37. Die Stadt der Schiffe

I'm a princess cut from marble, smoother than a storm

And the scars that mark my body, they're silver and gold

My blood is a flood of rubies, precious stones

It keeps my veins hot, the fires find a home in me

I move through town, I'm quiet like a fight

And my necklace is of rope, I tie it and untie it

- Lorde, Yellow Flicker Beat


Bemüht unnahbar und forsch ging Marie durch die Port Vengeance. Fackeln und Feuerkörbe erhellten die Wege, die zwischen den teilweise neuen, meist jedoch halb verrotteten Schiffen hindurchführten. Leichen, Fässer und anderer Müll trieben im dreckigen Wasser zwischen den Schiffen. Gelächter und laute Musik dröhnten aus verfallenen Hecks und tausende Menschen, Krieger und andere Kreaturen bevölkerten die Stege.

Ein Schwarzer Hexenmeister stakste an Marie vorbei, mit den dürren Beinen eines Drachen und Flügeln, die an die einer gigantischen Libelle erinnerten. Dunkler Rauch wallte hinter ihm her wie die Schleppe eines grausamen Kleides. Seltsame Tentakeln wuchsen aus seinem Rücken, und eine Reihe Augen an seinem Hals starrten sie an. Ängstlich zog Marie den Kopf ein und wandte angeekelt und nervös den Blick ab.

Noch nie hatte Marie eine Stadt wie Port Vengeance gesehen. Sie bestand aus Holz, eine gigantische Stadt aus Schiffen auf dem Meer. Fregatten, Galeonen, Fleuten, Naos, Galeassen, kleine Fischerkähne, ein paar vereinzelte Langboote der Vintas, alle zusammengetäut, mit Stegen und fadenscheinigen Hängebrücken verbunden und so zu einem einzigen verworrenen Haufen vermischt. Marie ging durch ein Labyrinth aus aufragenden Bordwänden, ausgeschlachteten Schiffsbäuchen und schier bis in den dunstigen Himmel reichenden Masten. Nur selten sah man ein anderes Material als fauliges Holz, manchmal ein paar wenige Steine, mit denen man die Schiffe, die durch das ewige Wasser, auf dem sie lagen, immerzu angefressen wurden, stabilisiert hatte.

Doch was Marie wirklich beeindruckte, war die Bevölkerung der Stadt Auf Dem Meer.

Es gab kein Volk, von dem Marie bisher nicht schon einen Vertreter gesehen hatte. Menschen in schweren Rüstungen. Zentauren, über und über bedeckt mit Tätowierungen, galoppierten über die schmalen Holzwege und stießen alle anderen zur Seite, wenn sie nicht intelligent genug waren, den Weg von selbst zu räumen. Betrunken Hybriden in finsteren Ecken. Bettelnde Pantheras, die im geöffneten Bauch eines Schiffes saßen und die Passierenden mit wüsten Beschimpfungen und Messern um ihr Geld zu erleichtern versuchten. Stolze Söldner in Uniformen und Abzeichen ihrer Kompanien, die sich stets zu bekriegen schienen. Reinrassige Krieger, die trotz ihres edlen Blutes heruntergekommen und müde aussahen wie alles in der Stadt, und immer noch den Kopf aufrecht hielten, als wäre es das einzige, das sie vor dem Ertrinken in der schmutzigen, grausamen, pulsierenden Stadt bewahrte. Wenn Amostown ein Klumpen Dreck ist, ist Port Vengeance das Erbrochene der Götter. Stinkend, nass, schleimig, voller Ausgestoßener und dem Abschaum der Welt, dachte Marie voller Ekel, Verachtung und Faszination. Selbst die Wölfin schien beeindruckt.

Port Vengeance war das grausame Gegenteil zu ihrem relativ bequemen Leben auf dem Schiff. Nachdem sie die Besatzung zum Ändern des Kurses überredet hatte, hatte sie sich von dem Vorräten im Schiffsbauch ernährt. Wasser, mit Zitrone versetzt, Pökelfleisch und rohes Gemüse waren ihre Rettung gewesen. Zunächst hatte sie überlegt, ob sie noch jemanden töten sollte, aber sie beschloss, sich dies für den Fall aufzuhalten, wenn die Mannschaft ihren Befehlen nicht folgte. Doch die Angst der Männer vor dem Seewolf war groß genug gewesen, dass sie sich kaum noch in den Laderaum hinab wagten, und all ihre Anweisungen ohne Widerrede befolgten.

Als sie schließlich die Stadt erreicht hatten, hatte Marie das geruhsame Leben beinahe lieb gewonnen. Sie konnte essen, so viel sie wollte, brauchte sich um nichts zu kümmern und konnte die ganze Zeit schlafen, nachdem sie die Männer angewiesen hatte, ihr eine Matratze zu bringen. Zwar schlief sie selten tief, weil sie befürchtete, entdeckt zu werden, doch es war doch sehr bequem gewesen. Ein Leben als Seewölfin auf einem Schiff, von allen Männern geliebt und gefürchtet, Roxane an meiner Seite, das würde mir gefallen.

Doch Roxane war der Grund, warum sie sich nicht einfach zurücklehnen konnte und für alle Ewigkeit die Meere befahren würde. Sie musste in Port Vengeance nach der mysteriösen Person suchen, die ihr einen Weg zu Roxanes Rettung versprochen hatte. Ein Weg, der dir noch nicht offensteht.Die ganze Zeit über hatte sie sich den Kopf über den Worten zerbrochen, sie hatte sogar versucht, die Präsenz des alten Mannes zu finden und sie zur Rede zur stellen. Doch weder hatte sie ihn gefunden, noch konnte sie sich den Weg vorstellen, den er ihr eröffnen würde.

Trotzdem hatte sie sich vorgenommen, den Mann zu finden. Bei ihm zu lernen. Und am Ende würde sie Roxane retten.

Am Abend ihrer Ankunft hatte sie sich unbemerkt von Bord geschlichen, eingehüllt in Kleidung, die sie von den Männern bekommen, im Austausch gegen ein paar finstere Drohungen in ihrer halb menschlichen, halb wölfischen Gestalt. Sie schickte alle Männer von Bord, verließ das Schiff, und mischte sich unter die Menge.

Sie war keine drei Minuten unterwegs gewesen, als sie verzweifelt war. Wie sollte sie in diesem Mob einen alten Mann mit starken mentalen Kräften finden? Sie hatte versucht, sich in die Gedanken anderer einzuschleichen, wie sie es einst in einem Buch über Weiße Hexenmeister gelesen hatte, doch sie spürte nicht eine einzige geistige Gegenwart. Nur das aggressive Bewusstsein der Wölfin.

Schließlich beschloss sie, dass der alte Mann sie finden sollte, wenn er sie so unbedingt haben wollte. So lange wollte sie durch die Stadt streifen, und sich durchfragen, nach etwas, was auf den Mann hinwies.

Leider stellte sie schon bald fest, dass sie nicht den Mut hatte, die Söldner, die Süchtigen, die Hexenmeister und all die anderen auch nur freundlich zu grüßen. Nun schlich sie nervös durch die unbekannte Stadt, und hoffte, dass sich die Präsenz wieder zeigen würde.

Vor einem der hell erleuchteten Schiffe blieb sie stehen. Es roch köstlich, nach gebratenem Fleisch und alkoholischen Getränken, nach Schweiß und Menschen und Tieren. Die Wölfin und ihre Magen knurrten verlangend, und mit einem Seufzer betrat sie den schwimmenden Pub.

Wie eine Welle schlug das Getöse des Raumes über ihr zusammen, kaum dass sie einen Fuß durch die kaputte Tür gesetzt hatte. Innen war der Geruch nach Salz, fauligem Holz, Essen und stinkenden Menschen und Kriegern noch stärker. Sie spürte, wie sich die Wölfin an sie schmiegte, direkt unter ihrer Haut, und genoss die Sicherheit, die das Gefühl verströmte. Es vertrieb ein wenig die bohrende Angst vor den Männern, die sie mit gierigen Blicken anstarrten.

Als ein Minotaurus neben ihr betrunken von einem Stuhl fiel, nahm sie seinen Platz ein. Bei einem vorbeilaufenden Panthera bestellte sie einen Krug Wein und etwas zu essen, und bekam einen unergründlichen bräunlichen Eintopf. Nach all den Wochen des Pökelfleischs war ihr etwas Abwechslung jedoch sehr willkommen. Der Wein war sauer und schmeckte widerlich, ganz anders als die teuren subatischen Tropfen, die sie gewöhnt war, doch sie trank, ohne sich zu beklagen.

Nachdenklich löffelte sie die Schale mit dem Eintopf aus. Glaubst du, der alte Mann wird uns finden?

Die Stimme der Wölfin war voller Zuversicht. Ja. Er hat gesagt, wir sind seine letzte Hoffnung.

Da hast du recht. Sie schwieg für einen Moment. Aber wenn er uns wirklich so dringend brauchen würde, hätte er nicht schon längst nach uns gesucht?

Bedenke, welche Zeit wir haben. Es dürfte kaum eine Stunde nach Mitternacht sein. Er ist ein alter Mann, der im Sterben liegt, und schläft wahrscheinlich.

Überhaupt, wo sollen wir schlafen? Sie hatte immer vermutet, dass der Mann sie sofort finden würde, und er ihr einen Platz zum Übernachten anbieten würde. Doch nun... Sie verfluchte die Tatsache, dass sie vergessen hatte, auf dem Schiff nach Geld zu verlangen. Aber ich war mir so sicher...

Er wird sich schon zu Wort melden. Am Ende der Nacht hat er uns gefunden.

Marie seufzte tief, bestellte sich einen weiteren Krug Wein und wartete.

Minuten wurden zu Stunden, Stunden zu gefühlten Jahren. Sie wurde immer müder, ihr Kopf sackte auf ihre Brust, während sie immer und immer wieder einnickte, doch die Wölfin hielt sie wach. Sie wusste, dass mittlerweile der Tag angebrochen sein würde, doch das Schiff war immer noch voller streitender, scherzender lachender und sich prügelnder Krieger. Die Spielmänner sangen unermüdlich weiter, ohne jede Pause, und Marie vermutete, dass es mehrere Gruppen waren.

Sie wusste nicht, wie lange sie gewartet hatte, als ein grobschlächtiger Drakonier auf die Tresen der Bar stieg und mit donnernder Stimme und starkem Akzent verkündete, dass die Taverne nun schließen würde. Mürrisch verließen die Gäste den Pub.

Marie erhob und streckte sich, schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Schwerfällig und resigniert ließ sie sich zurück in den Stuhl fallen. Der alte Mann hatte immer noch kein Lebenszeichen von sich gegeben. Wut und Enttäuschung flammten träge in ihrer Brust auf. Ich gehe. Ich verlasse diese elende Stadt und suche mir noch heute ein Schiff nach Westen.

Tu es nicht! Vielleicht...

Kein Vielleicht. Er wird uns nicht finden, nicht hier. Wir gehen und kommen nie wieder zurück.

Aber...

Sei still.

Entweder war sie verwirrt oder erschrocken, oder sie nahm sich Maries Anweisung zu Herzen, und die Wölfin schwieg.

Marie erhob sich und wollte gerade gehen, als ihr etwas einfiel. Ich habe nichts, um zu bezahlen!

Als ob das ein Problem wäre. Der Tonfall der Wölfin war wieder sorglos.

Was soll ich denn tun, deiner Meinung nach? Jemanden umbringen und bestehlen? Vor all den Leuten?

Die Wölfin kicherte verschlagen. Du musst nur zu mir kommen, und niemand wird es auch nur wagen, dir ein Haar zu krümmen.

Die Leute hier haben Waffen. Sie sah zu einer Gruppe Söldner, die an der Bar herumlungerten und immer noch lauthals das Lied mitgrölten, das die Spielmänner sangen.

Die Wölfin knurrte missbilligend. Bedrohe jemanden. Unauffällig.

Wie?

Bilder flackerten durch Maries Kopf, und sie wusste, was die Wölfin meinte. Mit einem hinterhältigen Lächeln griff sie nach einem Shilling, den der junge Sobekkrieger ihr gegenüber in den Händen drehte.

Kaum hatte sie ihn zwischen den Fingern, schrie er wütend auf und griff nach seiner Waffe, doch Marie war schneller. Ihr Kopf verwandelte sich knirschend in den der Wölfin und sie schnappte mit einem unheilvollen Knurren nach den Händen des Mannes. Hastig zog er die Hände zurück und stolperte voller Entsetzen durch die Menge davon. Mit pochenden Kopfschmerzen, aber für einen Moment lang zufrieden mit sich selbst, bezahlte Marie ihre Rechnung, dann steckte sie missmutig und traurig die Hände in die Jackentaschen und schlurfte erschöpft aus dem Pub.

Sie war noch nicht weit gekommen, als sie aufgehalten wurde. „Hey, Mädchen! Hey! Warte!"

Zuerst beschleunigte sie ihre Schritte, doch dann packte sie jemand an der Schulter und sie sah sich um. Vor ihr stand ein junger Mann mit schmutzigen dunkelblonden Haaren und einem freundlichen Lächeln, das seine schiefen Zähne zeigte. „Hey. Ich bin gerade eben auf dich aufmerksam geworden. Du bist eine Schwester des Lykaon, nicht wahr?"

Marie nickte skeptisch. „Ja. Warum?"

„Von welchem Rudel?"

„Das geht dich wirklich nichts an", schnaubte sie gereizt.

Er hob entschuldigend die Hände. „Tut mir leid, ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten. Aber... du bist ganz schön weit weg von zuhause, und ich segle heute Abend mit der Crew der Naga nach Amostown... du kannst mit uns kommen, wenn du willst."

„Woher weiß ich, dass du mich nicht in der nächstbesten Gasse vergewaltigst?", zischte sie misstrauisch.

„Du bist eine Lykanerin. Denkst du, dass ich, ein gewöhnlicher Kerl, dich angreifen könnte, ohne es bitter zu bereuen? Wirklich, ich werde dir nichts tun." Er lächelte wieder gewinnend.

Tu's nicht. Mir gefällt das nicht. Die Wölfin schien beunruhigt.

Sei still. Du willst nur, dass wir auf den alten Mann warten. Er wird uns nicht finden. Jetzt bleibt uns nur ein Weg, wenn wir nicht so enden wollen wie all die anderen heruntergekommenen Gestalten von Port Vengeance. Wir verlassen die Racheinseln und gehen nach Crusadia zurück. Wir rächen uns an Maura, reißen dieser elenden Schlampe die Kehle heraus, und dann retten wir Roxane vor der Bruderschaft. Das ist es, was wir tun müssen.

Wir müssen gar nichts. Wir haben immer die Wahl.

Und das ist die Wahl, die ich treffe.

Die Wölfin schwieg, doch Marie spürte ihr Unbehagen, und es machte sie nervös. Wütend schob sie das Gefühl zur Seite. „Ich komme mit dir. Danke." Ich bezahle ihn, wenn wir zuhause sind.

„Dann folge mir." Er lächelte, und sie folgte ihm in das Gewirr der Schiffe.

Sie bogen mehrere Male in dunkle Gassen ab, eingeklemmt zwischen Bordwänden. Durch die Öffnungen für die Kanonen sah sie schlafende Kriegerpferde, angekettete Sklaven, eine Art Spielhölle, in der sich ein paar Krieger über einem Würfelspiel prügelten, Messer und Totschläger blitzten im fahlen Licht der Kerzen, und Marie wandte erschrocken den Blick ab. Schnell warf sie einen misstrauischen Blick zu dem jungen Mann, der unermüdlich vorweg lief. Will er mir vielleicht doch etwas Böses? Sie sah zurück. Nein, dann hätte er es längst getan, wir sind schon durch hunderte solcher Ecken gegangen. Niemals hätte er dann bis jetzt gewartet.

Oh, es gefällt mir immer noch nicht, wisperte die Wölfin.

Sei still.

Sie stiegen eine schmale Leiter an einer Schiffswand hinauf, über das durchlöcherte Deck. Marie entdeckte zwei Männer in einer mit Sand ausgestreuten Grube unter Deck kämpfen, Blut tropfte, Waffen schimmerten träge, und die Menge, die Marie zwar nicht sehen, aber dennoch hören konnte, grölte laut. Für eine Sekunde lang fürchtete sie, der Mann wollte sie an eine Arena verkaufen, wie es mit Ikaria und den anderen Sklaven in Punto Alegre passiert war, doch als sie sah, wie der Mann auf der anderen Seite des Schiffes auf sie wartete und keinerlei Anstalten machte sie unter Deck zu führen. Schließlich betraten sie eine weitere Gasse. In weiter Ferne, wo die beiden Schiffe, zwischen denen sie durchgingen, aufhörten, sah Marie das offene Meer und Schiffe, die nicht schon längst halb verfallen waren. Nein, es waren seetüchtige Schiffe, die sie nach Hause bringen würden. Voller Vorfreude beschleunigte sie ihren Schritt.

Zu spät sah sie den Knüppel, der auf ihren Kopf zuflog. Mit Wucht traf er sie an der Stirn. Sie japste einmal erschrocken, wollte um Hilfe rufen, doch die Schwärze umfing sie wie ein Leichentuch. Das letzte, was sie hörte, war das wütende Geschrei der Wölfin, das in ihrem Kopf widerhallte.

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