2. Ein Verdacht

Soulless body with an empty shell

Killer, Reaper, who are you?

- Volbeat, 7 Shots


Durchnässt und müde betrat Nicolas wieder festen Boden und betrachtete den Hafen von Amostown. Eine Hafenstadt, mit Tavernen und Pubs in rauen Mengen, überschattet von der gigantischen Obsidianfestung. Trotz seines Namens war die ehemalige Burg Auray Blackhearts aus Granit, der selbst an sonnigen Tagen das Licht zu verschlucken schien, und an diesem verregneten Tag schien sie wie ein schwarzes Loch.

Vielleicht sind auch nur meine Gedanken so finster, weil mein Vater tot ist und ich ein großes Erbe auf meinen Schultern trage, sinnierte er, während er zu seiner Kutsche ging. Viel lieber wäre er mit seiner Mutter zurück nach Crystal, in seine Heimat, gesegelt, doch er musste zum Rat der Bruderschaft, und die erste seiner Pflichten als Erbe des Virrey-Kartells antreten.

Schwer ließ er sich in die Polster der Kutsche sinken und wiederholte in Gedanken seine Vorsätze für den Moment, an dem er vor die anderen Anführer treten musste. Keine Angst zeigen. Mit ruhiger Stimme sprechen. Gut über das, was ich sagen möchte, nachdenken und aus allen Blickwinkeln beleuchten. Versuchen, nicht zu machtgierig zu wirken. Er hoffte inständig, dass er vor dem Rat als intelligenter, nicht zu unterschätzender Mann stehen konnte und seine Unerfahrenheit so gut wie möglich vertuschen konnte.

Mit diesen Gedanken entledigte er sich seiner feuchten Kleidung und schlüpfte in trockene, als sich plötzlich die Tür zum Verschlag öffnete und Hector Stanraer hineinstieg. Hastig zog er sein Hemd an und strich sich nervös die Haare aus dem Gesicht. „Mr Stanraer, Ihr habt mich überrascht. Wie kommt es zu eurem Besuch?", erkundigte er sich beunruhigt. Seine Gedanken rasten. Was will er hier? Was hat er vor? Will er mir etwas antun?

Stanraer lächelte beruhigend, oder zumindest vermutete Nicolas, dass es ein freundliches Lächeln werden sollte, doch es erreichte seine Augen nicht. „Mr de Oro, es tut mir leid, falls ich Euch erschreckt haben sollte, aber es geht um eine Angelegenheit, die ich nicht in der Öffentlichkeit besprechen wollte."

Nicolas sammelte sich und sah Hector in die Augen. „Worum geht es?"

Hector warf ein paar Blicke um sich und beugte sich näher zu Nicolas. „Mr de Oro, es geht um Euren Vater."

Überrascht zog Nicolas die Augenbrauen zusammen und lehnte sich nach hinten. „Was soll mit ihm sein? Hat er euch etwas getan? Damit habe ich nichts zu tun. Es waren seine Geschäfte und nicht..."

Stanraer unterbrach ihn. „Ich habe einen Verdacht, dass er vielleicht nicht des natürlichen Todes gestorben ist, wie es den Anschein macht." Er sah sich erneut um, obwohl es in dem dunklen Kutschenverschlag nichts zu sehen gab. „Ich glaube, er wurde vergiftet!"

„Das ist vollkommen abwegig. Er hat in seinen letzten Lebenstagen niemanden außer seinen Angestellten und seiner Familie zu sich gelassen. Also, Mr Stanraer, wenn Ihr keine Beweise für eure hanebüchene Theorie habt, bitte ich Euch, meine Kutsche zu verlassen", versuchte Nicolas den Mann zu vertreiben, in der Hoffnung, nach dem fähigen Anführer zu klingen, der er sein wollte.

Doch Hector schien sich ganz und gar nicht von seinem Ausbruch aus der Ruhe bringen zu lassen. „Ich habe ihn schon länger im Verdacht, wisst Ihr?"

„Wen?", hakte Nicolas nach, nun doch von der Neugier gepackt, und beugte sich zu Hector.

„Ravan Bane Darnovey." Nicolas wollte zu einer entgeisterten Antwort ansetzen, doch Hector ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ja, er sieht unschuldig aus. Als könnte er kein Wässerchen trüben. Aber er ist es nicht im Geringsten!"

„Wie kommt Ihr darauf, dass er nicht der gewöhnliche Anführer der Virreys ist, der er zu sein scheint? Und woher soll ich wissen, dass Ihr nicht versucht, mich in den ewigen Streit zwischen Virrey und Crusader hineinziehen wollt?", zischte Nicolas misstrauisch.

„Es beruht auf die Ereignisse vor vier Jahren", flüsterte Hector, offensichtlich in der Hoffnung, dass bei Nicolas der Groschen fallen würde.

Doch er konnte nichts vorstellen, worauf Hector hinauswollte. „Was war vor vier Jahren?"

Der alte Crusader konnte seinen aufgeregten Tonfall nicht länger zurückhalten. „Vor vier Jahren kehrte Ravan Darnovey aus der Verbannung zurück. Und keine Woche, nachdem er zum ersten Mal wieder in Crusadia gesichtet worden war, starb sein Bruder, ermordet von dem mysteriösen Lilienmörder, der damals auf den Inseln sein Unwesen trieb, und er bekam Dante Darnoveys Posten als Oberhaupt des Virrey-Kartells. Es ist bekannt, dass Ravan immer nach dem Erbe seines Bruders trachtete, und dass sich die Brüder zeit ihres Lebens hassten. Ist es nicht ein wenig zu viel des Glücks für Ravan, dass er, kaum dass er aus dem Exil zurückkommt, auf den Posten seines plötzlich verstorbenen Bruders aufrücken kann?"

„Ihr wollt damit also andeuten, dass nicht der Lilienmörder an Dante Darnoveys Tod schuld ist, sondern sein eigener Bruder?", fragte Nicolas skeptisch nach. Er hatte einiges über den Lilienmörder gehört, angeblich war er ein Assassine gewesen, mit dem Auftrag, die Bruderschaft auszulöschen. Er tötete seine Opfer stets mit einem Schuss in die Stirn, schnitt ihnen die Kehle durch und steckte eine Lilie in das Einschussloch, als Signatur. „Wurde Dante nicht mit den typischen Merkmalen aufgefunden?"

„Doch, schon, aber sie sind leicht zu fälschen. Was ist, wenn es sogar Ravan war, der den Lilienmörder beauftragte? Und mit ihm seine Rückkehr plante?" Hector wurde zusehend aufgeregter, je mehr Interesse Nicolas zeigte. Zwar wollte der junge Mann sich zurückhalten, aber Hectors Verschwörungstheorie war zu faszinierend, als dass er weghören konnte.

„Was hat das alles mit meinem Vater zu tun?", besann sich Nicolas auf das eigentliche Thema, in der Hoffnung, nicht allzu offen für die Geschichten seiner Feinde zu erscheinen. Denn das wusste er: die anderen Oberhäupter waren niemals seine Freunde.

Hector rutschte auf seinem Sitz herum, als könnte er es kaum erwarten, die große Auflösung zu enthüllen. „Ich weiß, dass Ravan Pläne hat, ich habe ihn heute mit Salvatore Falcony belauscht. Ich glaube, er hat Euren Vater getötet, damit Ihr, als junger und unerfahrener Anführer, nachrückt und er Euch für seine Pläne missbrauchen kann. Sie könnten eine zweite Rebellion starten wollen!"

„Und wie soll er den Mord bewerkstelligt haben?"

Hector zuckte theatralisch mit den Schultern. „Wie man einen unauffälligen Mord eben ausführt. Vielleicht ein gedungener Mörder. Habt Ihr in der letzten Zeit neue Bedienstete in Eurem Anwesen eingestellt?"

Nicolas wollte schon verneinen, als ihm der neue Koch einfiel. Langsam nickte er. Ein Koch. Er hätte meinen Vater mit Leichtigkeit vergiften können. Er hätte zwar nie den Schneid gehabt, ohne Antrieb Gift ins Essen zu mischen, aber für die richtigen Summe hätte er es sicher getan.

Er glaubte Hector. Es machte Sinn. Sein Vater war zwar alt gewesen, aber bis vor wenigen Wochen hatte sich noch kein Zeichen seines baldigen Ablebens gezeigt. Jetzt muss ich mich wirklich vorsehen.

Eine Frage brannte ihm jedoch auf der Zunge. „Warum erzählt Ihr mir das alles? Was hattet Ihr mit meinem Vater zu tun?"

Hector seufzte. „Wir kämpften Seite an Seite gegen den wahnsinnigen Blackheart. Im Blackshore-Krieg. Ravans Vater Kingsley kämpfte gegen uns. Kingsley Darnovey höchstpersönlich nahm Alonzo gefangen und lieferte ihn an Auray aus, und deswegen hatte er seine Verletzungen."

Alonzo war mit etlichen Verletzungen aus seiner Geiselhaft zurückgekehrt. Er war regelrecht entstellt gewesen, durch Schnitte, Folter, Verbrennungen und andere Qualen, die er in den Kerkern der Obsidianfestung hatte erleiden müssen. Nicolas erinnerte sich, wie sein Vater ihm und seinen Geschwistern davon erzählt hatte, von seiner Folter und wie er nach Verstümmlungen gegen einen ausgeruhten und aggressiven Auray Blackheart hatte kämpfen müssen. In Wolfsgestalt und mit abgerissenen Zehen war er von Auray beinahe zerfetzt worden.

Nicolas fiel etwas auf. „Wieso läuft es immer auf diesen Krieg hinaus? Er ist Vergangenheit, es gibt den Rat, und es herrscht Frieden zwischen den Kartellen! Eure Theorie ist verständlich, ich glaube Euch, aber warum wollt Ihr Zwietracht zwischen den Kartellen säen?"

„Mr de Oro, es läuft immer auf diesen Krieg hinaus. Er mag zwar fünfundzwanzig Jahre her sein, und Ihr wart damals noch nicht einmal geboren, aber dieser Krieg beeinflusst unser aller Denken bis heute. In manchen Köpfen bestehen die alten Allianzen bis heute, und denen, die der anderen Seite angehörten, wird misstraut. Und es herrscht kein Friede zwischen den Kartellen. Es ist ein freundliches Lächeln, und hinter unseren Rücken halten wir die Messer bereit. Der Rat ist ein Verband auf einem Bauchschuss. Er ist ein Aufschieben des Unvermeidlichen. Früher oder später werden sich die Kartelle wieder an die Kehlen gehen, ob mit Allianzen oder jeder gegen jeden, aber es wird ein Krieg kommen. Wir versuchen nur, den Frieden möglichst lange am Leben zu erhalten."

„Und das soll funktionieren, indem Ihr Ravan Darnovey des Mordes an meinem Vater verdächtigt?" Das kam Nicolas reichlich widersprüchlich vor.

„Ich will keinen neuen Krieg auslösen. Ich will Euch nur vor ihm warnen, und hoffen, dass niemand im Rat so dumm ist und seine Pläne billigt. Er hat immer einen Hintergedanken, der seine eigenen Ziele verfolgt, selbst wenn sie im ersten Moment auch für einen selbst nützlich erscheinen, werden sie ihm am meisten nützen. Vielleicht wollen wir ihn eines Tages absetzen und jemand anders als Oberhaupt der Virreys einsetzen, der nicht so auf sich fixiert ist. Dann können wir den Frieden auch noch länger bewahren." Hector packte Nicolas an den Schultern. „Mr de Oro, traut ihm niemals. Nicht ihm, nicht Salvatore Falcony und nicht Maura Ithakea und auch nicht meinem Sohn. Passt auf Euch auf. Ihr seid vielversprechend."

Er wollte gerade aussteigen, als er innehielt. „Und Ihr hattet unrecht."

„Mit was?", fragte Nicolas.

„Mit Eurer Annahme, seine Angelegenheiten seien seine und nicht Eure. Es sind Eure. Alles, was er getan hat, sind jetzt Eure Probleme. Ihr habt alles geerbt. Von einem Anwesen über Schiffe und Geschäftspartner und Geld bis zu Streitigkeiten mit anderen Familien. Das ist die wahre Bedeutung von Erbe."

Er stieg aus und schlug die Tür zu. Nicolas saß mit aufgewühlten Gedanken in der Finsternis. Als die Kutsche rumpelnd anfuhr, spürte er das Gefühl, das er eigentlich versucht hatte, von sich fernzuhalten.

Die Angst überfiel ihn wie ein wildes Tier, und er saß zitternd und panisch im Dunkeln, zu einem Ball zusammengerollt, und hoffte, sie würden die Obsidianfestung niemals erreichen.

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