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Grace war am nächsten Tag früh in ihrem Büro. Heute hatte sie vor, Mr. Cort erneut zu befragen. Er hatte ihr die wichtigste Information schon gegeben und darauf konnte sie nun aufbauen. Sie nahm Mr. Corts Akte und die des Opfers mit. Dann lief sie den Flur entlang zum Verhörraum. Sie ordnete an, den Verdächtigen dort hineinzubringen.
„Also..." Sie sah ihn an, als sie eintrat. Der Verdächtige saß auf einem Stuhl und blickte auf seine Hände. Dann setzte Grace sich elegant hin. „... ich werde Ihnen nun Fragen über die Mordnacht ihres Bruders stellen." Prüfend sah sie ihn an.
„Ich weiß." Mr. Cort sah auf.
„Was haben Sie in jener Nacht in dieser Gasse gemacht?", fing sie an. Sie sah ihn mit ihrem üblichen Pokerface an.
Mr. Cort schwieg.
„Hören Sie: Es geht hier um Ihren Bruder. Sie wollen doch sicherlich auch wissen wie er gestorben ist. Und wenn Sie unschuldig sind, haben Sie doch nichts zu verbergen und können meine Fragen beantworten." Ihr Blick wurde verständnisvoller.
Der Mann seufzte. „Ich brauche Geld. David - mein Bruder - hatte immer Geld, nur ich nicht."
„Wieso brauchten Sie so dringend Geld, dass Sie ihn bedrohen müssen?", hakte sie nach. Dieser Fall interessierte sie brennend.
„Ich..." Er stockte. „Ich bin arbeitslos. Den einen Abend bin ich an einen Ort gegangen. Sie wissen schon. Dort wo verzweifelte Männer hingehen, wenn sie keine Frau haben." Er sah sie etwas beschämt an.
Grace verstand auf Anhieb, was ihr der Mann sagen wollte. „Ein Bordell, also."
Mr. Cort nickte, bevor er fortfuhr. „Das Mädchen dort. Wir haben uns öfters getroffen und hatten guten Kontakt zueinander. Das Problem ist, dass ich..." Es hatte den Eindruck, als wolle er sein Gesicht hinter seinen Händen verstecken. „... dass sie nun ein Kind von mir erwartet", beendete er schließlich den Satz.
„Ich verstehe. Wie heißt sie?" Grace ließ seine Antwort ungerührt. Wie oft hatte sie schon mit solchen Leuten zutun gehabt.
„Amber. Ich weiß nicht ihren Nachnamen", antwortete er niedergeschlagen.
„Wo ist das Bordell, indem sie arbeitet?", fragte Grace.
Mr. Cort nannte ihr zögerlich die Adresse.
Grace schrieb mit und nickte. „Und dieser Frau schulden Sie nun Geld?", erkundigte Grace sich.
„Ja und nein. Ich möchte trotz allem etwas Ehre behalten und ihr helfen, weswegen ich ihr Geld gebe. Es ist nicht viel, aber dennoch etwas", meinte er ehrlich. Er sah Grace dabei zu, wie sie alles mitschrieb.
„Und deswegen brauchten Sie Geld?", erkundigte diese sich, nachdem sie aufgeblickt hatte.
„Ja", antwortete er trocken.
„Eine Sache verstehe ich nicht: Wieso haben Sie ihn bedroht? Und dann noch, in solch einer Umgebung."
„Ich stimme Ihnen zu, dass das keine optimale Umgebung war, doch ich sah ihn dort und wollte ihn nur an unseren Deal erinnern...", gab er zu.
„Welchen Deal hatten Sie mit ihrem Bruder?", fragte sie ihn. Im Moment konnte sie sich keine eigene Meinung bilden, sondern musste ihn strikt befragen.
„Er sollte mir Geld leihen, oder seine Büroaffäre würde rauskommen", antwortete er zögerlich.
„Wie heißt die Kollegin?"
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er bezahlte stets und er hätte es nicht verdient."
„Es geht nicht um Ihren Deal und auch nicht darum, ob er ihn einhielt, sondern darum, dass Ihr Bruder nun tot ist." Grace sah ihn etwas genervt an.
„Sein Sie still!", schrie er. „Ich weiß sehr wohl, dass mein Bruder tot ist. Daran müssen Sie mich nicht andauernd erinnern!" Er stand bedrohlich auf.
Grace tat es ihm gleich. „Ich denke Sie sind aufgewühlt. Ich werde Sie nun in Ruhe lassen und in ein paar Stunden wieder befragen. Ich danke Ihnen", verabschiedete Grace sich. Sie wollte keinesfalls, dass es ausartet. Sie sammelte ihre Unterlagen zusammen und lief in Richtung Tür.
„Eines sage ich Ihnen: Ich lasse es nicht zu, dass sie mich grundlos für diesen Mord beschuldigen." Seine Stimme klang bedrohlich.
Grace blieb stehen und drehte sich um. „Das weiß ich, Mr. Cort. Das weiß ich", erwiderte sie wissend, ehe sie elegant aus dem Raum schritt.
*
Grace ging am Nachmittag nach Hause. Sie hatte nicht mehr mit Mr. Cort geredet. Ihre neue Taktik war, lieber erst einmal einen Plan zu schmieden.
Nun stieg sie in ihr Automobil. Sie konnte es kaum erwarten nach Hause in ihr warmes Apartment zu kommen. Um diese Jahreszeit im Dezember war es nicht gerade warm in Chicago.
Als sie zu Hause war, setzte sie sich entspannt auf ihr Sofa und las ein Buch. Es war ein ziemlich Belangloses, doch das machte ihr im Moment nichts aus. Sie brauchte genau jetzt etwas Belangloses, sonst würde sie viel zu viel nachdenken. Grace war schon immer ein nachdenklicher Mensch gewesen, das konnte ihr Bruder Robert bestätigen.
Da fiel ihr Robert wieder ein. Eigentlich wollte sie ihn ja noch anrufen. Sie war ziemlich müde, aber sie hatte ihm es ja versprochen. Langsam legte sie das Buch neben sich und stand auf. Sie nahm den Hörer in die Hand.
„Mit wem wollen Sie ein Gespräch anmelden?"
„Robert Hallington, bitte."
Grace wartete einen Moment.
„Guten Abend, Robert Hallington hier", hörte man Roberts Stimme.
„Guten Abend. Hier ist Grace", begrüßte sie ihren Bruder müde, aber dennoch nett.
„Ah, Grace. Ich dachte du hättest mich vergessen", lachte ihr Bruder.
„Nein, das würde ich nicht tun." Das rang Grace ein kleines Lachen ab.
„Ich weiß doch. Wie kommst du in Chicago voran?" Man konnte die Neugier Roberts Stimme entnehmen.
„Ganz gut, denke ich. Ich arbeite gerade an einem Fall, der mir ziemlich zu schaffen macht."
„Was hältst du davon, ein paar Tage nach New York zu reisen, Grace?", fragte er. „Es ist schön hier. Kalt, aber sehr schön. Du würdest dich von der Arbeit ausruhen können", fuhr er fort.
„Ich weiß nicht so recht. Ich würde liebend gerne zustimmen, aber ich muss dadran bleiben. Ich muss noch etliche Leute befragen und Zeugen aufspüren", meinte sie. „Auch wenn es davon nicht viele geben wird", fügte sie murmelnd hinzu.
„Das kannst du immer noch danach tun. Audrey würde sich auch freuen."
Das glaubte Grace ihm aufs Wort. Die beiden mochten sich tatsächlich sehr gerne.
„Also gut. Ich werde morgen den frühen Zug nehmen und am Dienstag wieder abreisen", gab sie nach. Gegen Robert kam sie in diesem Moment nicht an. Das wusste sie.
„Ja, das ist ein guter Plan", meinte Robert voller Vorfreude. „Also dann, wir sehen uns morgen Nachmittag."
„Ja, bis morgen Nachmittag", murmelte Grace müde, ehe sie den Hörer weglegte. Danach lief sie in ihr Schlafzimmer, um ihre Sachen zu packen, denn sie wusste genau, dass sie morgen dafür nicht genug Zeit haben würde.
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