33. Der Seewolf

A flimsy shift on a bunker cot

With a thin dirk slot through the bosom spot

And the lace stiff dry with a purplish blot

Oh, was she a wench, some shuddering maid

That dared the knife and took the blade

By God, she was tough for a plucky jade

Yo-Ho-Ho and a bottle of rum!

- Abney Park, The Derelict


Sie erwachte, weil über ihr Schritte und Rufe laut wurden. Der Boden neigte sich, und ihr war etwas schwindelig. Dumpf schlugen Wellen gegen die hölzerne Bordwand. Ich bin wieder im Laderaum des Sklavenschiffs!, war ihr erster panischer Gedanke, doch dann sah sie, dass ihre einzige Gesellschaft aus Fässern, Seilen und anderen Gütern bestand. Beruhigt legte sie den Kopf wieder auf den Vorderpfoten ab.

Eine Sekunde lang erwog sie, sich zurückzuverwandeln, doch sie hatte keine Kleidung und als nacktes Mädchen auf einem Schiff war sie nicht sicher. Auf dem Sklavenschiff hatte sie wenigsten noch Maura Ithakeas Schutz gehabt, damit sie unversehrt in Punto Alegre ankam, doch hier war sie vollkommen schutzlos. Als Wölfin würde niemand ihr etwas antun, solange sie nicht entdeckt würde.

Müde dachte sie an die Stadt, aus der sie geflohen war. Keine Seele würde sie vor Mauras oder Hassilas Häschern beschützen. Was jetzt aus der Vogelscheuche wird? Sie war sich sicher, wenn Maura erfahren würde, dass sie entkommen war, würde sie die Mistress töten lassen. Marie war ein wichtiger Fang für Maura gewesen.

Für einen Moment lang flammte Mitleid in ihr auf, doch es wurde von anderen Gefühlen überrannt. Hunger regte sich, und das Verlangen nach einer anständigen Mahlzeit. Seit sie Roay getötet hatte, hatte sie nichts mehr gegessen, und die zwei Bissen, die sie genommen hatte, waren zu wenig gewesen. Zwar hatte sie auf dem Schiff gegessen, das sie zu den Racheinseln gebracht hatte, aber es waren nur wenige Löffel voll Haferschleim gewesen, die sie nicht gesättigt hatten. Doch damals hätte sie so oder so nicht mehr runterbekommen. Zu groß war ihre Angst gewesen.

Doch jetzt fühlte sie sich eigenartig furchtlos. Warum, wusste sie nicht. Sie war eins mit der Wölfin, das alle menschlichen Gefühle etwas abschwächte, doch das war nicht der einzige Grund. Ich habe einen Mann getötet, mit voller Absicht. Es war zwar nicht das erste Mal, aber das erste Mal, dass ich damit auch etwas erreicht habe, nämlich meine Flucht. Es gab ihr ein seltsames Gefühl, es mit der ganzen Welt aufnehmen zu können. Wie konnte ich jemals an mir zweifeln?

Zufrieden mit sich selbst streckte sie sich, gähnte ausgiebig und erhob sich langsam. Schwerfällig stemmte sie sich auf die Pfoten und schüttelte sich den Schlaf aus dem Fell. Dann sah sie sich um. Durch die Luke, die hinauf auf das Kanonendeck führte, fiel ein fahler Streifen gelbes Licht hinein, und Schatten huschten daran vorbei. Männer brüllten, Schritte dröhnten dumpf auf den Planken. Im Zwielicht erkannt sie die Fracht, diverse Ballen Stoff, Kisten und Fässer, auf denen etwas geschrieben stand. Sie kannte die Worte nicht, doch der Geruch kam ihr vage bekannt vor. Kurz war sie versucht, sich zurückzuverwandeln, um die Aufschrift lesen zu können, doch sie entschied sich dagegen.

Beinahe geräuschlos schlich sie durch die Ladung des Schiffes, auf der Suche nach etwas, das sie essen konnte, als plötzlich Schritte auf der Treppe zum Laderaum zu hören waren. Marie zuckte zusammen und huschte zurück in ihr Versteck hinter den Kisten.

Ein blonder Mann betrat den Laderaum, pfeifend schlenderte er durch das Chaos, hob eine Kiste an und öffnete eine andere. Er stieß einen leisen Fluch aus und versuchte, die Schrift auf einem Fass zu entziffern. Mit einem unwilligen Schnauben fand er schließlich, was er suchte: einen unförmigen Sack, den er schulterte und in Richtung der Luke trug.

Als er Maries Versteck passierte, roch sie ihn. Salz, Schweiß, Dreck, Teer und Meeresluft, köstliches Essen und warmes, pulsierendes Blut. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen und der Hunger schlug seine Krallen mit eisiger Macht in ihr Bewusstsein. Ohne einen weiteren Gedanken sprang sie ihn an.

Der Mann hatte kaum die Gelegenheit, sein Messer zu ziehen, als die goldene Wölfin ihn angriff. Mit einem gierigen Knurren versenkte sie ihre Zähne in seinem Hals, und sein Schrei endete in einem Gurgeln, als das Blut in seine Luftröhre floss. Dumpf fiel sein Körper zu Boden, sein Leben floss aus ihm heraus, durchnässte seine Kleidung und bildete eine rubinfarbene Pfütze auf den Planken. Hungrig riss Marie große Brocken aus seinem Körper, das Aroma des Blutes kitzelte auf ihrer Zunge und sie spürte, wie etwas in ihrem Bewusstsein wuchs. Es war ein wildes, dunkles Gefühl, als würde sich eine Decke aus schwarzem Seidenstoff um sie legen. Fremdartig, aber angenehm.

Sie wusste nicht, wie lange sie gefressen hatte. Der Leichnam des Mannes war ein einziges Massaker aus Fleischfetzen und Blut. Sein Brustkorb lag frei, große Brocken des Bauches fehlten. Der Inhalt des Sackes, den der Mann hatte fallen lassen, als sie ihn angegriffen hatte, lag verstreut um ihn herum, gelbbraune Knollen, die Marie einzuordnen versuchte.

Als es ihr nicht gelang, stutzte sie. Sie wusste, sie kannte sie, doch das Wort fiel ihr nicht ein. Diese Dinger, wie heißen sie, ich kenne sie genau. Ich kenne ihren Namen. Warum fällt es mir nicht ein? Frustriert strich sie um den Toten herum, ihre Pfoten hinterließen blutrote Abdrücke auf den Holzplanken. Doch so sehr sie versuchte, sich an den Namen zu erinnern, desto mehr schien er in Vergessenheit zu geraten. Stattdessen fand sie, dass es sie nicht zu kümmern hatte. Sie war eine Wölfin, was scherten sie ungenießbare Pflanzenteile?

Plötzlich spürte sie, wie etwas in ihrem Kopf aufschrie, und sie hörte Jeans Worte in ihren Gedanken widerhallen. Denke stets daran, den Wolf nicht alle Kontrolle zu lassen. Sonst bleibst du für immer einer!, brüllte ihr Bruder. Sie zuckte zusammen und lief schnell zurück in die Dunkelheit zwischen die Ladung. In ihr fochten die Angst, als Mensch von der Mannschaft entdeckt zu werden, und die Panik, ihre Menschlichkeit vollends zu verlieren, einen erbitterten Kampf aus.

Schließlich gewann ihre Angst vor dem ewigen Abgrund. Wütend stemmte sie sich gegen die Wolfsgestalt und spürte, wie die Wölfin sie enttäuscht losließ. Die perfekte Einigkeit wurde zu einer kalten Einsamkeit, und der Abgrund in ihrem Kopf heulte gequält auf. Ihre Knochen ächzten, als sie sich im Schmerz kurz zurücktreiben ließ und sie spürte ihr Fell über ihre Haut flackern. Sie konnte sich nur mit Mühe einen gepeinigten Schrei verkneifen, doch der hätte die gesamte Mannschaft des Schiffes auf den Plan gerufen. Die warme Umarmung der wölfischen Sinne zog sich zurück, und zurück blieb die bleierne Kühle des Laderaums. Müde und ausgelaugt lag sie auf den Planken, ihr Körper war blutverschmiert und klebte.

Als sie sich nackt erhob und versuchte, den summenden Nachschmerz zu vertreiben, wusste sie den Namen der Knollen wieder. Kartoffeln. Ich habe tatsächlich vergessen, was Kartoffeln sind. Mir wurde immer gesagt, wie gefährlich der Abgrund sein kann, aber ich habe nie gedacht, dass er so verführerisch ist.

Sie merkte, wie sich die Wölfin hinter ihrer Stirn verletzt rührte, aber gleichzeitig spürte sie einen unbändigen Stolz auf sich. Das hast du gut gemacht. Wie du den Mann im Bordell umgebracht, und unseren Hunger besänftigt hast, wie eine wahre Crusader.

Die Wölfin schmiegte sich an sie, und sie konnte das Fell beinahe fühlen. Es ging ein solches Verlangen davon aus, dass Maries Herz schmerzte. Sie wollte nur noch zurück und eins werden mit ihrer zweiten Natur. Getrennt zu sein war beinahe zu qualvoll.

Doch sie rief sich zur Vernunft und versuchte, das Locken der Wölfin zu ignorieren. Vorsichtig warf sie einen Blick zu der Luke, dann ging sie leise zu dem Toten und sah ihm fasziniert ins Gesicht.

Es war eine einzige Masse aus zerfetztem Fleisch, durch das die hellen Knochen durchschimmerten. Weit aufgerissene Augen starrten sie an, Zähne blitzten durch fehlende Lippen und Wangen im Zwielicht eines Lichtstrahls, als das Schiff krängte. Blaugraue Innereien glänzten durch die aufgerissene Bauchdecke.

Der Anblick ließ sie würgen, und der Geschmack des Blutes lag ihr schwer auf der Zunge. Für einen Moment war sie versucht, sich wieder fallen zu lassen, doch sie beherrschte sich. Das habe ich angerichtet?, fragte sie sich voller Ekel.

Das ist unsere Natur. Wir sind Wölfe. Du bist nur deinen Instinkten gefolgt.

Aber... hob Marie zu einer entsetzten Erwiderung an, doch die Wölfin ließ ihr eine Erinnerung zukommen. Die Wärme ihrer Wolfsgestalt und das dunkle Gefühl durchströmten sie, und Marie zitterte wohlig. Sie erinnerte sich an den köstlichen Geruch des Blutes, der nun schwer und metallisch in der Luft lag, und das Verlangen nach dem Abgrund schrie in ihr auf. Mühsam riss sie sich zusammen.

Plötzlich hörte sie Stimmen über sich, und jemand näherte sich der Luke zum Laderaum. „...bei allen achtzehn Höllen, der Hurensohn kann ja auch gar nichts. Seit fünfzehn Minuten ist er weg. Bei allen Göttern, wenn ich ihn wieder dabei erwische, wie er pennt, dann schleppe ich ihn höchstpersönlich vor den Captain! Er kann bloß froh sein, dass ich sein Freund bin...", murmelte ein Mann aufgebracht.

Marie fuhr zusammen und rannte wieder zurück in die Dunkelheit zwischen die Kisten. Als sie sich versichert hatte, dass man sie von der Luke aus nicht erkennen konnte, hob sie den Kopf und lugte an den Kisten vorbei zu dem Seemann, der sich langsam in Rage redete.

„...nichtsnutziger kleiner Mistkerl, schläft wie die Kartoffeln, die er schälen soll... Ed, bist du da unten? Eddie?" Der Rufende stolperte die Treppen hinunter und stieß ein entsetztes Keuchen aus. „Achtzehn Höllen!", schrie er, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte zurück an Deck. Seine Rufe nach dem Kapitän verklangen.

Die Wölfin kicherte, Marie spürte das Keckern in ihrem Hinterkopf.

Das ist nicht zum Lachen, schalt Marie sie. Er holt den Kapitän und Gewehre, und dann sind wir so gut wie tot!

Die Wölfin gackerte wieder. Jagen wir sie in die Irre!

Wie sollen wir das bitte anstellen?

Spielst du immer noch so gerne deine Rollen, die dir die Rettung vor dem sicheren Tod oder langem, schmerzhaftem Verderben ermöglicht haben?

Marie seufzte. Welche ist es diesmal?

Die des rachsüchtigen Geistes auf dem heimgesuchten Schiff.

Und das soll funktionieren?

Sie spürte die Belustigung der Wölfin. Seemänner sind ein abergläubischer Haufen, hast du das vergessen?

Marie schüttelte langsam den Kopf. Sie erinnerte sich noch zu gut an die Geschichten, die Jean ihr immer erzählt hatte. Sie hatten von Geisterschiffen und untoten Piratenkönigen auf längst vermoderten Galeonen gehandelt, von Seeschlangen, Leviathanen und Meeresdrachen, von Meerjungfrauen und den einsamen Seelen toter Ehefrauen, die von ihren Männern mit der See betrogen worden waren. Sie hatte diese Märchen geliebt.

Was sie ebenfalls erfahren hatte, war, dass es immer ein paar Seeleute gab, die dieses Garn auch glaubten.

Sie lächelte bei dem Gedanken an ihren Bruder. Ich hoffe, ich sehe ihn eines Tages wieder. Heimweh übermannte sie, und Tränen traten ihr in die Augen.

Entschlossen wischte sie sie fort. Sie hatte eine Aufgabe, die sie erfüllen musste, wenn sie am Leben bleiben wollte.

Diesmal näherten sich die Schritte mehrerer Menschen der Luke. „Dann hoffe ich für dich, dass du mich nicht angelogen hast", drohte eine befehlsgewohnte Stimme.

„E...ehrlich, Sir, Eddie ist mausetot, sein ganzer Bauch aufgerissen, sein Gesicht ist weg und überall ist Blut!", stammelte der Seemann ängstlich.

„Aufgerissen? Wie das?"

„Keine Ahnung, Sir! Geht runter und seht es Euch an!"

Der Mann grunzte unwillig, ein Gewehr wurde gespannt, und jemand trat langsam die Treppe hinab. Marie erkannte eine fette Gestalt in einem unförmigen Mantel. Sie hielt ein Gewehr im Anschlag. Ihr folgten drei Männer, darunter der zitternde Kerl, der Maries Werk gefunden hatte.

Mit schweren Schritten trat der Fette auf den Toten zu und stieß ihn mit dem Gewehr an. „Der ist wirklich tot. Tot wie 'n überfahrener Köter", stellte er trocken fest. „Was 'ne Sauerei."

„Sag ich doch!", meldete sich der Seemann. „Er ist tot, und alles ist zerfetzt!"

„Wer macht so etwas?", fragte einer der anderen Männer misstrauisch und zielte nervös mit seinem Gewehr in das Zwielicht.

„Andere Frage, wer kann so etwas?" Der Fette stocherte mit dem Gewehrlauf am Gesicht des Toten herum. „Solche Wunden entstehen durch Bisse, und zwar nicht durch die von Menschen. Sind außerdem zu unsauber für Waffen."

„Jemand könnte Eddie mit Sprengstoff beworfen haben."

„Rede nicht so einen haarsträubenden Unsinn, das hätten wir gehört. Der Koch hat Ed losgeschickt, um die verdammten Kartoffeln zu holen, die hier überall herumliegen, und seit er die Kombüse verlassen hat, hat ihn niemand mehr gesehen, bis jetzt. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, die Wunden sind von 'nem Hund oder Wolf oder so, aber wie bei allen Höllen soll ein götterverdammter Wolf bei uns an Bord sein?"

Zwei Männer wechselten einen unwohlen Blick. „Gestern Abend hat Robert einen Hund bei uns an Bord springen sehen", sagte der eine zögernd.

Marie erstarrte. Jemand hat mich gesehen! Jetzt wissen sie, dass ich nur irgendein Tier bin und erschießen mich.

Warum immer so negativ?, flüsterte die Wölfin süffisant. Du weißt doch noch nicht mal, was der Fettsack dazu sagt. Ohne dass er irgendetwas befiehlt, passiert dir gar nichts.

Aber es ist plausibel!

Die Wölfin schwieg belustigt, und Marie starrte ängstlich auf die Männer, die sich um die Leiche gruppiert hatten.

Der Fette winkte ab. „Robert war sternhagelvoll. Er hat mal eine nackte Frau an Bord springen sehen, als er betrunken war, obwohl es nur Fredericks Specktitten waren, die er hat fliegen sehen. Unsinn. Nie im Leben ist ein Wolf hier an Bord."

Marie verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen und lächelte beinahe siegessicher.

„Dann gibt es nur noch eine einzige Möglichkeit!", rief der Seemann, der die Leiche gefunden hatte, dramatisch.

„Und die wäre?", fragte der Fette und stemmte die Hände in die speckigen Hüften.

„Der Seewolf!"

„Der was?"

„Der Seewolf. Ein ertrunkener Bruder des Lykaon, wie man sich erzählt. Nachdem er der Crew des Salzmeerkönigs beitrat, wurde er zu seinem Ersten Offizier, und seitdem sucht er verfluchte Schiffe heim. Wer ihm nicht gibt, was er verlangt, belegt er die Mannschaft des Schiffes mit einem Zauber, sodass sich nach und nach alle in die Tiefe stürzen, heißt es. Wir sind verdammt!", kreischte der Seemann theatralisch.

„Was redest du, das ist ein dummes Ammenmärchen", versuchte der Fette, ihn zu Vernunft zu bringen, doch seine Angst steckte die anderen an, die sich nervös umsahen.

„Seht nur", rief der eine, „da sind blutige Spuren am Boden. Zu groß für einen normalen Hund."

Das ist dein Einsatz, zischte die Wölfin.

Was soll ich tun?

Komm zu mir. Wir jagen ihnen einen Schrecken ein, den sie so schnell nicht vergessen werden.

Marie seufzte. Ich bin gerade mit Müh und Not von dir weggekommen. Und jetzt soll ich mich wieder in den Abgrund stürzen?

Das Bewusstsein der Wölfin strich an den Rändern ihrer Gedanken vorbei. Nur weil dir einmal etwas schwergefallen ist, willst du nicht zurück?, fragte sie herausfordernd. Das Gefühl der Vereinigung regte sich in ihr, und das Verlangen nach dem Abgrund hob wie ein Schlag das Haupt, ein schmerzhaftes Ziehen in der Herzgegend. Marie schnappte nach Luft.

Egal was du tust, schreie nicht. Du kannst Geräusche machen, aber wenn du sprichst, verstelle deine Stimme. Du hast ihr Märchen gehört... Verhalte dich so wie der Seewolf. Schlüpfe in die Rolle.

Marie ließ zu, dass sich ihr Bewusstsein auf die Wölfin stürzte, und mit einem schauerlichen Knurren vereinigten sie sich. Der Schmerz war beinahe unerträglich. Schreien machte vieles angenehmer, und jetzt, wo sie nicht durfte, drängte sich ihre Stimme fordernd gegen ihre Kehle. Doch sie ließ es nicht zu, und alles, was über ihre Lippen kam, war ein raues, heiseres Grollen. Sie spürte, wie das Fell über ihre Haut huschte, wie ihr Gesicht sich verformte und wie ihre Knochen knackten, wie splitterndes Holz.

Am Rande ihres Bewusstseins vernahm sie die Reaktionen der Seemänner. Klickend wurden Gewehre gespannt, Kleidung raschelte und einer schrie laut: „Es ist der Seewolf! Oh Götter, wir sind verdammt!"

„Unsinn, wahrscheinlich hatte Robert doch recht", gab die Stimme des Fetten zu bedenken, doch sie zitterte voller Zweifel.

Als Marie die Hände zu Fäusten ballte und ihren Willen anstrengte, hielt die Verwandlung an. Das Ziehen in ihren Gliedern wurde zu einem peitschenden Schmerz in ihren Knochen, als ihr Körper auf halbem Wege zwischen Frau und Wölfin gehalten wurde. Abgrund und Menschengestalt zerrten gleichermaßen an ihr.

Sie hatte sich noch nie zur Hälfte verwandelt, sie war stets den ganzen Weg gegangen. Jean war gut darin gewesen, seine Verwandlung anzuhalten und als halb menschliche, halb wölfische Gestalt seine Befehle an das Rudel der De Tracy weiterzugeben. Marie hatte oft versucht, es ihm nachzumachen, doch sie war jedes Mal gescheitert.

Das Gefühl, nicht ganz mit der Wölfin vereinigt zu sein, war merkwürdig. Manchmal hörte sie Gedankenfetzen, die nicht von ihr stammten, doch es gab Sekunden, da waren sie eins. Momente mit den geschärften Sinnen und der Klarheit der Wölfin. Es war beinahe berauschend. Ihr menschliches Wissen und ihr Bewusstsein, kombiniert mit den Fähigkeiten des Abgrundes.

Macht durchströmte sie wie zäh fließende Lava, heiß und tödlich, und sie erkannte, warum es die Bruderschaft des Lykaon geschafft hatte, seit Jahrhunderten die Herrscher über Crusadia zu sein. Sie sog Luft ein, und genoss den blitzenden, süßen Schmerz in ihrer Brust.

Schwer atmend richtete sie sich auf. „Ich... lebe...", krächzte sie heiser, die Stimmbänder nur zur Hälfte menschlich. Wie schwer es ist, zu sprechen.

Ja, es tut... Das Echo der Wölfin zog sich zu Maries Bewusstsein zurück. Ihre Sinne verschärften sich, und Marie taumelte, als sie den Geruch der Angst wahrnahm. Blut. Angst. Schweiß. Salz.

Tod.

„Gebt... mir...", knurrte sie heiser. Mit zusammengebissenen Zähnen suchte sie nach den Worten.

„Was verlangt Ihr, oh Seewolf?", antwortete eine vor Angst hohe Stimme.

„Was ich... suche." Marie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, doch es gelang ihr kaum. Die Wölfin glitt aus ihrem Bewusstsein und flüsterte ihr etwas zu, das sie nicht hörte. Zu sehr war sie damit beschäftigt, nicht gänzlich zu fallen. „Alles, was ich... will, das sollt... ihr mir geben... oder..." Sie bohrte die Krallen in die Planken und kratzte darüber. Das Geräusch ließ selbst sie erschaudern.

Unter den Seemännern brach Panik aus, einer ließ sein Gewehr fallen und rannte davon. Die anderen regten sich unwohl, ihre Stiefel scharrten über das Holz.

„Was verlangt ihr nun? Sagt es und, wir werden Eure Forderungen erfüllen! Nur verflucht uns nicht!" Der Fette fiel mit einem Plumps auf die Knie. „Es sind brave Männer auf diesem Schiff! Wir tun alles, was ihr wollt!"

„Segelt nach..." Amostown, dachte sie, als sie spürte, wie eine fremde Anwesenheit sich in ihren Kopf schob.

Du bist es. Die Stimme eines alten Mannes.

Reflexartig griff Marie an mit ihrer ganzen Kraft und der der Wölfin, doch wie zuvor im Sklavenschiff prallte sie gegen eine undurchdringliche Tür. Sie fühlte sich an wie Stahl. Stahl aus Geisteskraft. Ihre physische Gestalt schwankte. Wer bin ich?, fauchte sie eine angestrengte Antwort.

Meine letzte Hoffnung. Ich sterbe. Ich brauche einen würdigen Erben. Jemanden wie dich.

Wie... mich? Wer bist du? Was willst du?

Komm nach Port Vengeance, und du wirst alles finden, was du brauchst. Selbst einen Weg, um deinen größten Wunsch zu erfüllen. Einen Weg, der dir noch nicht offensteht. Ich werde dich leiten.

Die Aura des fremden Geistes verlor sich, was blieb, was ein Schimmer von Macht, die seine Anwesenheit zurückgelassen hatte. Marie ließ verwirrt ihre Kiefer zuschnappen. Roxane schwebte vor ihrem inneren Auge. Sie spürte die Wahrheit der Worte, und ihre Entscheidung fiel. „Porrrt... Vengeance."

„Ay, Port Vengeance, so soll es sein, oh Seewolf, wir ändern den Kurs sofort. Was verlangt ihr noch?" Die Stimme des Fetten hörte sich an, als würde er bald in Tränen ausbrechen.

Sie spürte eisige Verachtung in sich hochkriechen. „Mantel... und verschwinnnnndet", zischte sie undeutlich. Wieder flog der Gedanke der Wölfin an ihr vorbei, zu schnell, als dass sie ihn fassen konnte.

„Meinen.. Mantel?", stammelte der Fette.

Schluss jetzt mit feinen Worten. „Hast du mich verstanden?", brüllte sie rau, ihre Stimme brannte in ihrem Hals. Ihr Knurren ließ die Planken zittern.

„Ja...Jawohl", stotterte der Fette und befreite sich hektisch aus dem Mantel. Achtlos ließ er das Kleidungsstück zu Boden fallen, dann rannten er und die anderen dröhnend die Treppen hinauf.

Marie wartete einige Sekunden, dann verwandelte sie sich zurück. Erschöpft ließ sie sich zu Boden fallen, ihre Knochen fühlten sich an wie aus nassem Holz. Ein paar Augenblicke saß sie in ihrem Versteck, starrte in die Dunkelheit und erinnerte sich an das Gefühl der Macht.

Wie schnell es doch verschwindet, sobald ich wieder ein Mensch bin, sinnierte sie.

Sie hatte keine Antwort erwartet, doch sie bekam eine. Es ist beinahe schade, nicht wahr? Kurz schwieg die Wölfin, dann sagte sie: Port Vengeance also?

Ja, mit etwas Glück finden wir dort einen Weg, wie wir Roxane befreien können.

Die Wölfin sandte ein Gefühl des Verstehens. Marie erhob sich, schlich zu dem Mantel, der zusammengeknüllt auf dem Boden lag, und schlüpfte hinein. Für einen Moment fühlte sie sich müde, schwach und klein, so schrecklich menschlich, ein Mädchen in einem viel zu großen Kleidungsstück.

Die Wölfin spürte ihre Mutlosigkeit und drückte sich an ihr Bewusstsein. Tröstende Wärme ging von ihr aus, wie die eines echten, materiellen Tieres.

Marie seufzte wohlig. Ich muss mich bei dir bedanken. Für alles, was du tust für mich. Ohne dich wäre ich verloren.

Die Wölfin kicherte, wie so oft. Marie begann, sich langsam an das Gefühl zu gewöhnen, das das Geräusch hervorrief. Nicht der Rede wert.

Hast du eigentlich einen Namen?

Ich bin Marie, sagte die Wölfin, Belustigung schwang in ihrem Gedanken mit.

Nein, Marie ist mein Name, knurrte Marie ärgerlich. Aber jemand wie du... Ein... Bewusstsein... wie du muss doch einen Namen haben, oder nicht?

Ich bin Marie. Wieder der amüsierte Tonfall.

Nein, ich sagte doch schon, dass ich Marie bin. Du kannst doch nicht einfach so den gleichen Namen wie ich haben!

Ich bin du, und du bist ich. Wir sind eins. Schon vergessen?



* * *


eins meiner Lieblingskapitel, ich hoffe, euch gefällt es auch ;) Und hundert Votes, yay!^^

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