchte, Roxane in die Richtung des Mannes zu ziehen, der immer noch wie verzaubert in ihre Richtung starrte, doch Roxane hielt sie zurück.
„Lass es, Marie. Warum sollen wir das machen? Und woher weißt du, dass er mich und nicht dich anschaut?", sagte sie leise. Sie wollte nicht mit dem Mann sprechen, sondern nur in Ruhe mit Marie durch die Festung spazieren. Doch wie immer hatte sie nicht mit dem abenteuerlustigen, kupplerischen und durch und durch auf Spaß ausgerichteten Charakter ihrer besten Freundin gerechnet.
Marie blieb stehen und sah ihr genervt in die Augen. „Roxane, wie oft muss ich dir noch sagen, du bist wesentlich hübscher als ich. Du hast außerdem einen großen Namen, was wollen die Männer mehr als das?" Mit leiser Stimme und einem wissenden Lächeln fuhr sie fort: „Erfahren bist du auch."
Seufzend musste Roxane sich eingestehen, dass sie recht hatte. Sie war wirklich eine Schönheit, mit ihren langen schwarzen Haaren und ihrer schlanken Figur, die sich durch nichts zum Zunehmen überreden lassen konnte, perfekt zur Geltung gebracht in einem violetten Kleid aus leichter Seide. Anders als die blonde Marie de Tracy, die immer auf ihr Gewicht achten musste. Die beiden kannten sich seit ihrer gemeinsamen Kindheit auf der Dunkelwacht, und schon damals hatte Marie eine verhängnisvolle Liebe zu Kuchen und Süßigkeiten gehabt. Ihr beeindruckendes Dekolleté schien das Mieder ihres grünen Kleides sprengen zu wollen.
Seit sie die Dunkelwacht verlassen hatte, gab es einen nie versiegenden Strom der Bewunderer für Roxane, doch sie wies sie alle ab. Sie hatte ihre wahre Liebe schon gefunden, und deswegen hatte sie nicht die geringste Lust, mit dem Fremden zu reden, ob er nun der Bruderschaft angehörte oder nicht. „Marie, bitte lass uns gehen. Du weißt, dass ich nicht an ihm interessiert bin", bat sie, doch Marie zog sie unaufhaltsam in die Richtung des Mannes.
„Ich weiß. Aber es geht nicht darum, dass du an ihm interessiert bist, sondern darum, dass er es ist, und es wird dem armen Kerl besser gehen, wenn du kurz mit ihm redest", sagte Marie entschlossen.
Schicksalsergeben ließ Roxane sich bis zu dem Mann schleppen. Als sie näher kamen, erkannte sie, dass der Mann wirklich zu ihr sah und nicht zu Marie, denn er sah immer an der Blonden vorbei zu ihr.
„Guten Tag, Myladys", brachte er stockend hervor.
Eine kurze Sekunde lang schien Marie von Roxane zu erwarten, dass sie antwortete, aber Roxane stieß ihr leicht den Ellenbogen in die Seite. Du hast uns das eingebrockt, du redest zuerst mit ihm! Marie bedachte sie mit einem strafenden Blick und antwortete.
„Guten Tag, Mister!", sagte sie gut gelaunt. „Mir ist leider euer Name entfallen, wenn Ihr ihn mir bitte in Erinnerung rufen könntet?"
„Mein Name... ist Nicolas. Nicolas de Oro", sagte er abwesend, während er mit leuchtenden Augen auf Roxane starrte. Nach einem kleinen, sehr seltsamen Moment, in dem alle unbehaglich schwiegen, fügte er hinzu: „Und wer seid Ihr, wenn ich mir die Frage erlauben darf?"
Nein, dürft Ihr nicht, dachte Roxane. Sie wollte nichts anderes, als das Gespräch zu beenden und in ihre Gemächer zurückkehren. Sie hatte im Moment andere Sorgen als einen liebeskranken Lykaner!
„Mein Name ist Marie de Tracy, und meine liebreizende Begleiterin", Marie machte eine kleine Kunstpause, „ist Roxane Blackheart, die Letzte des untergegangenen Blackshore-Kartells."
„Sehr erfreut", sagte Nicolas vorsichtig. „Eine schreckliche Tragödie, nicht wahr?"
Roxane schnaubte genervt. Wie oft muss ich diesen Satz noch hören, wenn es um mein Erbe geht? Es ist lang her, und ich war damals noch nicht mal geboren. Mein Vater ist nicht von meinem Blut, sondern derjenige, den ich als meinen Vater ansehe, und das ist Ben.
Sie hatte genug. War der Junge zwar gutaussehend, so war er wie jeder andere ihrer Verehrer eine Katastrophe. Der Tod meines leiblichen Vaters, eines wahnsinnigen Mörders, der Untergang eines gewalttätigen, kriegstreibenden Kartells, welch eine Tragödie!
Marie kannte ihre Ansicht zu diesem Satz und bedachte sie mit einem warnenden Blick, doch Roxane ignorierte sie. „Ja, furchtbar. Ganz und gar schrecklich. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet", sagte sie hart, dann wandte sie sich um und rauschte mit wallenden Röcken davon. Marie rief ihr hinterher, doch sie beachtete sie nicht.
Im Laufschritt hetzte sie durch die Gänge, bis sie die Tür zu ihren Privatgemächern erreicht hatte. Sie schloss die Tür auf, ging ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Sie liebte Marie, sie war ihre beste Freundin, ihre Seelenverwandte, Trösterin und Schwester in einem, aber manchmal war sie eine Katastrophe.
Sie ließ ihre Gedanken schweifen und kam ungewollt auf ihren neuen Verehrer. Nicolas de Oro. Noch einer unter hunderten Verehrern. Dabei habe ich Madrid, und er ist der einzige Mann, den ich wirklich brauche.
Sie war beinahe in ihren Gedanken versunken und eingeschlafen, als Marie ins Zimmer platzte. „Roxane Blackheart!", rief sie halb wütend, halb amüsiert, „wie konntest du nur davonrennen? Er ist über beide Ohren verliebt in dich, und er hat mich gefragt, ob ich ein Treffen arrangieren kann. Was glaubst du, was ich gesagt habe?"
„Hoffentlich nein, oder?" Roxane starrte ihre Freundin an und fürchtete das Schlimmste.
Marie ließ sich neben sie aufs Bett fallen und grinste diabolisch. „Ich habe gesagt, dass ich schaue, was sich machen lässt."
Roxane atmete erleichtert auf. Das bedeutete, dass Marie nichts weiter tun würde, um sie mit De Oro zusammenzubringen.
„Abgesehen davon, dass er genauso dumm ist wie fast alle anderen Männer, die etwas mit dir zu tun haben wollen, und dich nach deinem Erbe fragt, wie findest du ihn? Er sieht gut aus und er ist so verliebt in dich, dass er wahrscheinlich selbst über deine Schüchternheit hinwegsieht", meinte Marie und rollte sich zu Roxane herum.
Roxane lächelte sie an. „Du hast recht. Aber du weißt ganz genau, dass ich nur für einen einzigen Mann etwas empfinde."
Jetzt war es an Marie, ihr ein vielsagendes Lächeln zuzuwerfen. „Madrid Yarrow."
Roxane nickte.
„Was war eigentlich gestern, dass du schon so früh wieder zurück warst?", rollte Marie das Gespräch wieder auf, das sie geführt hatten, bevor sie Nicolas de Oro begegnet waren.
Roxane seufzte. „Er war nicht da. Ich habe sogar den Wirt gefragt, und der hat gesagt, dass er morgen wieder da ist."
„Wie, er ist nicht da? Du bezahlst ihn doch immer noch, oder hast du inzwischen seine Bezahlung ausgesetzt?"
„Nein, natürlich nicht. Er war einfach nur nicht im Gasthaus", sagte Roxane bemüht locker, doch sie sorgte sich schon um den Verbleib ihres Geliebten. Was ist, wenn er weg ist? Mit all dem Geld, das ich ihm gegeben habe?
Marie sah verlegen auf Roxanes bestickte Decke und zupfte an einem losen Faden herum. „Roxane, du weißt schon, dass man seine Geliebten normalerweise nicht mit Geld zum Bleiben überreden muss, außer, man ist wirklich hässlich? Und weil du das nicht bist, macht mir das schon Sorgen."
Roxane wusste es. Sie wusste es ganz genau, aber sie liebte Madrid und war sich sicher, dass er sie auch liebte, trotzdem würde er ohne das Geld nicht in der Stadt bleiben. Allerdings wusste sie auch den Grund dafür. „Ich muss es ihm zahlen, weil er sonst immer wieder gehen müsste, um Geld zu verdienen. Und dafür müsste er kämpfen und sein Leben aufs Spiel setzen, und ich kann ihn nicht verlieren." Allein den Gedanken daran ertrug sie nicht.
Marie zog eine mürrische Grimasse. „Hast du schon mal versucht, ihm nichts mehr zu zahlen?"
„Ja. Er ist verschwunden, und ist einen Monat später wiedergekommen, blutverschmiert und voller Narben. Er hat mir gesagt, dass er in Manastar war und ein paar Jé-Rouge bekämpfen musste, die den Baron von Manastar gestört haben, und dass ich, wenn er nicht alle paar Wochen verschwinden soll, ihm weiterhin das Geld zahlen sollte."
Jetzt klang Marie verärgert. „Das hört sich fast unterdrückend an. Roxane, er hat mehr Kontrolle über dich, als du dir eingestehen willst. Du gibst ihm das Geld, weil du es ohne ihn nicht aushältst, aber du musst das können. Lass ihn einige Zeit lang aus der Stadt, und wenn er zurückkommt, dann weißt du, dass er dich wirklich liebt."
„Ich bin nicht von ihm abhängig!", schrie Roxane. „Er liebt mich, und ich liebe ihn. Natürlich würde er zurückkommen!"
Marie zog zweifelnd ein Augenbraue hoch. „Sicher?"
„Ja!", fauchte Roxane. Sie ist meine beste Freundin, aber da sollte sie sich etwas zurücknehmen. Er liebt mich, das hat er gesagt, und zwar mehr als einmal!
„Wirklich?", hakte Marie nach.
Ja, bin ich, und jetzt lass die Fragerei und hau ab!, wollte Roxane antworten, als sie ihre Worte überdachte. Würde er zurückkommen? Ich weiß es nicht. Wir sind seid vier Jahren zusammen, aber ich weiß so wenig über ihn. Ich weiß nicht, ob er zurückkommen würde, aber ich will es nicht versuchen, weil ich mich ohne ihn sofort von einer Klippe stürzen würde.
Seufzend antwortete sie: „Nein. Aber ich will es nicht versuchen, weil ich ohne ihn nicht leben kann. Ja, vielleicht bin ich abhängig von ihm, aber ich will es nicht ändern, und ich kann es auch nicht. Du hast mir damals vor fünfzehn Jahren schon geraten, ihn zu vergessen, aber ich habe es nie geschafft. Aber vielleicht wollte ich das auch nie."
Marie nahm sie in den Arm. „Hach, Darling, der Kerl wird eines Tages dein Untergang sein."
Roxane starrte sie besorgt an. „Glaubst du das wirklich?"
„Ja, das glaube ich wirklich. Die kleine Prinzessin und der Söldner, wann ist das jemals gutgegangen?"
„Ich...kann mich nicht erinnern", sagte Roxane traurig. Ich will nicht, dass unsere Liebe endet. Niemals. Ich will nicht mal daran denken, dass sie eines Tages vorbei sein könnte.
Marie grinste. „Aber, bis der Untergang da ist, kannst du ihn meinetwegen hier in der Stadt behalten. Du liebst ihn?"
Roxane nickte. „Ja."
„Dann glaub auch weiterhin daran, dass er dich liebt. Denn solange wir nicht in seinen Kopf schauen können, weiß niemand, ob seine Liebe nur ein Spiel oder die Wahrheit ist. Und ich hoffe für dich, dass er dich wirklich liebt, weil ich beim besten Willen keine Lust darauf habe, dass ich dann deine Überreste von den Pflastersteinen unter dem Turmfenster aufkratzen muss", sagte Marie mit einem schelmischen Grinsen.
„Hoffe ich auch", sagte Roxane, allerdings ohne einen amüsierten Unterton.
„Und nur so nebenbei, glaubst du, er betrügt dich?", setzte Marie hinzu.
Entschlossen schüttelte Roxane den Kopf. „Nein. Nicht mich. Da bin ich mir sicher."
Marie grinste wieder. „Ich hoffe wirklich für dich, dass es wahr ist."
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