~12~

Grace wartete lange, ehe sich Anthony blicken ließ. Sie hatte schon die Hoffnung aufgegeben, doch letztendlich war doch die Tür aufgegangen und er war eingetreten.

„Ich hoffe ich habe dich nicht zu lange warten lassen", entschuldigte er sich höflich. Seine Tonlage klang, als hätte er ihr nie einen Lauf-Oder-Ich-Töte-Dich-Vorschlag gemacht.

„Schon in Ordnung. Warten gehört zum Leben dazu."

„Sehr weise."

Eine kurze Stille trat ein.

„Also Grace, sicherlich weißt du, dass ich mit grausamen Methoden kämpfe", begann Anthony seine selbstsüchtige Ansprache.

„Ja, aber natürlich", erwiderte Grace nickend. Dabei lächelte sie ihn leicht an.

„Und du müsstest zu mir ziehen", fuhr er fort. Prüfend sah er sie an.
Er bekam einen unbeeindruckten Blick ihrerseits als Antwort.
„Dazu... wirst du mich heiraten müssen." Ein kleines, dreckiges Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

In Grace' Innerem breitete sich Panik aus. Nach außen hin, sah sie wie immer aus. Sie würde diesen widerlichen Mann also heiraten müssen, nur um ihr Leben zu retten und gegebenenfalls einen Mordfall aufklären zu können.
War es ihr das wert? Würde der Plan überhaupt funktionieren?
Die Antwort lautete für sie Ja. Vielleicht würde es ja überhaupt nicht zur Heirat kommen. Wenn sie Glück hatte und ihr Plan funktionieren würde, den sie sich bestimmt noch ausdenken würde.

„Ich gebe dir mein Wort." Entschlossen sah sie zu ihm hoch.

„Meinst du das wirklich ernst?", fragte Anthony forschend.

„Ja, natürlich."

Aus dem forschenden Blick wurde ein durchaus sympathisches Lächeln, hätte Grace nicht gewusst was er damals getan hatte.

„Also gut. Ich werde dir jetzt die Fesseln abmachen, okay?", sagte er immer noch sehr misstrauisch.

„In Ordnung." Sie versuchte ihn nett anzulächeln, was ihr auch ziemlich gut gelang.

Er fing an alles abzumachen. Für Grace war es eine Qual, dass er so nah an ihr dran war. Zwar hatte sie sich am Bahnhof noch über ihn gefreut, aber ihn mehrmals sehen zu müssen, das wollte sie nicht.
Bald war er fertig und sie stand auf. „Was soll ich nun tun?", fragte sie ihn.

„Unsere Hochzeit planen. Und ich werde Lisette entlassen. Ich habe ja noch dich", antwortete er und machte die Tür zum Flur auf.

„Wie meinst du das?"

„Na ja, von nun an, bist du ja meine Ehefrau und kannst für mich sauber machen, kochen und die Betten machen." Er sah sie dabei freundlich an.

Sie ging hinaus, wobei er ihr folgte und die Tür wieder schloss. Grace sah sich um und sofort wusste sie, wo sie war: im Flur, wo sich auch das Badezimmer befand. Und soeben hatte sie einen der verbotenen Räume kennengelernt. Sie wollte nicht wissen, was in den anderen Räumen drin war.

„Kann Lisette denn nicht trotzdem noch hierbleiben? Ich kann mich doch sicher erstmal eine Weile einwohnen, richtig?", fragte sie etwas hoffnungsvoll.

„Ja, du hast wahrscheinlich recht. Bis zu unserer Heirat kann sie hier bleiben", murmelte er nachdenklich. „Komm gehen wir. Wir können uns ja auf mein Sofa setzen." Er ging voraus zurück ins Wohnzimmer.

„Da wäre noch etwas...", murmelte Grace als beide saßen.

Anthony sah sie fragend an. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Grace noch etwas wollte. Schließlich sollte sie doch dankbar sein, so einen Mann heiraten zu dürfen und nicht noch irgendwelche Anforderungen zu stellen. So war zumindest seine Auffassung.

„Ich habe ja noch meine Wohnung und Arbeit in Chicago. Ich würde zu gerne noch einmal zurück gehen", fing sie dann an zu sprechen. Vielleicht würde sie ihn ja mit einer kleinen Diskussion dazu kriegen, noch einmal zurück zu fahren.

„Wozu denn das, meine Liebe? Das können wir doch sicherlich auch telefonisch klären."

„Ich würde mich lieber persönlich verabschieden. Von den Leuten, sowie auch von der Stadt."

„Ihr Frauen seid immer so theatralisch! Es ist doch nur eine Stadt!", sagte er lauthals und sichtlich genervt.

„Nur noch ein letztes Mal. Du musst ja noch nicht einmal mitkommen", antwortete Grace ruhig und gelassen. Dann sah sie ihn unschuldig an und bemerkte, wie sein Blick weicher wurde.

„Also schön. Ich muss doch aber mitkommen. Natürlich muss ich auf meine Verlobte aufpassen...", murmelte er unzufrieden.

„Ich habe zuvor bei der Kriminalpolizei gearbeitet. Ich denke, ich werde ein oder zwei Tage alleine auskommen", versicherte sie ihm. Dabei legte sie ihre zierliche Hand auf seine Schulter und lächelte ihn gutmütig an.

Anthony überlegte einen Augenblick und seufzte. „Also gut. Du kannst morgen früh fahren. Ich werde dich zum Bahnhof fahren und Mittwoch Nachmittag wieder von hier abholen. Dann hast du genug Zeit", gab er nach.

Das war auf jeden Fall der alte Hand-Schulter-Trick, dem sie das zu verdanken hatte. Der beste Trick, um jemanden dazu zu bringen, bei etwas einzuwilligen.

„Oh vielen Dank, mein Geliebter", quietschte sie freudig und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Schließlich musste sie ja wie eine schwache, weibliche Frau wirken, die herumquiekt und Küsschen verteilt. Aber sie hatte schon einen genauen Plan.
„Ich denke, ich werde nun meinen Bruder anrufen und ihm alles mitteilen. Dürfte ich bitte deinen Fernsprecher benutzen?"

„Aber sicher, er steht im Arbeitszimmer." Anthony zeigte auf eine Tür neben seinem Schlafzimmer.

„Vielen Dank." Grace stand auf und schlenderte hinüber zu Anthonys Arbeitszimmer. Sie trat ein und sah sich um. Es war kein besonders großer Raum, aber dennoch ziemlich geräumig. Das müsste wohl daran liegen, dass alle Akten und Blätter ordentlich im Regal lagen. Das würde sie sicherlich später noch alles ausspionieren können, aber dazu hatte sie jetzt keine Zeit.

Grace ging auf den altmodischen Holzschreibtisch zu, auf dem der Fernsprecher stand. Dort meldete sie ein Gespräch mit ihrem Bruder an.

„Guten Tag?", hörte sie ihn sagen.

„Robert, hallo!"

„Grace? Wo warst du nur? Wir waren schon krank vor Sorge!", rief Robert erleichtert.

„Robert, ich werde heiraten!", rief Grace künstlich freudig.

„Wie bitte? Wen denn?" Wie es sich anhörte, war Robert sehr verwirrt, was man ihm auch nicht verübeln konnte.

„Du kennst doch sicherlich noch Anthony, richtig?"

„Oh, sag mir nicht, dass du den Anthony meinst!", rief er laut. Grace konnte schon durch den Hörer hindurch sehen, wie er sich gerade seine Stirn rieb, so wie er es oft tat, wenn Grace etwas schlimmes angestellt hatte.

„Ja, den Anthony. Er ist wirklich lieb. Ich komme morgen vorbei. Dann werde ich dir alles weitere erzählen, in Ordnung?"

Robert seufzte. „Wenn du darauf bestehst, in Ordnung, aber bitte pass auf dich auf!", riet er ihr.

„Ja, mache ich. Bis morgen!"
Grace legte den Hörer wieder auf das kleine Gestell und drehte sich zur Tür. Dort stand Anthony angelehnt, mit einer grimmigen Miene.
In Grace' Kopf hallte immer noch das „Bitte pass auf dich auf!" von Robert wieder.

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