11. Die Aufgabe
We have no choice, it's you who are the bad guys
You've taken it all and yet you still dare to fault
- Turisas, Hunting Pirates
Eingehüllt in einen dunklen Kapuzenmantel lief Nicolas durch die Gassen von Amostown. Die warme Tropensonne brannte auf das schwarze Leder und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er war noch keine drei Straßenecken weit gekommen, als ihm die warme Flüssigkeit auch schon den Rücken hinunterlief und sein Hemd durchnässte. Trotzdem zog er ihn nicht aus. Viel zu einfach wäre es sonst für seine Feinde gewesen, ihn zu erkennen und seine Verbindung zu Hector Stanraer aufzudecken.
Ratlos blieb er stehen, auf einer einsamen Kreuzung zweier Gassen. Weit und breit war keine lebendige Seele zu sehen, nur eine einsame Katze saß auf einer Türschwelle. Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Ich muss irgendwo falsch abgebogen sein. Wütend verzog er das Gesicht. Hector hatte ihm genau den Weg zu ihrem geheimen Treffpunkt beschrieben, doch das Gewirr der Straßen in Amostown war verworren wie die Fangarme einer gigantischen, wuchernden Schlingpflanze, und es war zu einfach, sich zu verirren.
Als er Schritte hinter sich hörte, wurde ihm mulmig zumute. Er hatte zu viele Geschichten gehört über die Banden, Räuber und Halsabschneider von Amostown, die unaufmerksame und unerfahrene Leute nur zu gerne ausraubten. Kurz fragte er sich, ob er wenigstens zur Notwehr dem Ruf seines wölfischen Teils nachgeben würde, wurde aber mit einem Blick auf den Menschen davon überzeugt, dass es nicht nötig war. Ein alter gebückter Mann humpelte durch die Gasse, der ihn mit einem Blick bedachte, der den eindeutigen Gedanken ausdrückte: Dieser Irrsinnige mit dem Mantel im Sommer ist doch verrückt.
Nicolas bedachte ihn mit einem flüchtigen Lächeln, selbst wenn es unter seiner Kapuze so gut wie unsichtbar war. Sein Herz raste. Verdammt, ich werde schreckhaft. Oder ist es nur diese unbekannte Stadt, und dass selbst dieser alte Mann der Bruderschaft des Lykaon angehören könnte? Und mich auf der Stelle töten könnte, wenn er sich etwas davon verspräche? Schnell schüttelte er den Gedanken ab. Es hatte keinen Sinn, Amostown zu verteufeln. Die Stadt würde jedes Jahr für vier Wochen sein Arbeitsplatz sein, und er war gezwungen, sich dorthin zu begeben. Seufzend drehte er sich einmal im Kreis und beschloss, den gleichen Weg zurückzugehen, den er gekommen war.
Einige Minuten später, die Nicolas wie endlose Stunden in der erdrückenden Hitze seines Mantels vorkamen, fand er das schmale Haus, das Hector ihm beschrieben hatte. Eingeklemmt zwischen einer Taverne und einem Gewürzladen und beinahe unsichtbar hinter deren ausladenden bunten Markisen, war es auch geradezu tröstend für Nicolas, als er bemerkte, dass er mehrmals an dem Haus vorbeigegangen war und es nicht entdeckt hatte. Nur jemand, der die Stadt sehr gut kennt, hätte es auf dem ersten Blick gefunden, redete er sich ein.
Sobald er das Haus betreten hatte, riss er sich den Mantel vom Leib. Die kühle Luft strich ihm eisig über seinen verschwitzten Rücken, sodass er fröstelte. Langsam schlich er durch das Haus in das enge Wohnzimmer, gefüllt mit Regalen, die sich bogen unter dem Gewicht alter Relikte, einem dreibeinigen Stuhl und einem wuchtigen Sessel, in dem Hector Stanraer thronte, der ihn mit seinen eisblauen Augen erwartungsvoll ansah. „Ihr seid spät dran", bemerkte er.
„Verzeiht, aber ich hatte mich verirrt", entschuldigte Nicolas sich.
Ein missbilligender Ausdruck huschte über Stanraers Gesicht, doch er sprach Nicolas' Verspätung nicht an. „Mr de Oro, Ihr fragt Euch sicherlich, warum Ihr hier seid."
Nicolas sah sich in dem dunklen Zimmer um. „Damit wir uns ungestört unterhalten können, ohne, dass unsere Zusammenarbeit aufgedeckt wird, denke ich."
Leichte Geringschätzung legte sich über Stanraers Miene. „Da habt Ihr recht. Einerseits. Andererseits habe ich eine Aufgabe für Euch. Es betrifft unseren gemeinsamen Feind. Ravan Darnovey."
Nicolas richtete sich auf. „Ich werde die Aufgabe zu Eurer Zufriedenheit erledigen", sagte er überzeugt.
Stanraer lächelte mit einer Milde, mit der man kleine Kinder ansieht, wenn sie laut herumposaunen, dass sie edle Ritter werden wollen, aber nicht einmal wissen, an welchem Ende man ein Schwert hält. „Das wird sich zeigen. Meine Spione berichten mir, dass Ravan Darnovey am heutigen Morgen mit einem Schiff in den Norden gesegelt ist. Könnt Ihr Euch vorstellen, warum er gerade jetzt das Land verlässt?"
Nicolas nickte eifrig. „Während der Ratssitzung hat er erzählt, dass er plant, den König von Abisyala zu töten. Damit möchte er einen Krieg in den Kriegerstaaten auslösen, um uns Geld einzubringen. Ich habe ihn davon abhalten wollen, aber ich konnte vor all den anderen Kartell-Oberhäuptern ihn nicht beschuldigen, einen egoistischen Hintergedanken zu haben. Schließlich bin ich das neueste Kartell-Oberhaupt und wenn ich bei meiner ersten Ratssitzung anfange, die erfahrenen Anführer zu beschuldigen, habe ich niemals die Chance, dort Verbündete zu finden."
„Also ist er in den Norden gesegelt, um den König zu töten." Stanraer legte die Fingerspitzen aneinander. „Meine Aufgabe für euch ist es, ein Schiff zu finden, dessen Kapitän Stillschweigen über seinen Auftrag halten kann, und dass Ihr Darnovey verfolgt und aufhaltet. Tötet ihn, wenn es sein muss, aber mir wäre es lieber, wenn Ihr ihn gefangen nehmt und wieder hierher zurückbringt, wo er von den Oberhäuptern für seine Verbrechen bestraft werden soll."
„Ich werde ihn zurückbringen, das schwöre ich Euch", versprach Nicolas.
„Das hoffe ich", sagte Stanraer und erhob sich ebenfalls von seinem Sessel. Mit großer Geste reichte er Nicolas die Hand. „Mr de Oro, viel Glück. Meine Spione werden Euch auf dem Laufenden halten."
Nicolas bedankte sich, zog sich wieder seinen Mantel über und verließ das Haus. Nach der schattigen Kühle schlug ihm die erdrückende Hitze noch stärker ins Gesicht. Nach ein paar Metern schlug er sich wieder in das Gassengewirr, wo er sich seines Mantels entledigte und ihn über den Arm legte. So von seiner kleinsten Sorge befreit, machte er sich auf den Weg zum Hafen.
Als er an einer Taverne vorbeiging, hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief. Er wandte sich um, und er sah ein vertrautes Gesicht neben dem Eingang stehen. Eine nette Überraschung! Grinsend trat er auf den Mann zu, ein gutaussehender Kerl mit hellblauen Augen und der gebräunten Haut eines Mannes, der viel unter der Sonne arbeitete. Als er die Hand hob, war an seinem Handgelenk das Zeichen des Zafiro-Kartells zu sehen, ein eingebrannter, stilisierter Diamant.
„Rusty. Wie kommt es, dass du in der Stadt bist? Warum bist du nicht auf deinem Schiff?", fragte Nicolas ihn.
Rusty verzog das Gesicht. „Der Kapitän hat mich gefeuert. Ich habe mich mit einem der Männer gestritten und wir sind handgreiflich geworden. Wir wurden beide vom Schiff verwiesen, und ich suche dich, seit ich heute morgen hier angekommen bin."
Nicolas hob die Augenbrauen. „Ich wusste nicht, dass Schmuggler den Frieden an Bord so ernst nehmen."
„Kapitän Rourley schon. Aber sag mir, was hat du hier in der Stadt verloren? Du warst nie die Sorte Mann, die sich in den Straßen auf der Suche nach einem kühlen Bier und einer hübschen Hure umschaut."
Kurz hielt Nicolas inne. Kann ich ihm vertrauen?, fragte er sich, beantwortete die Frage aber selbst. Rusty war die Person auf der Welt, der er am meisten vertraute. Die beiden Männer kannten sich seit ihrer Kindheit. Nachdem Rustys Eltern im Blackshore-Krieg umgekommen waren, hatte er bei seinem Onkel gelebt, der ebenfalls gestorben war, als Rusty sechs Jahre alt war. Alonzo de Oro hatte den Jungen aufgenommen, und Rusty war Nicolas' bester Freund geworden. Zusammen waren sie auf der Kadettenschule von Port Liberty gewesen, wo sie das Handwerk der Seemänner gelernt hatten, waren einige Jahre zusammen mit Schmugglern über die südlichen Meere gesegelt, bis Nicolas nach Pirate's Head, seine Heimatstadt zurückgekehrt war, um seinem Vater zu helfen. Seitdem hatten sich die beiden nur noch selten getroffen.
Nicolas lehnte sich näher zu Rusty. „Ich muss einen Mann verfolgen, der schuld am Tod meines Vaters ist. Er ist nach Norden geflohen, wo er seinen nächsten Mord plant, und ich muss ihn aufhalten. Weißt du zufällig, ob es im Hafen ein Schiff gibt, mit dem wir ihm hinterher reisen könnten?"
Rusty zuckte mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand durch seine dunkelbraunen, schulterlangen Locken. „Da müssten wir zum Hafen gehen, denn es kommen täglich so viele Schiffe an, dass nur der Hafenmeister den Überblick behält. Und ist dein Vater nicht eines natürlichen Todes gestorben?"
Nicolas schüttelte den Kopf. „Ich habe gehört, dass er wahrscheinlich vergiftet wurde. Von Ravan Darnovey, vielleicht sagt dir der Name etwas."
Rusty riss die Augen auf. „Bei den Geistern, das ist der Anführer des Virrey-Kartells! Und den willst du aufhalten? Das ist doch wahnsinnig! Wenn der merkt, dass du ihn verfolgst, zermalmt er dich und dein Kartell zu Pferdescheiße!"
Nicolas starrte ihn an, und einige Sekunden herrschte Stille. Dann setzte Rusty hinzu: „Ich komme mit. Wann geht es los?"
„Danke, Rusty." Nicolas war ehrlich erleichtert darüber, dass Rusty ihn begleitete. Etwas Unterstützung durch seinen besten Freund war ihm gerade recht. „Wir segeln, sobald wir ein Schiff gefunden haben."
Rusty stieß sich von der Wand ab, an die er sich gelehnt hatte. „Dann suchen wir einen Kapitän, der dich und mich nach Norden transportiert."
Im Hafen herrschte reger Betrieb, Arbeiter und Matrosen hetzten über die Docks, überwacht von den Kapitänen und den hohen Offizieren. Huren stolzierten durch das Gewühl, scherzten mit den Männern und sicherten sich ihre Kundschaft für den Abend. Karren wurden beladen und Waren durch die Stadt transportiert.
Nicolas fühlte sich regelrecht erschlagen von dem Chaos und den vielen Leuten. Wie sollen wir hier den Hafenmeister finden? Rusty dagegen schien hier zu Hause zu sein, zielstrebig suchte er sich einen Weg durch das Gewusel. Nicolas folgte ihm.
Plötzlich blieb Rusty stehen. „Nicolas, die Frau da drüben. Zwischen dem Minotauren und den Dunkelhäutigen. Ist das nicht Morgaine Silver?"
Nicolas sah in die Richtung, in die Rusty ihm wies. Eine dunkelhaarige Frau in einem fleckigen schwarzen Hemd und engen blauen Hosen diskutierte erregt mit einem fetten Glatzkopf, der sie um mehrere Köpfe überragte, doch sie schien die Oberhand zu haben. So kenne ich Morgaine. Immer die Herrin der Situation. Neben ihr standen die von Rusty beschriebenen Seeleute, der kräftige Minotaurus mit hellbraunem zottigen Fell und der schmale junge Mann mit der dunklen Haut der Haracaner aus den Vereinigten Königreichen.
Mit einem entnervten Seufzen drückte der Mann ihr einen Beutel in die Hand und stapfte beleidigt von dannen. Morgaine reichte dem Minotaurus den Beutel und ging mit ihren Begeleitern davon.
Das ist meine Chance. „Morgaine!", rief Nicolas und begann, sich zu ihr durchzudrängeln, Rusty folgte ihm. Sie reagierte nicht. Nicolas rief erneut ihren Namen, diesmal lauter. Morgaine sagte etwas zu dem Minotauren, der einen Blick über die Schulter warf und ihr antwortete. Als Nicolas und Rusty sie erreicht hatten, drehte sie sich um.
Sie hat sich kaum verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Morgaine Silver war schlank und doch kräftig, mit einem spitzen Charakterkinn und einem stets trotzigen und angriffslustigen Gesichtsausdruck. Die Hand hatte sie auf den Griff ihres Säbel gelegt, den sie selbst damals, in der Kadettenschule von Port Liberty, kaum aus der Hand hatte legen wollen. Dort hatten sie sich zum ersten Mal getroffen.
Morgaine stemmte die Hände an die Hüften und trat einen Schritt auf Nicolas zu. „Nicolas de Oro und Rusty Levasque. Immer noch das gleiche unzertrennliche Pärchen wie damals", stellte sie amüsiert fest. Der Haracaner lachte leise. „Was willst du, Nick?"
Nicolas spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss, als sie seinen alten Spitznamen verwendete. Er atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. „Morgaine, ich muss dich etwas fragen."
Sie legte den Kopf schief. „Was? Beeil dich, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, mit dir zu plaudern."
„Ich muss jemanden verfolgen. Er ist nach Norden gesegelt, und ich frage dich, ob du mir dein Schiff samt Crew und Kapitän zur Verfügung stellst, um ihn zu stellen." Bitte, bitte, sag ja, betete er.
„Wann soll deiner Meinung nach die Verfolgung starten?", fragte Morgaine interessiert.
„So schnell es irgendwie geht."
Morgaine wandte sich an den Minotauren an ihrer Seite. „Murdoch, was hältst du davon?"
Murdoch zuckte mit den Schultern. „Wir sind im Moment ohne Auftrag, und solange die Bezahlung stimmt... Ich denke, dass es eine gute Möglichkeit ist, das Geschäft mit diesem Hurensohn auszugleichen." Er wies mit dem Daumen über seine Schulter, in die Richtung, in die der Glatzkopf gegangen war.
Morgaine überlegte und sagte nach einem Moment: „Ich bin einverstanden. Wir können morgen losfahren." Nicolas hob zu einer Dankesrede an, als sie einen Finger hob. „Aber."
Oh nein. „Aber?", wiederholte Nicolas ängstlich, gefasst auf das Schlimmste.
„Du bezahlst den Proviant. Alles, was wir brauchen an Lebensmitteln, jedes Mal, wenn wir Nachschub kaufen müssen, das bezahlst du. Sonst kannst du dir jemand anders suchen, der dich und deinen nichtsnutzigen kleinen Freund nach Norden kutschiert. Und das könnte schwierig werden." Sie betrachtete ihre schmutzigen Fingernägel. „Und wenn du über Tierra Santa del Este hinaus willst, kann es sein, dass du dir ein neues Schiff suchen musst, was dich wiederum Zeit kostet, die dein Freund, den du hier verfolgst -"
„Er ist nicht mein Freund. Er hat meinen Vater getötet!", unterbrach Nicolas sie heftig.
Morgaine sah ihn an mit dem Ausdruck belustigter Geringschätzung und hob abwehrend die Hände. „In Ordnung, dann eben der Mörder deines Vaters, den du hier verfolgst, nutzen kann, um dir davonzusegeln. Dafür segle ich da hin, wo du hinwillst, aber dafür bezahlst du eben unser Essen." Sie reichte ihm eine Hand. „Einverstanden?"
Das wird teuer. Aber dafür kann ich Darnovey schnell verfolgen und ich bin nicht an den Willen eines anderen Kapitäns gebunden, der seine Geschäfte abschließen muss und womöglich an jedem Hafen anlegt. Nicolas' Entscheidung fiel, und er schüttelte Morgaines Hand. „Einverstanden."
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