23. Die Wölfin

Cause I was filled with poison

But blessed with beauty and rage

- Lana del Rey, Ultraviolence


Wo bin ich?

  Marie konnte nicht atmen. Es war stickig, feuchtwarm und dunkel um sie herum, nur ein einziger schmaler Lichtstrahl fiel in den Raum, in dem sie saß. Staub tanzte im fahlen Licht. Es roch widerlich, nach Exkrementen, Erbrochenem, schwitzenden Menschen und Tieren. Sie spürte Bewegungen um sich herum, andere Lebewesen in den Schatten. Weit über ihr waren dumpfe Schläge, vielleicht Schritte, zu hören, lautes Gebrüll und etwas, das donnernd gegen die hölzerne Außenwand des Raumes schlug. Die Männer und Frauen in der Dunkelheit wimmerten, als sich der Raum neigte, und Marie wurde unsanft gegen ihren Nebenmann geschleudert.

  Ein Schiff. Ich bin auf einem Schiff. Panik breitete sich in Marie aus, und sie wollte aufspringen, als sie an den Handgelenken wieder zu Boden gerissen wurde. Ein stechender Schmerz breitete sich an ihren Händen aus, und mit bebenden Fingern tastete sie an ihren Armen entlang. Sie fühlte kaltes Metall, Ketten, und eine warme Flüssigkeit, die die Innenseite der Handschellen benetzte. Ihr eigenes Blut.

  Tränen traten ihr in die Augen, und sie sah sich hektisch um. Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern. Was ist passiert? Oh Geister, warum bin ich hier? Als ihr der Kampf gegen Maura Ithakea wieder einfiel, und dass sie verbannt war, überfiel die Verzweiflung sie wie eine Bestie, die ihre Krallen in ihn Herz schlug. Sie konnte Roxane nicht helfen und sie vor De Oro warnen, der sie nach Crusadia zurückbringen wollte, und sie hatte es nicht geschafft, das Geheimnis der Flucht ihrer besten Freundin zu verschweigen. Ich habe versagt. Roxane, es tut mir so endlos leid. Wir sind verloren. Kurz fragte sie sich, ob ihr Bruder Jean nach ihr suchen würde, doch die Chancen waren verschwindend gering. Maura hatte gesagt, sie wäre ein Teil einer Schuld, den Mackerel Stanraer abzuzahlen hatte. Da Jean Mackerel hörig war, würde er keine Schiffe losschicken, wenn der Anführer der Crusaders es nicht erlaubte. Sie war auf dem Schiff gefangen.

  Die Tränen siegten, und Marie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie spürte deutlich den Schnitt an ihrer Kehle, eine Warnung von Maura. Ich werde sterben, das hat Maura mir versprochen. Sie hat gesagt, dass ich für meine Verbrechen büßen werde. Schluchzend zog die die Knie an den Körper und legte ihr Kinn darauf, als sie eine Hand an ihrem Rücken spürte.

  „Schhhh, alles wir wieder gut", murmelte jemand, eine Frau, und Marie gestattete ihr, sie in den Arm zu nehmen. „Alles wird wieder gut."

  „Lüg nicht", flüsterte Marie mit rauer Stimme. „Nichts wird wieder gut."

  „Doch. Es wird immer wieder besser. Jede Nacht hat ein Ende, und wenn der Tag anbricht, ist alles anders." Marie spürte Federn, die ihre nackte Haut streiften und scharfe, glatte Krallen, die ihr die Haare durchkämmten.

  Mit verweinten Augen sah die Lykanerin auf und sah in die glänzenden goldenen Augen einer Horuskriegerin. Ihr Gefieder war tief kupferfarben, und als sie ihre Flügel spreizte, sah Marie die schwarzen Flügelspitzen. Sie war leicht bekleidet, ebenso wie all die anderen Menschen und Krieger im Laderaum, mit einer dünnen, zerrissenen Seidenhose und einem kurzen Oberteil, das mehr schlecht als recht ihre Brüste bedeckte.

  „Warum bin ich hier? Wohin bringt uns das Schiff?", fragte Marie.

  Die Horus klapperte missbilligend mit dem Schnabel. „Wir sind alle hier, weil wir verkauft werden. Unser Ziel sind die Racheinseln."

  Marie starrte sie an. „Das verstehe ich nicht. Was soll das bedeuten, wir werden verkauft?"

  Die Vogelfrau zischte. „Du kennst doch die Bruderschaft, oder? Diese elenden Werwölfe sind der Grund, warum wir alle hier sind. Sie haben uns gefangen genommen. Die hübschen Männer und Frauen werden als Huren oder Bettsklaven enden, die Hässlichen und Kräftigen als Kämpfer in den Ringen von Zephyr und den Städten Auf Dem Meer. Manche werden gar getötet oder als Tribut an den Circulum Manticora verkauft. Du wirst eine in einem der Bordelle von Punto Alegre enden und schwitzenden Hafenarbeitern deine Jungfräulichkeit geben müssen."

  „Und du?" Marie hielt es für das Beste, der Frau ihre Herkunft zu verschweigen.

  „Ich werde nach Zephyr verkauft, und muss in den Ringen um mein Leben kämpfen. Ich bin nicht folgsam genug für eine Hure, und auch nicht hübsch genug."

  Marie war innerlich der Meinung, dass die Horus schön genug war, um die Lichtlady zu sein, fragte jedoch stattdessen: „Wie heißt du?"

  „Ich bin Ikaria. Ich komme aus Meracon und trat in Santaca den Selketien bei, bis ihre Pflichten mich zu sehr einengten und ich einer Gruppe von Freiheitskämpfern in Frontier's Town die Treue schwor. Sie wollten Crusadia von der Bruderschaft befreien, doch irgendjemand muss uns verraten haben, denn eines Abends begannen uns die Wölfe zu jagen. Sie töteten fast alle von uns und nahmen die Überlebenden gefangen. Diese Männer und Frauen sitzen nun angekettet in diesem Laderaum und warten auf ihr Schicksal." Die Horuskriegerin strich sich die langen, fedrigen Haare zurück. „Und wer bist du?"

  „Ich bin Marie." Verdammt, ich hätte meinen echten Namen nicht sagen sollen. Wenigstens ist mein Nachname noch nicht gefallen, denn das bedeutet in einem Laderaum voller Feinde der Bruderschaft meinen Tod. Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, dass die Bruderschaft nicht überall beliebt war, und dass jemand den Mut aufbrachte, sie zu bekämpfen. Natürlich hatte ihr Bruder manchmal von aufrührerischen Menschen in den Städten auf Santa Cruz geredet, vor allem vor den Jagdfesten der Bruderschaft. Doch nachdem die Wölfe aus den Straßen zurückgekehrt waren, mit blutigen Zähnen und Lefzen und vor Angst zitternden Frauen in den halb menschlichen, halb wölfischen Armen, war das Thema nicht mehr zur Sprache gekommen. Plötzlich fragte sie sich, wie viele Menschen ihr Kartell, die Crusaders, auf dem Gewissen hatten, und welchen Anteil ihre Familie, die De Tracys, hatten. „Ich komme aus Amostown, wo ich als Kammerzofe von Lady Ithakea gearbeitet habe", log sie. Es war zwar risikoreich, hier eine Verbindung zur Bruderschaft zu haben, doch wenn ihr Details über die Bruderschaft herausrutschten, waren sie einfacher zu erklären. „Doch ich habe einen Fehler gemacht, und deswegen hat sie mich hierher verbannt."

  Wieder klapperte Ikaria mit dem Schnabel. „Elendes Gestaltwandlerpack. Keinen Respekt vor dem Leben und den normalen Menschen. Sie halten ihre Hundeschnauzen so hoch, dass sie nicht sehen, was sie unter ihren Tatzen zermalmen."

  Marie schwieg. Sie hatte ihr Leben bei der Bruderschaft immer gemocht. Die Tatsache, dass andere durch ihre Rücksichtslosigkeit zu Schaden kamen, hatte sie immer verdrängt. Doch was konnte sie tun? Ich bin keine Zafiro, die sich um die anderen schert und sich vor Wölfen fürchtet. Ich bin eine Crusader, wir sind das mächtigste und größte Kartell, ich und meine Brüder und Schwestern dürfen keine Gnade zeigen. Doch jetzt, da sie selbst ein Opfer ihrer eigenen Familie geworden war, spürte sie, wie es sich anfühlte, im stetigen, bedrohlichen Schatten der Bruderschaft zu leben. Sie hatte plötzlich Mitleid mit den Menschen und Kriegern im Schiffsbauch. „Sind alle hier von der Bruderschaft verbannt worden?"

  Ikaria schüttelte den Kopf. „Manche von ihnen sind Verbrecher aus Santaca. Der Baron von Manastar und manche Stämme der Reptilienrassen, Lamien und Sobekkrieger, verkaufen ihre Gefangenen an die Bruderschaft, die sie dann an die Betreiber der Bordelle, der Ringarenen und an die Sklaventreiber weitergeben."

  Marie ließ sich ihre immer weiter wachsende Verzweiflung nicht anmerken, doch sie brodelte in ihr, und sie spürte den Abgrund des Wolfes summen. Komm zu mir, komm her, Marie, umarme mich, zerreiße deine Fesseln wie Papier, töte deine Entführer und räche dich an der Hure namens Maura Ithakea. Ich bin hier, ganz nahe, du musst nur die Hand ausstrecken und mich berühren...

  NEIN, zischte Marie der Wölfin zu. Wenn ich mich jetzt verwandle, nützt es mir nichts, außer, dass ich von den Männern an Deck erschossen werde.

  Oh, warum denn nicht? Ich könnte so viel tun für dich... Die Stimme des Tieres, der Wolfsseele in ihr, wurde lockend und beinahe bettelnd.

  Verschwinde. Marie hatte einst festgestellt, dass der Abgrund in ihrer Seele ein starkes Eigenleben hatte. Es war, als wäre ein zweites Lebewesen in ihrem Kopf, das sich immer dann rührte, wenn sie in Not war und sie zur Kontrollaufgabe zwang. Griff Marie selbstständig nach der Wölfin, sprach sie nicht, sondern nur, wenn sie sich wehrte. Wenn sie die Wölfin war, dachten sie wie eine Person, wenn nicht, wartete die Bestie auf ihre Chance.

  Zuerst hatte sie Angst vor der zweiten Intelligenz in ihrem Kopf gehabt. Sie hatte gefürchtet, dass der Wolf sie eines Tages überfallen und alles Menschliche aus ihr heraustreiben würde. So weit wollte sie es nicht kommen lassen, und sie lag nächtelang wach, um der Wölfin keine Gelegenheit der Unaufmerksamkeit zu lassen. Schließlich vertraute sie sich ihrem Bruder an, der sie beruhigte und ihr versprach, dass es jedem Lykaner so ging wie ihr. Später jedoch erkannte sie, dass niemand sonst mit seinem Abgrund reden konnte wie sie. Alle anderen wurden gerufen, aber sie konnten nicht antworten oder gar ein Gespräch führen. Doch als sie das begriffen hatte, wollte sie es niemandem anvertrauen. Es war ihr Geheimnis. Wenn Roxane mich wirklich liebt, dann werde ich es ihr sagen. Doch sie ist nicht einmal eine wahre Wölfin...

 Als Marie mit fünf Jahren auf die Dunkelwacht gekommen war, hatte sie bemerkt, dass Roxane keine Ahnung von ihrem Erbe hatte, dass den anderen Kindern so minutiös eingeprügelt wurde. Sie hatte es ihr eines Tages verraten, doch Roxane hatte es nur für ein Spiel gehalten, bei dem man vorgab, sich in ein Tier verwandeln zu können.

  Nach einer Reise in ihre Heimat auf Santa Cruz, wo Marie in die Bruderschaft aufgenommen wurde, hatte sich die Wölfin zum ersten Mal geregt, und nach mehreren Verwandlungen auf der Insel kehrte sie aufs Festland zurück. Sie liebte es, ein Wolf zu sein, zu laufen, jagen, spielen und manchmal sogar zu töten, doch sie hatte immer Jeans Warnung im Kopf: denke stets daran, den Wolf nicht alle Kontrolle zu lassen. Sonst bleibst du für immer einer. Marie hatte gefragt, was daran denn so schlimm sei, und Jean hatte gelächelt. Wenn du so enden willst wie der alte Marcon, dann gerne. Marcon war ein alter Irrer in den Wäldern von Santa Cruz gewesen, einst einer der Crusaders, der stets die Gestalt eines dürren, blutrünstigen Wolfes hatte. Er hatte die Insel so lange terrorisiert, wahllos getötet und dabei nicht zwischen ehemaligem Bruder und Mensch unterschieden, bis die Stanraers auszogen und ihn töteten.

  Als sie Roxane zum ersten Mal zeigte, wie sie sich verwandelte, war sie begeistert gewesen. Leichthin erzählte Marie ihr von dem blutigen Ritus zur Aufnahme in die Bruderschaft. Roxane sagte es Benedict Gray, dem alten Kastellan der Felswacht, der Roxane verbot, der Bruderschaft beizutreten, und ihr von den Schrecken erzählte, die ihr Vater Auray verbreitet hatte. Danach schärfte er den Kindern ein, Roxane nie wieder von der Bruderschaft zu erzählen, und kurz darauf hatte die junge Herrin über die Ländereien des vor langer Zeit so gefürchteten Blackshore-Kartells vergessen, dass es eine andere Seite in ihr gab, die man mit etwas Menschenfleisch erwecken konnte.

  Der Gedanke an Roxane stärkte Marie. Ich werde zurückkehren, und ich werde mich an Maura rächen. Ich werde diese elende Schlampe töten, ihre hübsche weiße Kehle herausreißen und ihre blonden Haare mit ihrem Blut rot färben. Die Wölfin regte sich mit ihrer Rachsucht, und ein grollendes Knurren rollte über ihre Kehle.

  Neben ihr hörte sie ein misstrauisches Zischen, und Marie fuhr herum. Ikaria starrte sie an, ihre goldenen Augen durchbohrten sie wie Nadeln einen aufgespießten Schmetterling. „Warst du das gerade?", fragte sie.

  Hastig schüttelte Marie den Kopf. Verdammt, das war zu eilig, um echt zu sein. „Nein", log sie.

  „Du warst es. Ich erkenne ein Knurren, wenn ich es höre. Ich habe zu lange neben Anubin gelebt und zu oft gegen Lykaner gekämpft, um so etwas nicht zu erkennen." Sie bedachte Marie mit ihrem bohrenden Blick, den die Lykanerin emotionslos erwiderte. „Du bist wohl nicht so menschlich, wie es den Anschein hat, hm? Eine Zofe im Dienste einer Lykanerin. Ich denke, du bist der Wolf hier!"

  Um die beiden Frauen herum regten sich die ersten Gefangenen, ihre Ketten klirrten leise.

  „Du und dein verdammtes Pack, ihr seid der Grund, warum wir alle hier sind!", fauchte Ikaria.

  „Wenn ich an eurer Gefangenschaft schuld bin, warum bin ich dann hier?", grollte Marie wütend.

  Statt einer Antwort stürzte sich die Horuskriegerin auf Marie. Mit einem Aufschrei ließ Marie sich in den Abgrund fallen.

  Kaum erreichte die Wolfsgestalt ihre Handgelenke, rutschten die Ketten von ihren schmalen Wolfsbeinen. Sie wich vor Ikaria zurück, die von ihren eigenen Fesseln zurückgerissen wurde, doch ein Arm schlang sich um ihren Hals und versuchte, sie zu erwürgen. Heulend biss sie um sich, bis sie eine Hand zu fassen bekam und mehrere Finger von ihr abriss. Der schauerliche Schrei eines verletzten Mannes gellte laut durch den Laderaum. Marie hechtete durch die Reihen der Gefangenen zur Tür des Raumes und warf sich mit aller Macht dagegen. Mit einem Jaulen prallte sie zurück.

  Panisch sah Marie sich um. Der Raum war von außen verschlossen, und drinnen war sie nicht sicher. Jeder einzelne wollte sie nun töten. Meine Familie ist der Grund, warum sie leiden müssen, dachte der Überrest ihres menschlichen Bewusstseins voller Mitleid, doch sie ließ der Wölfin etwas mehr Freiraum und ließ zu, dass die Bestie zu ihr flüsterte.

  Du bist eine Crusader. Crusaders scheren sich nicht um die Meinung ihrer Beute. Du musst zu Stahl werden. Denk an dich, und denk an Roxane. Der Rest ist unwichtig. Sie musste so denken. Sie musste an sich selbst denken und die Gefangenen ihrem Schicksal überlassen, wenn sie selbst überleben wollte. Doch falls sie nicht in einem dunklen Laderaum voller rachsüchtiger Gefangener sterben wollte, erschlagen von Ketten und erwürgt durch bloße Hände, musste sie hinaus.

  Gierige Hände griffen nach ihr, und Marie heulte, so laut sie konnte. Der Laut durchdrang das Schiff, und für einen Moment stoppten die Schritte über ihnen, selbst das Meer schien innezuhalten und zu lauschen. Die hektischen Männer um Marie erstarrten in der Bewegung. Marie heulte erneut, ein klagender Ruf um Hilfe.

  Mit einem Ruck schien die Zeit wieder anzulaufen, die Gefangenen wollten Marie zerreißen und Rache nehmen an der Bruderschaft, die ihnen die Freiheit genommen hatte. Als ob die Rache an mir ihnen die Freiheit zurückgeben würde, dachte Marie voll Verachtung. Oder war es die Wölfin, deren Gedanken sie dachte? Es kümmerte sie nicht. Grollend wehrte sie sich und lauschte, während sich immer mehr Leute auf Marie stürzten.

  Die polternden Schritte schwerer Stiefel auf Holzplanken waren die reine Erlösung. Sie näherten sich, wurden lauter und lauter, und Marie knurrte wilder und deutlicher als zuvor. Sie werden mich hier rausholen. Oder es geht alles schief und sie erschießen mich. Als sie die Schlüssel vor dem Laderaum hörte, stellte sie alle Versuche, sich zu wehren, ein und verwandelte sich.

  Mit einem Krachen öffnete sich die Tür zum Laderaum, vier Männer mit Musketen stürzten hinein und eröffneten das Feuer. In Maries Ohren klingelte der Nachhall der vier Schüsse, doch sie klangen wie Musik für sie. In der Dunkelheit schrien die Verwundeten.

  Einer der Männer, ein breitschultriger, bärtiger Kerl stieß mit dem Bajonett an seiner Waffe nach einem Mann. „Was ist hier los?", brüllte er und ließ seinen Blick über die Gefangenen wandern, bis seine Augen denen von Marie begegneten.

  „M'lord, sie wollten mich vergewaltigen!", schluchzte Marie mit von der Verwandlung rauer Stimme. Sie dachte an Roxane und blinzelte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihre Wangen hinabliefen. Sie war nackt, die salzige Flüssigkeit hinterließ Spuren im Dreck auf ihrer Haut. Meine Maskerade der gefallenen Schönheit ist so perfekt wie Roxanes Verkleidung als Junge.

  „Sie lügt!", schrie Ikaria. „Sie ist eine Schwester des Lykaon! Sie wollte uns alle umbringen!"

  Marie schniefte und brachte ihre Unterlippe zum Zittern. „M'lord, bitte rettet mich vor diesen Monstern! Sperrt mich in eine Einzelzelle, aber lasst mich nicht allein mit diesen Kreaturen!"

  Der Bärtige sah abwechselnd zu seinen Kameraden, die ihre Gewehre nachluden, und zu Marie. „Nimm sie mit. Sie ist definitiv die Schönste hier, und wenn diese ungewaschenen Hurensöhne sie vergewaltigen und schlagen, bekommen wir nicht die Hälfte des Geldes, das wir für sie kriegen könnten", riet einer von ihnen.

  „Sie ist Lady Mauras Fang. Sie sollte tunlichst nicht sterben oder entjungfert werden, bis sie am Bestimmungsort ist", warf ein anderer ein, während Marie ein hoffnungsvolles Lächeln unter einem theatralischen Wegwischen ihrer Tränen versteckte.

  Der Bärtige seufzte. „Komm her, Mädchen." Folgsam stand Marie auf und bedeckte ihre nackten Brüste mit den Armen. „Wie bist du überhaupt die Fesseln losgeworden?", fragte der Mann und musterte sie von oben bis unten.

  Marie wand sich etwas unter seinem Blick, zur Hälfte aus tatsächlicher Verlegenheit, zur Hälfte aus gespielter Koketterie. Doch wenn sie ihr Spiel fortführen wollte, musste sie dem Mann gefallen. Ich stehe anscheinend unter Mauras Schutz. Sie dürfen mich nicht anrühren, das macht die Sache für mich sicherer. „Sie haben sie mir mit Gewalt von den Händen gerissen", sagte Marie schüchtern, mit dem Blick auf die Schiffsplanken unter ihren Füßen, und präsentierte dem Mann ihre aufgeschürften Hände.

  „Lügnerin!", kreischte Ikaria und wurde mit einem weiteren Schuss zum Schweigen gebracht.

  Er nickte. „Gib ihr deinen Mantel. Wir bringen sie zu den Einzelzellen", wies der Bärtige seine Männer an.

  Während Marie sich in das Kleidungsstück hüllte, hörte sie wieder Ikarias Stimme. „Wir werden uns wiedersehen, du elende, kleine, lügende Schlampe. Das verspreche ich dir. Und wenn wir uns wieder begegnen, dann bringe ich dich um, das schwöre ich bei Licht und Dunkel!"

  Marie sagte nichts, sondern schwieg nur scheinbar verängstigt. Ich hoffe doch sehr, dass wir uns wiedersehen. Denn ich werde siegen.

  Die Männer schlossen die Tür und führten Marie in eine Einzelzelle, ausgestattet mit einer dünnen Lage schmutzigem Stroh. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich erneut zu verwandeln und die Männer zu töten, doch sie wusste, es hatte keinen Sinn. Sie wäre immer noch auf einem Schiff, das sie nicht lenken konnte, in der Gesellschaft von bewaffneten Männern und wütenden Häftlingen. Sie trat in die Zelle und ließ zu, dass die Männer sie einschlossen, doch bevor sie gingen, hielt sie sie zurück.

  „Meine Herren, ich schulde euch mein Leben. Vielen Dank."

 Der Bärtige lief unter seiner Gesichtsbehaarung rot an. „Das hätte jeder Mann getan."

  Marie schüttelte den Kopf. „Männer mit weniger edler Gesinnung hätten mich geschändet oder bei den anderen zurückgelassen. Doch ihr nicht."

  Einer der Männer warf sich in die Brust. „Wir sind edle Männer, habt ihr gehört?"

  Marie lachte perlend. „Richtet eurem Kapitän meinen Dank aus."

  Die Männer gingen davon, doch einer, der, der Marie seinen Mantel gegeben hatte, blieb zurück. Marie lächelte ihn an. „Ja bitte?"

  „Den...den...Mantel darfst du... dürft Ihr... behalten", stammelte er errötend.

  Sie schlang ihn fester um sich und sah den Mann scheu an. „Danke."

  Verwirrt lief der Mann den anderen hinterher.

  Kaum waren sie verschwunden, ließ Marie sich zu Boden fallen. Das war nicht ich. Das hätte ich niemals getan.

  Doch, das warst du, meldete sich die Wölfin zu Wort.

  Nein! Ich hätte mich niemals dermaßen verstellt und mich in den Mittelpunkt gestellt! Ich habe immer auch für andere gehandelt!

  Ja, da hast du recht. Der Tonfall der Wölfin wurde spöttisch. Die Anderen waren immer nur eine einzelne Person, nämlich Roxane, und das weißt du genau.

  Marie starrte die Gitterstäbe ihrer Zelle an, sich der Wahrheit der Worte bewusst.

  Und auch jetzt noch handelst du, damit zu zurück zu ihr kannst, und damit dir nicht der Hals gebrochen wird. Aber das ist nur eine Nebensache. Was man für die Liebe nicht alles tut... Die Wölfin seufzte, und auch Marie kam der Atem etwas kräftiger als sonst über die Lippen. Du hast gerade eben etwas bewiesen.

  Was?

   Du kannst alles sein, was du willst, wenn du nur so tust als ob. Lass dich von der Rolle kontrollieren und du wirst alles erreichen können...

  Dieser Rat sieht dir ähnlich. Du willst mich beeinflussen!, zischte Marie in Gedanken.

  Die Wölfin knurrte. Wenn du meinen Rat nicht willst — gut. Dann sieh zu, wo du landest. Wer weiß, was mit dir passiert auf den Racheinseln... Du verlierst deine süße Jungfräulichkeit an einen geilen fetten Lüstling in einem Bordell oder dein Leben in den Ringen von Zephyr, wie Ikaria es gesagt hat. Das sind doch reizende Aussichten, oder? Oder du lässt dich von meinen Instinkten leiten, und wir werden zurückkehren. Du tötest Maura und rettest Roxane aus den Klauen der Bruderschaft. Was sagst du?

 Marie verschränkte die Arme. Habe ich eine Wahl?

  Die Wölfin kicherte, ein keckerndes Geräusch hinter Maries Stirn. Ja.

  Marie war überrascht über die Antwort. Trotzdem flüsterte sie: „Ich nehme dein Angebot an."

*        *        *

Ich habe ein Pinterest-Board für meine Storys erstellt. Folgt dem externen Link rechts und ihr könnt euch Inspirationen, Bilder zum Cast und Zeichnungen zu Brotherhood anschauen. Manche passen schon zur Story, andere können als Tipp für die Zukunft der Charaktere gesehen werden. Wer ein Bild findet, das seiner Meinung auch gut zu dieser Story passt, der möge mir einen Link dazu schicken :)

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