9 - Dirndl und Latzhosen

Morgens kam Mum mir ins Zimmer. Sie war relativ nüchtern und setzte sich auf die Bettkante, während ich noch im Bett lag.

„Es tut mir leid, Süße", entschuldigte sie sich. Dann streichelte sie mir über die Wange. „Ich habe gestern etwas überreagiert."

Ich sagte nichts und starrte aus dem Fenster. Diese Entschuldigungen kamen oft, aber mittlerweile war es mir egal, denn ich wusste, dass sie es wieder tun würde.

„Du weißt, ich habe mich manchmal nicht unter Kontrolle", versuchte sie sich wie so oft zu rechtfertigen. „Habe ich dir doll weh getan?"

Ich hatte einen riesigen blauen Fleck auf meiner Hüfte. Mein rechter Ellenbogen war geschwollen.

„Geht schon", murrte ich.

Mir war bewusst, dass es Mum im nüchternen Zustand leid tat. Sie liebte mich, aber unter Alkohol war sie ein anderer Mensch und leider war sie fast immer unter dem Einfluss von Alkohol. Manchmal tat sie mir leid. Ich sah sie an und erkannte die zerbrechliche Frau, die sie war.

„Ich habe dir Frühstück für die Schule gemacht. Steht in der Kücher", informierte sie mich.

„Danke."

Sie küsste mich auf die Wange und hauchte noch ein „Tut mir wirklich leid. Es kommt nicht wieder vor" und verließ dann wieder den Raum.


Nach der Schule war ich mit Marlo an einem kleinen See verabredet. Er schien völlig vernarrt darin zu sein meine Spanischkenntnisse zu verbessern.

„Du siehst müde aus", begrüßte er mich wenig charmant.

„Na vielen Dank auch", zickte ich gekünstelt.

Ich wusste selbst, dass meine Augen vom Weinen noch aufgequollen waren.

„Gab gestern noch ganz schön Ärger für dich, oder? Ich hab gehört, wie es noch laut bei euch in der Wohnung wurde."

Ach du Scheiße! Ich hoffe, dass er keine Details gehört hatte.

„Naja, ein bisschen sauer war sie schon, aber heute Morgen war es wieder vergessen."

Er zog seine Mundwinkel nach unten.

„Tut mir leid, dass du wegen mir Ärger bekommen hast."

„Ist doch nicht deine Schuld. Außerdem würde ich es noch mal tun. Es war ein wirklich schöner Abend und ich bin froh, dass du mich mitgenommen hast."

Ich meinte es wirklich so. Der Abend hatte mich für ein paar Stunden von meinen Problemen abgelenkt und dafür war ich wirklich dankbar.

Er lächelte nun.

„Damit die heutige Spanischstunde nicht zu langweilig wird, dachte ich mir, dass wir sie aufs Wasser verlegen. Was hältst du von Tretbootfahren?"

Er war immer wieder für Überraschungen gut. Marlo war ein fleischgewordenes Überraschungsei.

„Ich habe zwar noch Muskelkater vom Fußballspielen, aber hört sich gut an."

Zehn Minuten später schipperten wir gemütlich über den See und redeten mehr oder weniger auf Spanisch über Drogen. Meine Beine wurden schnell schlapp und irgendwann war es nur noch Marlo, der in die Pedale trat. Ich hatte keine Ahnung, wo er bei seinen dünnen Stelzen die Kraft hernahm. Immerhin sah ich wie sich Schweißperlen auf seiner Haut bildeten. Es schien ihn zumindest anzustrengen.

„Na, ist dir warm?", zog ich ihn auf, als er begann sein Shirt zu lüften.

„Ja, schon etwas, aber es gibt ja zum Glück eine Abkühlung."

Stirnrunzelnd sah ich ihn an. Er wollte doch nicht... Doch er wollte und er tat es. Er sprang, inklusive Klamotten, vom Boot in den See. Kurz blieb er unter der Wasseroberfläche verschwunden. Nicht einmal seine blonden Locken konnte ich erspähen. Doch dann schoss er förmlich aus dem Wasser und strahlte mich an.

„Jetzt du!", forderte er mich auf.

Dieser Junge! Er machte mich noch fertig. Ich konnte doch nicht einfach mit all meinen Sachen in einen See springen, der mit Entengrütze überzogen war.

„Nee, ich bleib lieber hier sitzen", lehnte ich ab.

Er legte seinen Kopf schief, während er sich mit kontrollierten Armbewegungen über Wasser hielt.

„Ach komm schon! Was ist denn schon dabei?"

Ich bewunderte ihn, um diese Leichtigkeit, mit der er durchs Leben ging. Wenn er etwas wollte, dann machte er es einfach, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Ich wünschte, ich könnte das.

„Trau dich!", forderte er mich auf.

Zögernd sah ich zu ihm hinab. Eigentlich hatte er ja Recht. Was hatte ich schon großartig zu verlieren?

Ohne weiter drüber nachzudenken sprang ich. Ich hielt mir gerade noch rechtzeitig die Nase zu und tauchte dann ins Wasser ein. Ich hatte nicht erwartet, dass es so kalt sein würde. Mein Brustkorb zog sich zusammen und ich paddelte schnell an die Wasseroberfläche, um nach Luft schnappen.

„Kalt", kam es mir sofort mit bibbernden Lippen aus mir heraus.

Marlo lachte.

„Aber gut fühlst du dich schon, oder?"

„Ja", antworte ich sofort.

Ich konnte förmlich das Adrenalin spüren, das durch meine Adern schoss.

„Aber ich will trotzdem wieder zurück ins Boot", stellte ich klar.

Wie sich herausstellte, war das gar keine so einfach Aufgabe. Marlo musste ich vom Boot aus förmlich hochziehen, damit ich wieder im Trockenen war.

„Jetzt ist mir kalt und wir haben keine trockenen Sachen", meckerte ich vor mich hin, während Marlo den Tretbootverleih wieder anpeilte.

„Dahinten ist ein Flohmarkt. Da können wir uns bestimmt etwas für wenig Geld holen", sagte er locker.

Ich fragte mich, ob es irgendetwas gab, das ihn aus der Ruhe bringen konnte. Außer Fahrstühle natürlich.

Beim Tretbootverleih bot ich ihm an die Hälfte des Preises zu übernehmen, doch er lehnte höflich ab. Wahrscheinlich auch, weil er sah, dass meine Lippen mittlerweile die Farbe von Captain Blaubär hatten und ihn das schlechte Gewissen plagte.

Zügigen Schrittes gingen wir zum Flohmarkt und prompt lächelte uns ein Schild mit „Alles für einen Euro" an. Wir gingen zu dem Stand und mussten feststellen, dass man für diese Kleidung wohl eher Schmerzgeld verlangen könnte, anstatt dafür zu bezahlen. Ein Teil sah schlimmer aus als das andere. Kurz dachte ich darüber nach lieber als Eisklumpen zu enden, anstatt eins von den Dingern anzuziehen, doch dann sah ich Marlo, der ein Netzhemd in die Höhe hielt. Ich begann das Spaßpotenzial zu entdecken.

„Du suchst für mich die Sachen aus und ich für dich! Einverstanden?", richtete ich das Wort an ihn.

Er grinste breit. Ich wusste ganz genau, dass er solche Aktionen mochte und ir war bewusst.

„Okay, mach dich auf etwas gefasst!"

Sofort begannen wir beide in dem Kleiderstapel herumzuwühlen. Die Kleidungsstücke waren schon abgetragen und zum Teil kaputt. Die Besitzerin des Standes beäugte uns amüsiert. Ich fand eine karierte Latzhose, die ihm passen müsste. Ich überlegte kurz auf das Netzhemd noch einmal zurückzugreifen, doch dann fand ich ein hautenges, pinkes Top. Perfekt. Das Outfit war zusammengestellt.

Dann sah ich zu Marlo, der mir auch sogleich das Outfit für mich präsentierte. Es war ein Dirndel. Jedoch kein echtes, sondern eins, das auf ein knielanges Shirt aufgedruckt war. Als er sein Outfit sah, brachen wir beide in Gelächter aus.

Wir reichten der Besitzerin drei Euro. Mit einem komplizierten Umziehsystem schaffte ich mir die nassen Sachen auszuziehen und die trockenen wieder an, ohne dass er meine Unterwäsche sah. Dabei übte ich mich in Verrenkungen, die sonst nur Schlangenmenschen im Zirkus vorführten.

Sein Umziehen ging deutlich schneller. Er sah so verdammt lächerlich aus. Marlo legte Seinen Arm um mich herum.

„Na holde Braut!"

Er versuchte sich im bayrischen Dialekt, scheiterte jedoch kläglich.

„Du siehst echt schlimm aus", entgegnete ich.

Er verschränkte beleidigt die Arme, meinte es aber nicht ernst.

„Lass uns ein Foto machen", schlug er vor.

Ja, den Augenblick wollte ich auch für die Ewigkeit festhalten. Sofort zog ich mein Handy aus der Tasche, doch Marlo hielt mich sachte davon ab.

„Lass. Ich hab eine Polaroid-Kamera mit."

Mit großen Augen sah ich ihn an.

„Du meinst so eine Kamera, mit denen sich unsere Großeltern auf dem Campingplatz fotografiert haben."

„Genau die."

Er zog einen Apparat aus seinem Rucksack. Ich hatte so etwas noch nie in Wirklichkeit gesehen.

„Wo hast du die her?"

„Hat mir meine Gastfamilie zum Abschied geschenkt gehabt."

„Wow, das ist echt cool."

Wir warfen uns in Pose. Er drückte seine Wange dicht an meine. Wir beide grinsten wie Honigkuchenpferde. Dann knipste es und ein Foto kam aus dem Apparat. Zauberei!

Erst sah man nur eine graue Fläche.

„Muss man nicht schütteln, damit es trocknet?"

„Nein, das ist ein Irrtum. Dann verwischt die Farbe", erklärte er geduldig.

Dann kamen unsere Gesichter zum Vorschein. Wir sahen glücklich aus. Ich mochte das Bild sofort, was vielleicht auch daran lag, dass man unsere Kleidung gar nicht sehen konnte.

„Wir müssen noch ein machen, auf dem man uns in voller Pracht sehen kann", bemerkte auch Marlo.

Also gingen wir zu der Standbesitzerin, die sich gern dazu bereit erklärte uns zu fotografieren. Er legte dieses Mal seinen Arm um meine Hüfte und zog mich zu sich ran. Wir beide zogen eine Grimasse. Selbst unsere improvisierte Fotografin musste lachen.

Wir bedankten uns bei der Frau und gingen dann nach Hause. Dabei gackerten wir wie die Hühner, denn die Blicke der anderen Passanten waren einfach köstlich. Sie schienen uns für die Entflohene der Psychiatrie zu halten.

„Welches möchtest du haben?", fragt er mich bei der Verabschiedung und hielt mit die zwei Fotos vor die Nase.

Ich wusste sofort, welches ich nehmen wollte. Das mit unseren Gesichtern, wo wir in Nahaufnahme in die Kamera grinsten.

„Ich find das schöner, aber wenn du das lieber haben willst, kannst du es auch haben", sagte ich und zeigte auf meinen Favoriten.

„Klar kannst du es haben."

Dankbar nahm ich ihm das Foto ab. Zur Verabschiedung umarmte er mich. Ich sah mich intensiv an und ich wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Schnell sah ich weg. Nicht, dass er noch auf dumme Gedanken kam.


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Tags: #herzschmerz