6 - Blitzlichtgewitter
Ich war abends wieder nach Hause gegangen. Auf den letzten Metern hatte ich wohl den Weltrekord im 100-Meter-Laufen geknackt. Eine fette Gewitterfront war dabei eine hervorragende Motivation gewesen. Der Sprint hatte sich gelohnt. Ich kam gerade noch so trocken im Hausflur an.
Ich hatte keine Lust nach oben zu gehen. Ich hatte nie Lust nach Hause zu gehen. Es war kein Ort, an dem ich mich wohlfühlte, doch nächste Woche stand ein Spanischtest an, den ich nicht versemmeln wollte.
„Wo ist Mum?", fragte ich Sam, der mit Lissy vor dem Fernseher lag und an einem Bier nippte.
„In ihrem Zimmer. Ich bezweifle stark, dass sie da heute noch rauskommt."
Ich war mir nicht sicher, ob ich das als gute oder schlechte Nachricht auffassen sollte. Einerseits hatte ich so meine Ruhe, doch auf der anderen Seite bedeutete es, dass es ihr wirklich schlecht ging.
Ich ging in mein Zimmer und setze mich mit meinem Spanischhefter an den Schreibtisch. Während draußen die Blitze über den Himmel zuckten, versuchte ich diese Vokabeln in mein Gehirn zu prügeln. Doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Das war ein grundsätzliches Problem bei mir. Als dann auch noch Bässe aus dem Nebenzimmer zu mir schallten, war ich kurz vor dem Durchdrehen.
Marlo, ey!
Er war zwar echt nett, aber mit der Nachtruhe nahm er es offenbar nicht so genau.
Ich rappelte mich auf und lief zügig durch den Flur zur Haustür der Nachbarn. Ich klingelte.
Er ließ mich eine ganze Weile warten bis er die Tür öffnete.
Er trug nur eine Boxershorts und ein dünnes Shirt.
„Zu laut?", fragte er, bevor ich mich beschweren konnte.
Richtig geraten!
„Ja!"
„Sorry, ich dachte, dass es bei dem Gewitter egal ist und der Donner es übertönt."
„Nein, definitiv nicht. Es wär echt cool, wenn du die Musik leiser machst. Ich lerne nämlich."
Er verzog das Gesicht.
„Um die Uhrzeit?"
Nun zog auch ich eine Grimasse.
„Ja, ich hab nicht wirklich ne Wahl", jammerte ich.
„Welches Fach?", erkundigte er sich nun neugierig.
„Spanisch."
Seine Augen begannen zu leuchten.
„Warum sagst du das erst jetzt? Ich kann dir doch helfen! Hablo español."
Dieser kleine Angeber, aber es klang gut, wie er es aussprach.
„Ich bin echt ein hoffnungsloser Fall", versuchte ich ihn von seinem Spanisch-Rettungspaket abzuhalten.
Er grinste schief.
„Das glaube ich nicht."
Er hatte ja keine Ahnung. An meinem Gehirn prallten Vokabeln ab, wie Flummis an Betonwänden.
„Doch, wirklich!"
„Ach komm schon. Ich helfe wirklich gerne."
Stirnrunzelnd sah ich ihn an. Steckte da etwa kapitalistische Gedanken hinter?
„Willst du was dafür haben?"
Er fing nun lauthals an zu lachen.
„Oh Gott, nein! Ich will kein Geld."
„Aber warum machst du das denn dann?"
„Ich schulde dir noch was. Ein Cappuccino. Die Reinigung für dein Top, das ich ihm Fahrstuhl mit Kaffee überschüttet habe und nicht zu vergessen den Psychiaterbesuch, weil ich dich nackt aufgefangen habe."
Ich fing nun auch an zu lachen. Ich mochte seinen Humor.
In dem Moment donnerte es gewaltig und ich zuckte zusammen. Ein Blitz musste ganz in der Nähe eingeschlagen haben.
„Angst vor Gewittern?", erkundigte er sich.
„Nein, eigentlich nicht."
Er lächelte.
„Gut, dann komm mit!"
Und dann packte er mich an der Hand. Als wäre ich seine Freundin! Er tat als ob es das Normalste der Welt wäre. Eigentlich sollte ich lernen, doch ich wehrte mich gegen seine körperliche Nähe nicht. Dazu waren seine Hände viel zu weich und warm. Er zog mich durch die Wohnung. Die Kisten waren verschwunden. Alles war ordentlich und aufgeräumt. Man würde nicht vermuten, dass hier zwei Männer lebten. Sogar Kerzen und Blumen fand man in den Räumen.
Doch Marlo zog mich auf den Balkon.
Durch das Gewitter war die Luft deutlich abgekühlt. Ich liebte diese frische, reine Luft. Zwei Stühle standen auf dem Balkon. Marlo nahm sie und stellte sie so weit wie möglich von der Brüstung weg. Er setzte sich und klopfte, wie er es gestern schon mit der Couch getan hatte, auf den Platz neben sich.
„Ich bin kein Hund", ließ ich ihn amüsiert wissen, setzte mich aber trotzdem.
Marlo sah schon gar nicht mehr zu mir, sondern beobachtete den Himmel, an dem die Blitze zuckten.
„Wahnsinn, oder?"
Nun sah ich auch zu den Wolken. Früher hatte ich mich mit meiner Oma immer auf ihre Terrasse gesetzt und mir das Spektakel angesehen. Das war jedoch schon Jahre her.
Wir saßen eine ganze Weile einfach nur schweigend da. Der Regen peitschte in den Balkon hinein, weshalb meine Füße nass wurden.
Von hier aus hatte man eine tolle Aussicht über die Stadt. Leider ging unser Balkon auf den Hinterhof, weshalb der Ausblick entsprechend karg war.
„Also, darf ich dir Nachhilfe geben oder nicht?", fragte er nach einer Ewigkeit.
Ich dem Moment krachte es laut. Ich erschrak und presste mich instinktiv dichter in den Stuhl hinein.
„Ich glaub, der Wettergott hat für dich geantwortet", scherzte er.
„Oder er hat dagegen protestiert. Wie man es nimmt", erwiderte ich.
Er lachte. Irgendwie schmeichelte es mir, dass er meinen simplen Humor lustig fand.
„Okay, wir lassen das Schicksal entscheiden. Ich stelle gleich die Frage noch mal. Wenn es dann innerhalb der nächsten fünf Sekunden blitzt, helfe ich dir. Einverstanden?"
„Okay."
Er räusperte sich theatralisch, als würde diese Frage über Leben und Tod entscheiden. Er war schon ein kleiner Spinner.
„Lieber Wettergott, soll ich Violett Nachhilfeunterricht geben?"
Okay, großer Spinner.
Dann begann er herunterzuzählen.
„5."
Kein Blitz.
„4."
Immer noch nicht.
„3."
Ach komm schon. Nur ein kleiner Blitz.
„2."
Das kann doch nicht sein. Die ganze Zeit blitzt es und jetzt kommt nicht einer.
„1."
Ich sah auf dunkle Wolken.
Dann wurde es kurz hell, doch die Wolken waren dunkel geblieben.
Ich sah zu Marlo. Er hatte sein Handy in der Hand und mit Blitzlicht ein Foto von mir gemacht.
„Das Schicksal hat entschieden. Es hat geblitzt. Ich gebe dir Nachhilfe", verkündete er triumphierend.
Dieses Schlitzohr.
„Du hast geschummelt!"
Ich pikste ihn in die Seite, hielt dann aber inne. Was tat ich denn hier? Ich kannte ihn gar nicht. Wieso behandelte ich ihn, als wären wir Kindergartenfreunde, die sich schon im Sandkasten die Schaufeln um die Ohren gehauen hatten?
„Ich habe nur ein bisschen nachgeholfen", verteidigte er sich. „Und ein Bild von dir, das ich mir einrahmen und übers Bett hängen kann", schob er scherzend nach.
„Lösch das! Auf Blitzlichtfotos sehe ich immer hässlich aus. Ich hab immer meine Augen zu."
Er sah prüfend auf sein Handydisplay.
„Nein, das ist ein hübsches Foto von dir und die Augen sind auch nicht zu. Das lösch ich nicht."
„Zeig her!"
Er presste das Display gegen seine Brust.
„Nein. Wenn du es sehen willst, musst du mir deine Nummer geben. Dann schicke ich es dir."
Er war wirklich nicht dumm.
„Du willst doch nur meine Nummer haben!"
„Natürlich!"
Meine Wangen wurden heiß, als er das sagte. Konnte Mel Recht haben? Stand er vielleicht doch auf mich? Und stand ich vielleicht sogar auf ihn?
„Wir müssen schließlich unsere Termine für die Nachhilfe ausmachen", schob er nach.
Ich sagte ihm meine Nummer an.
„Hast du nen Spitznamen?", erkundigte er sich, als er wohl meinen Namen zur Nummer schreiben wollte.
„Nein, einfach Violett."
Er legte seinen Kopf schief.
„Kein Spitzname?"
„Nein. Ist Marlo denn ein Spitzname?"
„Jep", sagte er locker. „Aber ich verrate dir nicht meinen richtigen Namen."
„Oh, da tut aber jemand auf geheimnisvoll. Wahrscheinlich heißt du Bernd oder so."
Er warf sich übertrieben die Hände vor den Mund.
„Jetzt hast du mein Geheimnis herausgefunden. Bitte sag es niemanden."
Schon wieder schaffte er es mich zum Lachen zu bringen und das mit sehr platten Humor. Es war einfach seine Art, seine Mimik und Gestik, die mich jedes Mal zum Schmunzeln brachte.
„Was zahlst du mir für mein Schweigen?", spielte ich das Spiel mit.
„Nachhilfeunterricht", witzelte er.
„Aha, von wegen umsonst!"
Wir grinsten uns beide an.
Ich hätte am liebsten ewig mit ihm auf dem Balkon gesessen und herumgealbert. Ich wollte nicht zurück in meine Wohnung. Für Marlo schien das Leben so leicht. Ich beneidete ihn darum. Vielleicht sollte ich auch mal nach Argentinien und mich bekehren lassen.
„Sorry, dass ich dich vom Lernen abgehalten habe", sagte er nun wieder ernster. „Aber ich finde Gewitter einfach so faszinierend und wollte das mit dir teilen. Ich verspreche dir, dass wir das morgen nachholen und fleißig Spanisch büffeln werden."
„Morgen?", kam es etwas zu schnell und zu panisch über meine Lippen.
Schon morgen? Das ging aber schnell. Die Vorstellung, dass ich ihn zu mir in die Wohnung lassen sollte, verschaffte mir ein mulmiges Gefühl. Was, wenn Mum noch immer betrunken war? Oder wenn Sam die Wohnung mal wieder die Wohnung ins Chaos stürzte?
„Ja, es soll gutes Wetter werden. Wir können in den Park gehen und da lernen."
Schnell nickte ich. Bloß weit weg von unserer Wohnung.
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