21. Liebe und Hass

Tension is building inside steadily

Everyone feels so far away from me

Heavy thoughts forcing their way out of me

- Linkin Park, From the Inside


Das Ufer von Hiron war ein schwarzes Band, das sich nur vage vom dunkelblauen Nachthimmel abhob. Es war durchsetzt von hellen, flackernden Lichtern, wie die Sterne am Himmel, die sich an der Stelle, wo Alpha Centauri lag, zu einem einzigen glühenden Klumpen verbanden.

  Nicolas stand am Bug der Kroneneinhorn und sah ihr Ziel näher rücken. Sie hatten gesehen, wie Darnovey mit der Leviathan zielstrebig die Hauptstadt Hirons ansteuerte. Wenn er dort anlegte, konnte die Kroneneinhorn ihn einholen und Nicolas den Mörder seines Vater gefangen nehmen. Bei dem Gedanken, die Jagd zu beenden, bebte er vor grimmiger Freude.

  Es war unmöglich, festzustellen, welches der Schiffe, die vor der Küste fuhren, das Schiff des Virrey-Anführers war. Sie konnten sich nur auf ihr Gespür verlassen, und hoffen, dass die Annahme, die Leviathan steure Alpha Centauri an, wahr war.

  Nachdem Rusty entdeckt hatte, dass Darnovey nicht direkt nach Abisyala reiste, hatte Morgaine vermutet, dass er die Stadt der Zentauren ansteuerte, den größten Hafen in unmittelbarer Nähe. Bisher hatte sie recht gehabt, denn das Schiff hatte genau den vermuteten Kurs eingeschlagen.

  Nachdenklich beobachtete Nicolas das Deck, wo die Mannschaft hektisch umherlief und Morgaines Befehle ausführte. Die Kapitänin stand am Heck, neben ihr standen Roxane und Fair Johnny. Wie jedes Mal, wenn er sie zusammen sah, durchfuhr in der vertraute Stich der Eifersucht. Roxane, bitte. Vergiss ihn und diesen Söldner, der dich angeblich liebt. Er hatte durch den geschwätzigen Jamie Blakk von Roxanes Liebschaft mit dem Drachenreiter, der am Anfang ihrer Reise über das Schiff hinweggeflogen war, erfahren. Woher er es wusste, hatte er nicht aus dem Mann herausbekommen.

  Ein Vogel landete neben Nicolas auf der Reling, so plötzlich, das er ein paar Schritte zurückstolperte und mit klopfendem Herzen auf das Tier starrte. Es war ein Falke, mit grauem, gefleckten Gefieder, und beobachtete Nicolas durch seine schwarzen Knopfaugen. Ein Falke. Was macht ein Falke hier, so viele Kilometer vor der Küste?, dachte er verwirrt, als er bemerkte, dass an das Bein ein kleiner Zylinder aus Leder befestigt war. Vorsichtig näherte er sich dem Vogel und öffnete den Zylinder mit dem Siegel einer freien Brieffalkenzucht. Wer auch immer mir einen Brief schicken will, möchte nicht erkannt werden, sonst hätte er seinen eigenen Falken benutzt. Kaum hatte er dem Vogel das Papier abgenommen, kreischte das Tier einmal und schwang sich wieder in den Nachthimmel.

  Nicolas entrollte den Brief. Die Handschrift war ihm unbekannt, doch er war zweifellos an ihn adressiert.

Mr de Oro,

es schmerzt mich, dass ich Euch erst zu dieser Zeit, fast einen Monat nach unserer Abreise aus Amostown, von den Vorkommnissen auf der Leviathan berichten kann. Doch es ist eine Tatsache, dass ich einige Pflichten auf dem Schiff habe und diese zur Aufrechterhaltung meiner Tarnung nicht vernachlässigen darf.

Mein Auftraggeber ist der gleiche wie der Eure. Mr Hector Stanraer gab mir den Befehl, Euch über die Pläne und Schachzüge von Mr Ravan Bane Darnovey zu informieren. Er legte gegen Mitternacht in Alpha Centauri an und suchte dort in Begleitung des Söldners Madrid Yarrow die Herren Rhymer auf, die Besitzer der mächtigen Rhymer Corporation. Was er dort tat, ist mir unbekannt, doch als er zurückkehrte, war Mr Yarrow unauffindbar und Mr Darnovey befahl dem Kapitän, den Kurs nach Norden zu setzen, in die Richtung der Vereinigten Königreiche und des Eisigen Nordens.

Ich rate Euch, nicht in Alpha Centauri anzulegen. Er hat fast fünf Stunden verloren, dadurch, dass sie viele Vorräte an Bord nehmen mussten. Verfolgt ihn, so gut es geht. Leider werde ich Euch nicht weiterhin berichten können, denn ich besitze keinen eigenen Brieffalken. Sobald wir das nächste Mal in einer Stadt anlegen, werde ich Euch weitere Informationen zukommen lassen.

Hochachtungsvoll

Es gab keine Unterschrift, nur eine grobe Zeichnung von einem Kreuz war neben dem letzten Wort auf das Papier geschmiert.

  Nicolas knüllte das Papier zusammen, wie er es zuvor mit dem von Maura Ithakea getan hatte, und warf es über Bord. Seine Gedanken tobten wie das Meer bei Sturm, als er sich an Stanraers Worte in Amostown erinnerte, als dieser ihn mit seinem Auftrag belegt hatte. Meine Spione werden Euch auf dem Laufenden halten, hat er gesagt. Ich hatte es fast vergessen, dass er mich nicht ganz allein in der Luft hängen lassen würde. Mit einem zufriedenen Grinsen rannte er die Treppe zum Mittelschiff hinunter, schlängelte sich zwischen den arbeitenden Männern hindurch und hetzte zum Achterdeck hinauf.

  „Morgaine, wir legen nicht in Alpha Centauri an", rief er ihr entgegen.

  Die Kapitänin hob eine Augenbraue. „Und warum nicht? Wie sollen wir sonst erfahren, was dein Mörder geplant hat? Du wolltest doch so unbedingt da hin!"

  „Ich habe erfahren, was ich wissen muss. Er segelt nach Norden."

  „Ach ja, und woher weißt du das?"

  Nicolas grinste und genoss für einen Moment seine Überlegenheit. „Ein Spion hat mir berichtet, was er vorhat."

  „Ein Spion", wiederholte Morgaine zweifelnd. „Das könnte eine List von ihnen sein, das weißt du schon, oder?"

  „Ja. Aber könnte nicht alles eine List sein? Vielleicht ist Darnovey ja gar nicht auf der Leviathan und es ist wieder nur ein Ablenkungsmanöver, oder wir hetzen einem unbedarften Handelsschiff hinterher, das zufällig einen Drachen mit seinem Reiter an Bord hat. Die gesamte Aktion bezieht sich auf Vermutungen. Also werden wir diesen Brief beim Wort nehmen und hoffen, dass es die Wahrheit ist", sagte Nicolas entschlossen.

   Morgaine zuckte mit den Schultern. „Dann haben wir ein Problem."

  „Ach ja?"

  „Wir haben kaum noch Vorräte. Wir müssen in Alpha Centauri anlegen. Ohne neue Lebensmittel schaffen wir es mit harter Rationierung höchstens bis Salita."

  Nicolas straffte die Schultern. „Dann sei es so. Wir rationieren und jagen weiter. Wenn wir Darnovey einholen, holen wir uns einfach das, was bei ihm an Bord ist."

  „Verstehe. Und wie willst du das der Crew erklären?", fragte Morgaine mit ätzender Stimme. „Sie dürfen nicht nach Alpha Centauri, stattdessen müssen sie die kümmerlichen Reste aus dem Laderaum fressen wie Schweine. Genauso wie du." Nicolas hob zu einer Erwiderung an, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ja, das wirst du wohl müssen. Am Ende haben wir ein Stück Zwieback und einen Fingerhut voll Wasser für jeden, und das soll dann für sechzig hart arbeitende Männer reichen?"

  Nicolas spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, als er im gleichen Tonfall sagte: „Muss es wohl. Wir werden weitersegeln. Du wirst es der Mannschaft beibringen müssen. Du bist hier der Kapitän, oder etwa nicht?"

  Morgaine machte einen harten Schritt auf ihn zu, ihre Absätze knallten laut auf den Planken. „Natürlich, Nick. Ich bin der Kapitän, und an mir bleibt jede Scheiße hängen, die du auf diesem Schiff verursachst. Nur, damit wir das geklärt haben: ich bin am längeren Hebel, und wir steuern Alpha Centauri an, ob es dir passt oder nicht!"

  Nicolas unterdrückte ein Aufseufzen. Es war klar gewesen, dass Morgaine ihm nicht einfach gehorchen würde. Dann werde ich wohl etwas tun müssen, was mir nicht gefällt. Ich hasse es so sehr, nicht ich zu sein. Die Bestie loslassen ist immer gefährlich. Vorsichtig lockerte er seine Selbstkontrolle, die seinen Wolfsanteil im Zaum hielt. Seine mentale Barriere zeigte einen winzigen Riss, und mit der Gewalt eines Rammbocks stürmte der Wolf vor und schlug seine Krallen in sein Bewusstsein. Mühsam kämpfte Nicolas um seine Menschengestalt, und er spürte, wie die Knochen unter seinem Gesicht krampfhaft zuckten. Ich bin stärker als Morgaine, redete er sich ein, doch er wusste, dass es nicht wahr war.

  Er hatte es stets verabscheut, ein Wolf zu sein, ein Ungeheuer, ein wahllos tötendes Raubtier. In seinem ganzen Leben hatte er an zwei Jagden teilgenommen. Als sein Vater beschlossen hatte, dass es Zeit für den Jungen war, den Wolf zu erwecken war, hatte er das Kartell zum Haus der Zafiros gerufen. Alonzo de Oro hatte versucht, es ihm so leicht wie möglich zu machen, indem er dem Toten den Kopf abgerissen und das Herz freigelegt hatte, bevor Nicolas die unterirdische Halle betrat. Trotzdem würde der Erbe des Zafiro-Kartells niemals den Anblick der Leiche auf dem steinernen Altar vergessen, das Blut ein rubinfarbener See um den Körper, der Brustkorb aufgerissen und die klaffende Wunde dort, wo einmal der Kopf gewesen war.

   Um ihn herum, in der Dunkelheit der Katakomben, huschten die Wölfe von Zafiro herum, begleitet vom Klackern der Krallen auf dem Felsboden und gedämpftem Knurren. Zwei Feuer brannten neben Altar und enthüllten flackernd die Schatten der Werwölfe um sie herum. Eine Priesterin des Geistes der Jagd tanzte und sang jammernd zum Klang von Trommeln, die in dem Gewölbe hundertfach verstärkt widerhallten.

  Zwar hatte Nicolas seinen Vater immer geliebt, gefürchtet und bewundert, als einen beflissenen Mann, unbeeinflusst von den finsteren Machenschaften der Bruderschaft, die ihm als Kind immer wie seine Gegner vorgekommen waren, doch in diesem Moment hatte er begriffen, dass auch er ein Teil dieser grausamen Gesellschaft war. Es stank nach Tod und Feuer, zwei Dinge, die fast jede Kreatur auf der Welt fürchtet, und die fließenden Bewegungen seines Vaters waren zu unmenschlich gewesen, als dass Nicolas keine Angst gehabt hätte. Nie wieder hatte er Alonzo so gesehen, gekleidet in die schwere, prächtige Kleidung, die er immer trug, mit einem trägen, zufriedenen Gesichtsausdruck, der seine ständigen Sorgenfalten verschwinden ließ. Doch was Alonzo dann getan hatte, suchte Nicolas noch heute in seinen Träumen heim.

  Der Anführer des Zafiro-Kartells hatte den Arm im Brustkorb des Toten versenkt, und als er ihn wieder herauszog, war er bis zum Ellenbogen in Blut getränkt, das beinahe hypnotisch am Stoff seines Hemdes heruntertropfte. In der Hand hielt er ein Herz, und in diesem Moment bildete Nicolas sich ein, dass es schlug. Namenloses Entsetzen ergriff ihn, und er wäre beinahe davongerannt, doch er wollte seinen Vater mit Stolz erfüllen. Voll Panik trat er einen Schritt nach vorn, auf den Altar und die tanzende Priesterin zu, und noch einen, bis er vor der Leiche stand. Mit roten, glitschigen Fingern reichte Alonzo Nicolas das Herz, der ihn mit panischen Blicken anstarrte.

  „Iss, und begib dich in die Arme deiner Seele", hatte sein Vater mit schwerer Zunge gesagt.

  Die Wölfe heulten und knurrten, als Nicolas verzweifelt um sich sah. Er erkannte niemanden von ihnen, obwohl er wusste, dass es die Männer waren, die am Tage mit ihm an der Tafel im Herrenhaus gesessen hatten.

  „Iss", wiederholte Alonzo, „und werde wahrlich zu einem von uns. Die Bruderschaft ruft dich, Nicolas de Oro, in ihre Reihen, in die Meute des Geistes, der uns stets führen wird. Verzehre den Schlüssel und erweitere deinen Horizont!" Das Geheul schwoll an, die Trommeln beschleunigten, die Priesterin schrie, und Nicolas überwand seinen Ekel und biss in das Herz.

  Es war zäh und sein Mund füllte sich mit schwerem, salzigem, metallischem Blut. Als er schluckte, rebellierte sein Magen, und er spürte, wie das Fleisch wieder nach oben drängte. Er wollte das Herz wegwerfen, doch ein warnender Blick seines Vaters hielt ihn davon ab, und er nahm zitternd einen weiteren Bissen. Ein Wolf schlich auf sie zu, näherte sich der Leiche, doch Alonzo wirbelte herum und grollte laut und warnend. Mit eingezogenem Schwanz kroch der Wolf zurück in die Dunkelheit.

  Als Nicolas den letzten Bissen in den Mund stopfte, war ihm so schlecht, dass er fast zusammenbrach. Sein Mund und seine Hände trieften vor Blut, und er sah seinen Vater mit dem Blick tiefster Angst und Verzweiflung an. Alonzo lächelte und riss Nicolas' Arm in die Höhe. Die Wölfe heulten, als Alonzo laut die Aufnahme seines Sohne in die Bruderschaft verkündete, doch Nicolas hörte nicht zu. Zu sehr war er damit beschäftigt, das Fleisch nicht wieder hochzuwürgen.

  Wenige Tage später spürte er, wie etwas im hintersten Winkel seines Bewusstseins sich regte. Als er danach griff, sprang ihn seine Wolfsgestalt an, umhüllte ihn und zog ihn zu sich herab. Nach seiner Verwandlung irrte Nicolas panisch, von Schmerz gepeinigt und hungrig durch das Herrenhaus, bis sein Vater ihn fand und ihn dazu brachte, sich wieder zurückzuverwandeln. Alonzo beteuerte, dass niemand durch ihn zu Schaden gekommen war, doch Nicolas bemerkte schon bald, dass zwei der Dienstmädchen fehlten. Er schwor sich, sich nie wieder zu verwandeln.

  Als auch Rusty seine Aufnahme bestanden hatte, begannen die ersten Jagdfeste für die Jungen. Während Rusty sogar etwas Spaß am Jagen und Töten hatte, verabscheute Nicolas es zutiefst. Drei Menschen tötete er, gefolgt von schrecklichen Vorwürfen. Als einer der Gefolgsmänner seines Vaters ihm ein lebendiges Mädchen brachte, das er missbrauchen sollte, damit das Zafiro-Kartell wuchs, ließ er es frei. Nur zweimal aß er nach dem Initiationsritus Menschenfleisch, doch sobald er wieder ein Mensch war, erbrach sich beinahe vor Selbstekel. Sein Vater sorgte sich um ihn und fürchtete, dass er als Anführer von den anderen Oberhäuptern nicht ernst genommen werden würde, solange er sich nicht in einen Wolf verwandeln wollte.

  Doch Nicolas hatte vor, nicht als Bestie zu regieren, sondern als Mensch.

  Wild kämpfte er gegen den Wolf an, ließ ihn an die Oberfläche kommen, aber nicht durchbrechen. „Wir segeln an Alpha Centauri vorbei!", grollte er keuchend und undeutlich.

  Morgaine legte den Kopf schief. „Nick, du hast wohl etwas vergessen. Ich gehöre auch der Bruderschaft an. Wenn du deine Skrupel gegenüber dem Töten nicht abgelegt hast, dann solltest du wissen, dass ich es nicht geschafft habe, meine Skrupellosigkeit loszuwerden!" Mit einem Grollen stürzte sie auf ihn zu, als eine Schwertklinge zwischen sie und ihn schoss.

  Ruckartig hob Nicolas den Kopf, und diese Sekunde der Ablenkung nutzte der Wolf in ihm, um weiter vorzudringen. Seine Knochen knackten laut, an den Rändern seines Blickfeldes schimmerte es schwarz und ein hohes, heulendes Geräusch breitete sich in seinem Kopf aus. Mühsam rang er den Wolf nieder, der lockend nach ihm rief, dann sah er auf.

  Roxane stand vor ihm und Morgaine, das Schwert in der Hand. Ihre dunklen Locken wehten im Wind, ihre Kleidung flatterte, und die Angst stand ihr in den Augen. Sie ist wunderschön. So wunderschön, dachte Nicolas verzaubert. „Nicolas, Morgaine! Hört auf! Es nutzt niemandem etwas, wenn ihr euch gegenseitig umbringt", rief sie.

  Morgaine rieb sich das Gesicht, als könnte sie damit den Wolf von ihrer Haut wischen. „Was schlägst du vor?", zischte sie undeutlich. Anscheinend ist sie nicht so fern des Wolfes, wie sie aussieht, bemerkte Nicolas.

  Roxane senkte ihr Schwert nicht um einen Zentimeter. „Verfolgt weiterhin Darnovey. Nicht nur Mr de Oro hat etwas mit einer Person auf der Leviathan zu besprechen." Bei den letzten Worten bebte ihre Stimme.

  Nicolas gestattete sich einen gehässigen Blick zu Morgaine. Genau, Morgaine, tu, was sie sagt. Die Kapitänin knurrte nur leise. „Das mache ich nur für dich. Hast du mich verstanden, Roxane? Er", sie zeigte auf Nicolas, „er kann..."

  Roxane unterbrach sie. „Ich kann ihn ebenso wenig leiden wie du." Diese Wort versetzten Nicolas einen Stich. „Aber versuche wenigstens mit ihm klarzukommen. Warum hast du diese Reise begonnen, wenn du ihn hasst?"

  Nicolas hob herausfordernd das Kinn. Das frage ich mich, seit wir aufgebrochen sind. Er wollte es nicht zeigen, doch es verletzte ihn, dass Morgaine ihn so schlecht behandelte. Es widerstrebte ihm jedoch, sie direkt zu fragen. Zu sehr fürchtete er ihren Spott. Ich habe mir hier den Ruf des arroganten Nichtsnutz aufgebaut, das werde ich nicht mehr los. Wenn ich auch nur einen kleinen Funken Schwäche zeige, dann bin ich noch näher am Boden, als ich ohnehin schon bin.

  Morgaine starrte sie an. Nach einem Moment straffte sie die Schultern. „Es geht ums Geld. Er gibt mir viel Geld dafür, dass..."

  Roxane ließ sie erneut nicht zu Ende reden. Nicolas zog die Augenbrauen nach oben. Jeder andere hätte sich dafür einen Schlag ins Gesicht eingefangen, aber sie nicht. Morgaine muss sie wirklich mögen. „Morgaine", sagte sie und ließ endlich das Schwert sinken, „das ist nicht wahr. Geld kann dir jeder andere auch bieten. Was kann er, was alle anderen nicht können?"

  Morgaine erstarrte und leckte sich langsam über die Lippen. Nicolas beobachtete sie genau, um ihre Miene lesen zu können, doch ihr Gesichtsausdruck bleib bei Trotz, Ärger und Wut. Sie sah lange in die Runde. „Das erzähle ich dir ein anderes Mal", sagte sie barsch, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging davon.

  Nicolas sah zwischen ihr und Roxane hin und her, als er merkte, dass er nichts mehr wissen wollte, als den Grund, warum Morgaine der Reise zugestimmt hatte. Gibt es denn einen anderen Grund als Geld? Doch er verschob den Gedanken, als er merkte, dass er nun Roxane allein gegenüberstand. Ihre Blicke kreuzten sich. Nicolas räusperte sich und wandte sich an Roxane. „Danke, Ro... Miss Blackheart, für Euer Eingreifen. Kann ich mich irgendwie dafür revanchieren?"

  Sie sah ihn an, in ihrem Gesicht fochten Abscheu und der Versuch, eine höfliche Miene zu wahren, einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft. Schließlich sagte sie mit neutraler Stimme: „Nein, Mr de Oro. Mein Handeln erfordert keine Gegenleistung."

  Nicolas spürte, wie ihm der Schweiß auf dem Rücken stand. Hastig suchte er nach einem Weg, das Gespräch aufrechtzuerhalten, doch Roxane hatte sich schon umgedreht und war davongegangen. Er seufzte leise. Wie soll ich jemals ihr Herz erobern, wenn sie nicht mal mit mir reden will?

  Wie so oft, wenn er in Gedanken versunken war, tauchte Rusty neben ihm auf. „Das mit Morgaine war ziemlich knapp, oder?"

  Nicolas nickte nur.

  „Weißt du, was sie wollte?"

  „Sie wollte in Alpha Centauri anlegen, aber dadurch, dass Darnovey dort angelegt hat, hat er Zeit verloren. Die können wir jetzt aufholen, indem wir nicht dorthin segeln. Wir haben nur fast keine Vorräte mehr, also wird ab jetzt rationiert", erklärte Nicolas ihm die Lage.

  Rusty verzog das Gesicht. „So, wie sie reagiert hat, scheint sie dich ja regelrecht zu hassen."

  Nicolas nickte wieder. „Da hast du recht. Es gibt da etwas, was Roxane gesagt hat, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht..."

  Rusty schnaubte. „Alles, was Roxane jemals gesagt hat, geht dir nicht mehr aus dem Kopf."

  „Es geht um Morgaine. Roxane hat gesagt, dass Morgaine mein Angebot nicht angenommen hat, weil sie das Geld braucht. Sondern dass es einen anderen Grund gibt."

  Rusty riss die Augen auf. „Bei allen Geistern, glaubst du, es geht um..."

  „Port Liberty, ja." Nicolas sah seinen besten Freund an. „Ich dachte immer, dass sie darüber hinweg ist..."

  „Verdammt, Nicolas. Natürlich hat sie dich geliebt, aber als sie die Sache mit... Na ja... sie war schon immer etwas fordernd. Ich weiß es gar nicht mehr, wer von euch hat es beendet?"

  „Sie." Nicolas sah auf die dunkle See hinaus. „Sie wollte mehr, und ich will mich für meine Hochzeit aufhalten, und das weißt du."

  Kopfschüttelnd kratzte Rusty sich an der Nase. „Beim Geist der Jagd, du weißt nicht, was du verpasst." Als Nicolas zu einer Antwort anheben wollte, unterbrach er ihn. „Nein, Nicolas, ich werde es nie verstehen. Aber denkst du wirklich, dass sie dich jetzt zurückhaben will? Nach so vielen Jahren? Ich meine, sie hat sich sicher Ersatz geholt." Er machte eine ausladende Geste, die das ganze Schiff einbezog. „Lauter junge Männer, die sich auf jedes weibliche Wesen stürzen wie Geier auf ein totes Pferd. Warum nicht?"

  „Aber denkst du nicht, dass diese Männer nur...Trostpflaster sind? So wie deine Huren für...Rizabelle?", fragte Nicolas behutsam.

  Rusty versteifte sich. „Ja, das kann sein", sagte er. Sein Tonfall machte deutlich, dass er das Thema wechseln wollte.

  Nicolas beließ es dabei. Seine Gedanken kreisten um eine Frage, die so mächtig war, dass sie sogar seine allgegenwärtigen Gedanken an Roxane vertreiben. Liebt Morgaine mich immer noch, und hat sie mein Angebot nur angenommen, damit sie mich irgendwie zurückbekommt?

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