31. Kreaturen der Kälte
Crosses to bend
axes to fall
and down on your knees you just don't look so tall
- Billy Talen, Viking Death March
Die wütenden Schreie der Wachmänner verklangen im Wind, der ihr Gebrüll mit seinem ablöste. Heulend summte er an seinen Ohren, jedes andere Geräusch wurde übertönt und für einige endlose Sekunden hörte er nichts außer dem schreienden Wind. Weißer Nebel und hellgrauer, vereister Stein schoss an ihm vorbei, die Kälte schnitt ihm ins Fell und er spürte den festen Griff der Handschellen um seine Handgelenke.
Knirschend spannte sich die vereiste Kette. Der plötzliche Stopp riss ihm beinahe die Arme aus den Gelenken. Der Ruck schickte einen peitschenden Schmerz durch seinen Oberkörper. Mit einem widerwärtigen Geräusch schwang die Kette herum, direkt auf die Mauer zu. Noch leicht benommen sah Skyoll sich um und sah das Gestein auf sich zurasen. Keine Sekunde zu spät streckte er die Beine aus und federte sich ab. Der raue Fels scheuerte ihm die Fußsohlen auf, der Aufprall gab ihm das Gefühl, seine Beine seien gebrochen.
Vorsichtig bewegte er sie, doch er war nicht verletzt, bis auf seine alten Wunden am Rücken. Das Blut gefror in seinem Fell. Viele Meter über ihm konnte er die Zinnen erkennen, weit unter ihm wuselten Arbeiter und Aufseher durch den Steinbruch, klein wie Flöhe. Der Mann im Käfig schwang, gebeutelt vom Wind, gegen die Mauer und wieder zurück. Seine Schreie wurden langsam leiser, erstickt von der Kälte.
Skyoll wandte den Blick nach Westen, wo durch all die Wolken die Sonne einen rosafarbenen, eisigen Schein verströmte. Jeden Tag wird das Licht weniger, und bald bricht die Winternacht an. Wenn die Dämonen anfangen, uns beim Arbeiten zu überfallen, dann wissen wir, dass sie begonnen hat. Noch hatte es kein Dämon gewagt, sich an die Gefangenen anzunähern, aber je kälter der Winter wurde, desto weniger Lebewesen wagten sich aus ihren Behausungen. Dann begnügten sich die Bestien auch mit dürren, halb verhungerten, verzweifelten Gefangenen. Aber die in den Käfigen holen sie sich immer.
Die, die das Pech haben, außerhalb der Käfige in der Luft zu hängen, so weit entfernt vom Feuer, die holen sie sich erst recht.
Er warf wieder einen Blick nach oben, an seinen zunehmend tauben Armen vorbei zu den flackernden Lichtern auf der Mauer. Unter ihm wurde zum Appell getrommelt, die Gefangenen bildeten eine Schlange und marschierten zurück ins Innere der Festung. Er verspürte einen Anflug von Neid auf die müden, erschöpften Arbeiter, die sich nun in den windstillen Schlafsälen zur ruhe legen durften, während er an einer Kette über tausend Meter über dem Boden hing.
Streng vertrieb er das Gefühl. Wenn ich Zeit für Selbstmitleid hätte, wäre ich schon lange tot. Greif an, bevor du in der Rolle des Verteidigers bist.
Das Licht erlosch, während Skyoll seine Arme mit Klimmzügen vom Absterben bewahrte. Der Wind schien jedes Leben aus ihm treiben zu wollen, ebenso wie aus dem Mann im Käfig, der laut nach Hilfe schrie, die niemals kommen würde. Die Berge warfen gigantische Schatten auf die Mauer, die Dunkelheit kam.
Und mit ihr die Kreaturen des Eises.
Das erste Wesen, das Skyoll sah, war ein Eisdrache. Knochiger Körper, Haut wie von Eis überzogenes Pergament, Hörner wie Eiszapfen. Die Flügel ein Hauch von durchsichtiger, beinahe gläserner Haut. Sein Schrei, ein melodischer Gesang wie Wind, der über Eis strich, wurde von der Mauer zurückgeworfen und verstärkt. Erneut rief der Drache, die Wand antwortete und das Tier stieß einen Laut aus, der beinahe wie ein Kichern klang. Verspielt drehte er sich im Wind, es hatte den Anschein, als würden Sturm und Drache einander zum Spaß jagen.
Skyoll hasste Eisdrachen. Er hatte hunderte von ihnen getötet, mit Feuer und Stahl. Es waren wunderschöne, tödliche Biester, die alles niedermetzelten, was dumm genug war, zu ihrer Zeit außerhalb der Reichweite eines Feuers zu sein. Sei still, und sie bemerken dich nicht. Atme auch nur einmal zu laut, und sie bringen dich um.
Doch der Mann im Käfig schien es nicht zu wissen. Er sah den Drachen einige Minuten, nachdem Skyoll ihn entdeckt hatte und geriet in heillose Panik. Er warf sich gegen die Käfigstäbe und rief nach den Wachen, so laut, dass er selbst den heulenden Wind übertönte.
Skyoll sah zur Mauer hinauf, wo mehrere Wachmänner erschienen. Einer zeigte auf den Mann im Käfig, woraufhin ein anderer davonging und mehrere Sekunden später mit drei weiteren Wachen zurückkehrte. Gemeinsam beobachteten die Wachen den Eisdrachen, der sein Spiel mit dem Wind unterbrach und sich mit seinen blau glühenden Augen umsah. Skyolls Finger zuckten, als er sich erinnerte, wie er den Eisdrachen Armbrustbolzen in die Augen geschossen hatten, und wie die Lichter erloschen.
Mit einem Kreischen, das nicht mehr an den vogelartigen Gesang erinnerte, schoss der Drache auf den Käfig zu. Mit ausgestreckten Krallen landete er auf dem klirrenden Metall. Der Mann schrie verzweifelt auf, als der Drache seinen schmalen Kopf zwischen die Gitterstäbe steckte und nach ihm biss. Hektisch rannte er in seinem winzigen Gefängnis hin und her, in der Hoffnung, dem hungrigen Drachen zu entkommen.
Plötzlich hielt der Eisdrache inne. Mit blitzenden Augen fuhr er herum. Die Wachen auf der Mauer riefen etwas und zeigten auf die gegenüberliegende Wand des Gefängnisses, die Felswand der Weißen Berge. Skyoll folgte ihrem Blick, und was er sah, jagte selbst ihm Angst ein.
Eine Lawine, hunderte und tausende Tonnen von Gestein, Schnee und Eis bahnten sich ihren Weg in den Kessel der Weißen Forts. Grollend und donnernd bedeckte sie die schwer erarbeiteten, halb fertigen Steinblöcke, die die Gefangenen in mühevoller Arbeit aus dem Granit der Berge gehauen hatten. Doch das war es nicht, was Skyoll Unbehagen bereitete. Auch nicht die Lawine selbst. Sondern das, was in den Bergen hauste.
Ein plötzlicher Windstoß fauchte ihm ins Gesicht, und Skyoll hatte das Gefühl, als würden seine Augen gefrieren. Der Schnee, der ins Gefängnis gerollt war, wellte sich plötzlich, als wäre das Meer unter ihm. Dann stieg eine Gestalt aus dem Schnee hervor. Sie erinnerte an ein Einhorn mit Drachenflügeln, die Konturen unscharf und wie durch den Schnee verwischt. Im Abendlicht schimmerte sie blaugrau. Sie war dreimal so groß wie ein Pferd, doch ihre Bewegungen waren schnell wie die des Drachen, nur fließend statt ruckartig.
Der Eisdrache entdeckte den Dämon und kreischte so laut, dass der Schrei noch minutenlang in Skyolls Ohren widerhallte. Er stieß sich von dem Käfig ab und schoss im Sturzflug auf dem Boden zu. Der Dämon wirbelte herum, Schnee flog auf, und hüllte den Drachen ein. Eine Sturmbö wehte auf und ließ Skyoll an seiner Kette in Richtung der Mauer schwingen, als der Dämon sich aufbäumte und um mehrere Meter wuchs. Mit einem Geräusch, das wie der Todesseufzer eines sterbenden Riesen klang, wandte er sich der Mauer zu.
Auf dem Wehrgang brach Tumult aus, hastig griff jeder nach seinen Waffen, Feuer wurden geschürt. Zwar kannte jeder Wolf die Gefahren der Berge, doch selten wagte sich ein Geist wie dieser in die Nähe von mehreren Lebewesen, noch dazu in eine Gegend, wo es Feuer gab. Skyoll konnte die Angst der Wachen fast riechen, selbst durch all den Wind und die Kälte.
Der Dämon würdigte die Wachen jedoch keines Blickes, sondern wandte sich zielstrebig dem Mann im Käfig zu. Seine Gestalt erhob sich von der Schneedecke auf den Felsen, wehte wie vom Wind getragener Schnee auf die Mauer zu und blieb vor dem Mann in der Luft stehen, eine geisterhafte, wirbelnde Erscheinung. Die Wölfe auf den Mauern legten Brandpfeile auf, doch wurden mit einem harschen Wort von einem Offizier zurückgehalten.
Die Kreatur streckte eine Extremität aus, einen Hauch von Schnee und Eisstaub in der Luft, die auf den panischen Mann im Käfig zeigte. Er wich immer weiter zurück, sein Käfig bekam Schlagseite, doch der Dämon folgte ihm. Dann tat der Mann etwas Mutiges und dennoch Nutzloses.
Er schlug nach dem Dämon. Seine Geste verwischte die Konturen des ausgestreckten Armes noch mehr, und mit einem wortlosen Aufheulen zog der Dämon sich zurück. Er schien den Mann zu beobachten, für einige Sekunden lang. Skyoll wusste, was nun passieren würde. Er hatte es oft genug gesehen. Bei Vargensgard treiben sich tausende von ihnen herum. Die verlorenen Seelen der Gefallenen, so munkeln die Soldaten. Selbst wenn ich nicht glaube, dass sich die Geister der Toten noch länger als nötig in dieser elenden Welt herumtreiben würden.
Zischend schoss der Dämon auf den Käfig zu und hüllte ihn ein, wie zuvor den Eisdrachen. Skyoll hörte gedämpfte Schreie und das Fauchen des Dämons, während dieser alle Lebensgeister aus dem Menschen zog. Doch diesmal bleib etwas zurück: das eisüberzogene Metall des Käfigs und die mit Raureif bedeckte Kleidung. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ der Dämon sich in den Wind fallen, seine Gestalt wurde von den Böen zerstreut.
Skyoll atmete hörbar aus und entspannte sich etwas. Er fürchtete die Dämonen nicht, doch ein gesunder Respekt war stets nötig, wenn man einer Kreatur aus der Eiswelt Sundarsquirs gegenübertrat.
Plötzlich sprang ihn etwas von hinten an. Ein Teil der Mauer hatte sich als weiterer Eisdrache entpuppt und versenkte nun seine Zähne in Skyolls Schulter. Der Eiswolf knurrte und wand sich in seinen Fesseln. Ohne Hände bin ich verloren. Grollend wandte er den Kopf zur Seit und biss den Drachen in den Hals. Sein Blut schmeckte nach Kälte und schlammigem Meerwasser, doch der stümperhafte Befreiungsversuch zeigte Wirkung. Heulend fuhr der Drache zurück, seine Krallen bohrten sich unangenehm in Skyolls Rücken.
Skyoll warf einen hastigen Blick in die Richtung des Wehrgange der Mauer über ihm, wo die Wachen unentschlossen mit Bögen und Brandpfeilen standen und ihre Waffen spannten und wieder lockerließen. Doch sie schossen nicht.
Der Drache stieß sich von seinem Opfer ab und flog singend an der Mauer entlang, dann schoss er in die Höhe des Wehrganges und klammerte sich an die Kette, an deren Ende Skyoll hing. Als seine Krallen sich um das Eisen schlossen, knirschte es, als hätte sich pures Eis an die Glieder gehängt. Klirrend rutschte er die Ketten entlang, immer auf den Eiswolf zu, wie eine Katze, die sich langsam einer Maus nähert.
Der Weiße schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Er kannte diese Situation. In Vargensgard haben sie mich gefesselt und einem wilden Bären vorgeworfen. Eine Mutprobe unter Gefreiten. Ich habe einen Bären mit bloßen Händen getötet und kann so etwas auch mit einem Drachen.
Still wartete er, bis der Eisdrache direkt über ihm war. Zischend öffnete der Drache sein Maul, um ihm den Kopf abzureißen, doch Skyoll war schneller. Trotz seiner gefesselten Hände packte er die Kiefer des Drachen und riss sie auseinander, kaum eine halbe Armlänge weit, doch mit genug Kraft, dass die Bestie sie nicht mehr schließen konnte. Kleine eiszapfenartige Hörner stachen in die Handflächen des Eiswolfes, als das Tier zappelte, um sich aus dem eisernen Griff zu befreien.
Skyoll tastete mit dem Daumen über den Oberkiefer des Drachen und fand, was er gesucht hatte: das Auge. Mit einem wütenden Knurren drückte er zu, so lange, bis das entsetzte Kreischen des Drachen in ein unkontrolliertes Zucken überging. Als der Drache still an der Kette hing, ließ der Eiswolf los, und der Kadaver fiel dem eisigen Boden entgegen.
Skyoll ließ sich kurz entspannt vom Wind hin und her schwingen, der Sturm strich sanft über sein Fell. Dann hob er den Kopf und wartete auf die nächste Gefahr, die der Eisige Norden für ihn bereithielt.
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