8 - Hüftaufschwung
„Violett, was ist das an deinem Handgelenk?", fragte mich Mel nach dem ersten block in der Pause.
Ich hatte extra ein langärmliges Sweatshirt angezogen, doch es war hochgerutscht. Schnell zog ich es nach unten.
„Ist nichts."
Mel seufzte.
„Lüg mich doch nicht an. Das war eindeutig ein Bluterguss. Warum erzählst du mir so etwas nicht?"
Mum hatte mein Handgelenk so fest gepackt, sodass ich heute Morgen an der Stelle einen fetten blauen Fleck entdeckt hatte.
„Es ist nicht so dramatisch", spielte ich es herunter.
„Wenn du einen blauen Fleck hast, weil deine Mutter dich misshandelt, finde ich das schon bedenklich. Ich will wissen, wenn so etwas passiert. Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin."
Ich sagte Mel so etwas nicht, weil ich meine Mutter nicht zum ständigen Gesprächsthema machen wollte.
„Du kannst für ein paar Tage zu mir kommen, wenn du willst", schlug sie mir vor.
Ich schüttelte den Kopf.
„Passt schon. Es gab schon schlimmere Zeiten."
Mel sah mich eindringlich an.
„Ja, das weiß ich. Ich kann mich noch gut erinnern, als du mit einem gebrochenen Arm und einer Platzwunde zur Schule gekommen bist. Soweit muss es doch aber nicht wieder kommen. Lass uns zum Jungendamt gehen. Ich kann das wirklich nicht mehr länger mitansehen."
In letzter Zeit war Mel völlig besessen mich dort hinzuschleppen.
„Und dann?", fragte ich. „Was wollen die machen? Meine Mutter können sie nicht ändern und ich will auch nicht in so ein betreutes Wohnen oder so. Ich halte noch bis zum Abi aus und dann bin ich weg. Dann hab ich auch genug gespart. Dafür arbeite ich schließlich."
„Ich habe Angst um dich", sagte sie nun mit Sorgenfalten im Gesicht, die so tief waren, dass sie auch zu einem 90-jährigen Opa gehören könnten.
„Brauchst du nicht. Ich komme schon klar."
Sie sah nicht sonderlich überzeugt davon aus und ich war es auch nicht.
An diesem Schultag wurde Thema nicht mehr angesprochen, aber ich sah, wie sie immer wieder auf den blauen Fleck starrte, den mein Sweatshirt offenbarte.
Als ich von der Schule kam, traf ich Marlo im Treppenhaus. Ich freute mich ihn zu sehen.
„Hey, wie geht es deinem Wespenstich?", erkundigte er sich.
„Gut, ist wieder abgeschwollen und tut auch nicht mehr weh."
Er sah auf meinen Arm. Dann verengte sich sein Blick.
„Der blaue Fleck sieht aber übel aus", bemerkte er.
Verdammtest Sweatshirt. Vielleicht sollte ich wirklich mal Qualität kaufen. Dann würde es nicht ständig hochrutschen.
„Ist heute beim Sportunterricht passiert. Mel sollte beim Hüftaufschwunge Hilfestellung machen, aber irgendwie hat sie es ein bisschen zu ernst genommen", versuchte ich die Blessur zu erklären.
Er zog die Augenbrauen hoch.
„So wie das aussieht, muss sie versucht haben, dir das Handgelenk zu brechen", bemerkte er im Scherz und hatte keine Ahnung, was für eine traurige Geschichte hinter diesem blauen Fleck stand.
„Ja", lachte ich. „Ich hatte ihr vorher den letzte Smartie geklaut. Das war wohl die Rache. Kaum zu glauben, wie viel Kraft aus diesem kleinen Körper kommt", stimmte ich zu.
Er sah mich kurz schweigend an und schien zu überlegen.
„Ich bin auf ein Barbecue eingeladen. Ich wollte da gerade hin. Willst du mitkommen?"
Ich war immer wieder überrascht von seiner Offenheit und Spontanität.
„Ich kann doch da nicht einfach aufkreuzen, wenn ich nicht eingeladen bin."
„Doch. Das sind argentinische Freunde von mir. Das ist eine andere Mentalität. Sie freuen sich immer über Gäste. Du kannst da auch gleich noch ein bisschen Spanisch lernen. Das wird bestimmt lustig. Argentinische Musik und ein Lagefeuer. Dazu kannst du nicht Nein sagen."
Das konnte ich wirklich nicht. Also sagte Ja. Ich konnte ein bisschen Ablenkung gut gebrauchen.
„Okay, gib mir fünf Minuten damit ich mich umziehen kann, okay?"
Ich rannte in mein Zimmer, schmiss Jeans und Shirt aufs Bett und schlüpfte in mein einziges Sommerkleid. Man konnte zwar meinen blauen Fleck dadurch sehen, aber ich hatte ja jetzt eine Ausrede. Dann huschte der Rasierer schnell über meine Beine. Ich wollte ja nicht mit einem Schimpansen verwechselt werden.
Marlo wartete noch immer geduldig, als ich wieder aus der Wohnung kam.
„Wow, gut siehst du aus", machte er mir sofort ein Kompliment. „Du solltest öfter Kleider tragen."
Ohjee, mit so vielen netten Worten konnte ich gar nicht umgehen.
„Danke schön", gab ich verlegen von mir.
Dann gingen wir zu seinem Auto und fuhren zu seinen argentinischen Freunden. Wie sich herausstellte, sprach keiner dort auch nur ein Wort Deutsch. Doch ich fühlte mich erstaunlich wohl. Die Menschen schlossen mich nicht aus. Im Gegenteil. Sie taten alles, um mich zu integrieren, auch wenn die Kommunikation hauptsächlich mit Händen und Füßen funktionierte. Dann spielten wir Fußball und ich hatte unglaublichen Spaß an diesem Abend. Alle waren so nett. Die Gastgeber liehen mir sogar Kleidung, weil sich mit einem Kleid doch recht schlecht Fußball spielen ließ. Wir alle lachten und ich konnte meine Sorgen vergessen. Ich war Marlo so dankbar, dass er mich mitgenommen hatte.
Am Abend saßen wir um Lagerfeuer herum. Marlo hatte eine Gitarre in der Hand. Wir alle sangen spanische Lieder dazu. Ich war die einzige, die mit ihrem Handy da saß und die Songtexte ablesen musste. Wir waren bis spät in die Nacht dort.
Es war schon nach Mitternacht, als Marlo und ich aufbrachen. Ich trug mittlerweile wieder mein Sommerkleid, weshalb Marlo mir ohne zu Zögern seine Jacke gegeben hatte. Ihm schien die Kälte nichts auszumachen.
„Ich hoffe du bekommst kein Ärger, weil es spät geworden ist", sagte er entschuldigend.
Es war mittlerweile um ein Uhr nachts und morgen war wieder Schule. Ich würde mit Sicherheit Ärger bekommen.
„Ach passt schon", spielte ich es herunter. „Und bei dir? Stört dein Vater es nicht, wenn du in der Schulwoche so lange weg bleibst."
„Nein, er ist ziemlich cool drauf und sagt, dass ich alt genug bin."
So einen Vater hätte ich auch gerne. Also ich hätte überhaupt gerne mal einen Vater.
„Na dann gute Nacht."
Ich gab Marlo seine Jacke zurück, umarmte ihn und versuchte anschließend in der Dunkelheit auf Zehenspitzen in die Wohnung zu schleichen. Dann ging das Licht an und ich wusste, dass ich in der Scheiße saß.
Dieses Mal schlug sie gleich zu, ohne vorher etwas zu sagen. Es keine Ohrfeige, wie am Vortag, sondern ein heftiger Faustschlag, den ich glücklicherweise noch mit meinen Armen abfangen konnte.
„Hör auf!", keifte ich.
Doch sie hörte nicht auf.
„Du kleine Hure! Wo warst du die ganze Nacht!"
Meine Mutter war größer und stärker als ich. Es war ihr ein Leichtes mich zu Boden zu werfen und genau das tat sei auch. Ich kam schmerzhaft mit dem Hüftknochen auf.
„Mum, bitte!", flehte ich.
Sie hatte mein Flehen noch nie erhört und so war es auch jetzt. Wenn sie erst einmal anfing, kannte sie kein Erbarmen.
Sie trat nach mir. Ich hielt mir schützend die Hände über den Kopf.
„Warum provozierst du mich immer? Kannst du nicht einmal gehorchen?"
Sie beugte sich zu mir herunter, wo ich gekrümmt lag. Ich konnte ihre Fahne riechen.
Sie umschlang mit einer Hand meinen Kiefer.
„Nochmal machst du so etwas nicht mit mir oder du wirst dir wünschen, dass du nie geboren wurdest!"
Mit diesen Worten ließ sie mich am Boden liegen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann sie mir ins Gesicht geschlagen hatte, aber ich hatte Eisengeschmack im Mund. Wahrscheinlich hatte ich mir selbst auf die Lippe gebissen.
Ich krabbelte in mein Zimmer. Meine Hüfte tat mir weh, genau wie mein Ellenbogen. Ich weinte wieder. Ich versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken, doch ich konnte es nicht.
Ich hievte mich auf mein Bett und schrie in mein Kissen. Warum war ich mit so einer Mutter bestraft worden? Wieso konnte ich nicht Eltern haben, die mich liebten? Oder wenigstens welche, die mich nicht schlugen.
Ich vermisste meine Oma. Als Kind war sie meine Ersatzmutter gewesen. Sie hatte meine Tränen getröstet, wenn Mum mir einen Klaps auf den hinter gegeben hatte. Von ihr hatte ich mich geliebt gefühlt.
Ich sah aus dem Fenster zum Sternenhimmel. Ich hoffte, dass es den Himmel nicht gab, denn ich wusste, dass es meiner Oma das Herz brechen würde, wenn sie mich jetzt hier sehen könnte.
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