1. Regen

Musik zum Buch findet ihr in der Spotify-Playlist. Zu finden im externen Link am Ende des Kapitels.

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All those you've loved

All those who've died

All we have left is what lives in our mind

- Billy Talent, Cure for the Enemy


Der Regen fiel auf das Deck des Schiffes, durchnässte schwarze Kleider, Mäntel und Hosen, lief in Stiefel und rann in Krägen, durchweichte nutzlose Regenschirme und vermischte sich mit den Tränen, die die Wangen der Witwe herunterflossen.

Als wollte der Himmel den Tod von Alonzo ebenfalls beweinen, dachte Ravan und drückte sich etwas enger in den kleinen, leckenden Unterstand, den die Besatzung des Schiffes für die Mitglieder der Bruderschaft gebaut hatte. Eigentlich sollte er das Wasser abhalten, doch die Tropfen fanden ihren Weg durch den Stoff und verliehen Ravans dunkelbraunem Haar einen Schwarzton, fast so dunkel wie die Kleidung der Menschen auf dem Schiff.

Die Bruderschaft des Lykaon hatte sich versammelt, um dem verstorbenen Anführer des Zafiro-Kartells, Alonzo de Oro, die letzte Ehre zu erweisen. Mit hohem Alter war er schließlich friedlich eingeschlafen, so erzählten es sich die Brüder und Schwestern. Seine sterblichen Überreste sollten im Meer versenkt werden.

Ravan fand es albern. Warum wollte man im Meer versenkt werden? Statt verbrannt, wie es Tradition war? Und nur, weil er unbedingt von Fischen gefressen werden wollte, war die Bruderschaft mit dem Schiff vor die Küste gesegelt, noch dazu im strömenden Regen? Den Grund kannten wohl nur die De Oros.

Die einzigen Lykaner, sich freiwillig den Himmelsfluten aussetzten, waren Isabel de Oro, die Witwe, die weinend vor dem mit Steinen beschwerten Sarg ihres geliebten Mannes stand, und ihr Sohn Nicolas. Er vergoss jedoch keine Träne, sondern stand stumm und wachsam wie ein Schatten hinter seiner Mutter.

Ravan beobachtete eingehend den jungen de Oro, der nun das Oberhaupt der Zafiros war. Es interessiert mich wirklich, ob er das Zeug zum Anführer hat. Bisher sieht er eher zu...jung aus. Zu schwächlich. Während ein Priester zu einer Litanei über Alonzo de Oro anhob, beobachtete er den Erben des Zafiro-Kartells.

Er war ein gutaussehender Mann, schlank und sportlich, mit blonden Haaren, die ihm wild und doch gepflegt ins Gesicht fielen. Durch den Regen waren sie zu Strähnen zusammengeklebt, die um sein hübsches Gesicht flogen, als er sich das ewige Wasser aus den Augen schüttelte. Ein paar Mädchen neben Ravan beobachteten ihn verstohlen hinter ihren Taschentüchern.

Das ist also mein neuer Gegner, bemerkte er. Ein Schönling, und wahrscheinlich leicht zu beeinflussen. Er hat sicherlich eine Armee von Weibern hinter sich, die sich in sein Bett verkriechen wollen. Ravan unterdrückte ein amüsiertes Grinsen, das ihm auf der Bestattungszeremonie nicht angemessen vorkam. Er hatte schon genug Probleme, als dass er sich auch nur ein einziges Glücksgefühl leisten durfte.

Die Quelle seiner Komplikationen stand hinter ihm und beobachtete ihn, das wusste Ravan. Sobald er sich unangemessen verhielt, würde sein Gegner seinen Ruf ausbauen, und das nicht zum Guten. Mochte er zwar alt sein, so war Hector Stanraer trotzdem nicht zu unterschätzen. Ravan sah ihn vor sich, selbst wenn er hinter ihm stand, so bekannt war ihm das verhasste alte Gesicht.

Hector schien dafür zu leben, allen anderen Kartell-Oberhäuptern das Leben schwer zu machen. Seine Haare waren längst weiß, wie ein Wasserfall aus Silber fielen sie ihm über den Kragen seines Mantels und Ravan spürte den lauernden Blick seiner eisblauen Augen in seinem Rücken, seit er das Schiff betreten hatte. Er weiß, was ich getan habe, und ich werde den Verdacht nicht bestätigen, indem ich ihm einen Grund gebe, zu glauben, ich hätte Alonzos Tod gewollt.

Ich muss jedoch zugeben, dass es meine Pläne enorm erleichtert. Falls der junge De Oro so ist, wie er aussieht - dumm, unerfahren und beeinflussbar - und ihn für meine Sache gewinne, bin ich unschlagbar.

Doch Ravan wusste, dass Hector alles dafür tun würde, um seine Pläne zu verhindern, einfach nur, weil es seine Pläne waren. Und er hatte auch die Macht und die Mittel, ihn aufzuhalten. Selbst wenn er kein Alpha war.

Der alte Stanraer hatte mehr als sechzig Sommer erlebt, und hatte aus schattenhaften Gründen vor acht Jahren sein Amt als Oberhaupt der Crusaders abgegeben, an seinen Sohn. Mackerel Stanraer war größer als alle anderen Oberhäupter, und trotz des feierlichen Anlasses trug er weder Weste noch Mantel, sondern Hosen aus Leder und einen schmutzigen blauen Mantel über dem fleckigen weißen Hemd. Seine schwarzen Haare waren ungepflegt wie immer, und er musterte die Anwesenden nicht prüfend wie sein Vater, sondern stets vernichtend. Sein Blick war eine Drohung, ein tödliches Versprechen.

Und er war die einzige Person, die Hector fürchtete. Ravan war sich sicher, dass er es mittlerweile bedauerte, die Führung der Crusaders seinem unberechenbaren Sohn überlassen zu haben.

Gelangweilt beobachtete Ravan, wie der Priester Alonzos Größe im Krieg beschrieb, und verfluchte Isabel de Oro für ihr lautes Jammern, das mit einen kreischenden Misston das Plätschern des Regens, das Gluckern des Meeres an die Bordwand des Schiffes und das Gesäusel des Priesters übertönte. Er widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten, als sich in den Geruch des Regens und dem Muff von feuchten Klamotten und Haaren ein leichter Alkoholton mischte.

„Ich kann ihn jetzt schon nicht ausstehen", raunte Salvatore Falcony, der neben Ravan in einer Wolke aus Schnapsgeruch aufgetaucht war.

Ravans erster Impuls war, sich zu entschuldigen und unauffällig zu verschwinden, doch wohin sollte er gehen? Auf dem Schiff gab es kaum einen Ort, wo er vor Salvatore sicher war, ohne Verdacht zu erregen. Und jetzt, in den wenigen Tagen Waffenstillstand, den sie hatten, mussten alle so tun, als wollten sie ihre Gegner nicht im nächsten Moment umbringen.

Er hat sich sogar etwas zurecht gemacht, bemerkte Ravan belustigt und musterte sein Gegenüber. Salvatores rotblonde Haare sahen besser aus als sonst, anscheinend hatten die fettigen Strähnen heute die erste Wäsche seit Äonen bekommen. Statt mit dem üblichen Lederband waren Falconys Haare mit einem schwarzen Seidenstreifen zusammengebunden, und seine Kleidung schien nicht allzu zerknittert zu sein. Auf seiner Brust war eine kleine Beule, wo sich unter seinem Mantel ein Flachmann verbarg, nach dem der Anführer des Falcony-Kartells nun griff und einen tiefen Schluck nahm. Er kümmerte sich nie um die Meinung der anderen Oberhäupter.

Ravan unterdrückte ein entnervtes Seufzen. „Mr Falcony, wie nett, Euch zu sehen", sagte er und spürte den schleimigen Geschmack seiner Schmeichelei auf der Zunge.

„Lüg nicht, Junge", schnauzte Falcony ihn leise an. „Du willst am liebsten abhauen, aber während der Zeit des Rats müssen wir wohl oder übel Theater spielen und so tun, als würden wir uns mögen." Er verstaute umständlich wieder die Flasche. „Also, sag, was hältst du von dem jungen de Oro? Er wird uns allen in den Arsch kriechen, das ist sicher, und wenn er merkt, was es bedeutet, eine Schar Killer unter Kontrolle zu halten, metzelt er uns von hinten nieder." Er grinste süffisant. „Ebenso wie Ihr."

Auf einmal wurde Ravan wieder bewusst, warum Sal Falcony einer der beiden Anführer war, die er am meisten hasste, und unterdrückte den Drang, Salvatore seinen Flachmann in die Nase zu rammen. Also erwiderte er das Lächeln, diesmal ohne Rücksicht auf Stanraer hinter ihm. „Ich habe die Arschkriecherphase übersprungen", flüsterte er und hoffte, dass Falcony seinen gereizten Tonfall nicht mitbekam. „Aber sonst trifft es zu." Nach einer Pause fügte er hinzu: „De Oro kommt mir nicht wie ein ausgemachter Idiot vor, aber er braucht Verbündete, und er wird zu spät merken, dass er die im Rat nicht findet und auf sich allein gestellt ist." Das war immerhin nicht komplett gelogen.

Falcony zuckte mit den Schultern. „Die kleine Blackheart haben sie nicht eingeladen, oder?", fragte er zusammenhanglos.

Ravan schnaubte. „Bei dem, was im Krieg mit dem alten Alonzo passiert ist? Die hätten sie niemals eingeladen, selbst wenn sie in die Zeit zurückgereist wäre und ihren Vater persönlich umgebracht hätte."

Falcony verschränkte die Arme. „Selten gab es so einen guten Anführer wie Auray Blackheart. Schade nur, das er uns alle verraten wollte, nach allem, was wir für ihn getan haben." Er sah Ravan in die Augen, glasiges Hellgrau begegnete tiefem Dunkelbraun. „Wir sind ihm gefolgt, ich und Kingsley."

Ravan versteifte sich, als Salvatore seinen Vater erwähnte. Der alte Säufer hat wahrscheinlich nie etwas besseres als diesen Krieg erlebt, dachte er voll Verachtung. „Es könnte von unseren Feinden nicht gerade positiv aufgenommen werden, wenn wir über den Krieg reden", zischte er, doch Falcony redete weiter, ohne den Einwand zu beachten.

„Wir sind ihm gefolgt, und hätten mit Auray gesiegt, wenn wir nicht auf die Idee von diesem elenden Aleandro de Oro gehört hätten, und den Rat der Bruderschaft gegründet hätten, um einen Waffenstillstand zu beschließen." Sinnierend starrte Salvatore ins Nichts. „Wir wären alles, was übergeblieben wäre, drei Kartelle, Virrey, Blackshore und Falcony, und hätten es zu ungeahnter Macht gebracht." Mit deutlich enttäuschter Stimme fuhr er fort: „Aber stattdessen gab es Aurays Wahnsinn, Mord und Totschlag in der Festung und fünf Kartelle, nachdem wir die Blackshores dem Erdboden gleichgemacht haben."

Ravan wollte nichts anderes, außer von Salvatores verräterischen Erinnerungen zu entkommen, zum einen, weil er die Geschichte Crusadias nur zu gut kannte, zum anderen, weil Hector Stanraer sicherlich gerade die Ohren aufsperrte und in seinem unendlichen Misstrauen den Beginn des nächsten Kartellkrieges vermutete.

Eigentlich wusste er, dass er Salvatore nicht reizen sollte, doch er wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden, deswegen zischte er bewusst überlegen und provozierend: „Das wäre Euch so recht gewesen, nicht wahr? Ein reiches Kartell mit Einfluss zu leiten, anstatt das einflussloseste in Crusadia. Das Schicksal ist wahrhaftig unangenehm zu Euch gewesen, Mr Falcony. Doch ich habe den Krieg nicht mitbekommen und werde es schaffen, meine Macht zu erweitern, ohne die Hilfe Eures ach so geliebten Auray Blackheart und ohne einen Kartellkrieg auszulösen."

Salvatore knurrte unmenschlich. „Für Euch würde ich auf Entzug gehen", grollte er, doch die Drohung wurde von einem weiteren Schluck aus der Flasche beeinträchtigt. Mit deutlich erwachtem Interesse fuhr er fort: „Ihr seid mit jedoch trotz allem sympathischer als alle anderen Anführer, das kann ich Euch sagen. Stanraer ist ein hirnloser Hurensohn, der nichts als Töten im Kopf hat, De Oro sieht so feige aus, als hätte er vergessen, wer und vor allem was er ist, und Ithakea ist eine Schlampe der Extraklasse. Deswegen, lasst es euch gesagt sein, solltet Ihr Hilfe bei Eurer...Machterweiterung...", das letzte Wort spuckte er beinahe verächtlich aus, doch mit deutlichem neugierigem Unterton, „dann bin ich nicht ungewillt, Euch gegen etwas...Bezahlung...unter die Arme zu greifen."

Ravan lächelte so freundlich, wie es seine Abneigung gegen Falcony und seinen Machthunger möglich machte. „Vielen Dank für euer Angebot. Ich werde darauf zurückgreifen." Der letzte Satz war ein glatte Lüge.

Der Priester beendete seine Predigt und rief die Anführer der Kartelle zu einer letzten Ehrerbietung auf. Schweigend und mit gesenkten Blicken lösten sich Mackerel Stanraer, Ravan, Salvatore Falcony und Maura Ithakea aus der Menge und stellten sich um den Sarg auf.

Ravan bemerkte, dass er Maura kaum wahrgenommen hatte, seit er das Schiff betreten hatte. Die einzige Frau unter den Kartell-Oberhäuptern trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, das ihre Kurven beinahe vollkommen verbarg, ihre blonden Haare waren zu einem straffen Knoten zusammengebunden, der fast alle Emotionen aus ihrem Gesicht zog, und mit einem schwarzen Spitzenschleier bedeckt. Mit geröteten Augen sah sie zu ihm. Ich wette, sie kann auf Befehl weinen, denn sie hat den alten Alonzo nie ausstehen können, dachte Ravan abfällig.

Zusammen knieten sie vor dem Sarg nieder und senkten die Köpfe. Ravan verfluchte im Stillen den Regen, der nun auch ihm feuchtkalt in den Nacken tropfte und seine Knie durchnässte.

„Möge er auf ewig jagen", schmetterte der Priester.

„Möge der Geist ihn führen", murmelten die Anführer die rituelle Antwort, Nicolas de Oro etwas lauter als die anderen.

Ein paar Gefolgsleute des Virrey-Kartells hoben den Sarg auf ihre Schultern und wuchteten ihn auf die Reling. Isabel jaulte noch einmal laut auf, während ihr Sohn ihre Schulter hielt, und drückte einen Kuss auf das schwarz lackierte Holz, dann überließen die Männer den Sarg dem Meer. Isabel brach in Nicolas' Armen zusammen.

Mit düsterem Schweigen erhoben sich die Oberhäupter wieder und traten unter den Unterstand zurück. Rasselnd wurde die Ankerkette eingeholt, das Schiff wendete und fuhr mit triefenden Segeln nach Amostown zurück.

Ravan freute sich nicht auf die Ankunft dort. Die Sitzungen der Bruderschaft waren langweilig und meistens pure Zeitverschwendung, eine Mischung aus vorgetäuschter Freundlichkeit, der krampfhaften Bemühungen, keinen weiteren Krieg auszulösen und dem Versuch, Blutrache durch Verhandlungen zu vermeiden.

Funktionieren tat es trotzdem, seit fünfundzwanzig Jahren.

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