5 - Du brauchst nen Freund
Pizzakartons stapelten sich in Rekordhöhe. Zerdrückte Bierdose gesellten sich zu den leeren Chipstüten und der Grasgeruch hatte sich an alles gehangen, was nicht fliehen konnte. Es war ein Saustall, der seinesgleichen suchte. Lissy und Sam hatten sich in sein Zimmer geflüchtet und schliefen vermutlich. Man sah sie kaum vor der Mittagszeit aus dem Zimmer trotten.
„SAM!", brüllte ich durch die Wohnung und machte mich auf den Weg in sein Zimmer.
Wie erwartet lag er mit Lissy in seinem Bett.
„SAM!", rief ich erneut, als er nicht reagierte.
Nur träge bewegte er sich und sah mich an.
„Violett, ich schlafe. Verpiss dich!"
Ich stemmte die Fäuste in die Seite.
„Mum kommt in ein paar Stunden und es sieht hier aus, als hätte man unserer Wohnung als Müllhalde missbraucht und riechen tut es wie bei den Stones im Backstage-Bereich."
„Woher weißt du wie es bei den Stones im Backstage-Bereich riecht?", fragte er dumm.
„Halt die Klappe und räum lieber auf!"
Ich warf ein T-Shirt nach ihm, das bis eben neben mir über der Türklinge gehangen hatte. Leider verfehlte ich.
Er drehte sich auf den Bauch und zog sich das Kissen über den Kopf, während Lissy weiterschlief. Die weiße Bettwäsche hatte sie wohl als Abschminktuch missbraucht. Nur so konnte ich mit die braunen Flecken darauf erklären.
„Sam, komm schon! Ich will kein Ärger bekommen", flehte ich.
„Räum doch selbst auf, wenn du keinen Ärger bekommen willst!"
Ich hasste ihn für solche Kommentare. Er wusste, dass ich nicht gern Ärger von Mum bekam. Er war da deutlich lockerer. Wenn er von Mum mal eine gescheuert bekam, störte ihn das nicht wirklich. Mich traf jede Ohrfeige direkt ins Herz.
Wütend schmiss ich die Tür zu.
Ich begann in der gesamten Wohnung die Fenster aufzureißen. Ich schnappte mir die XXL-Mülltüten und stopfte den ganzen Müll dort hinein. Ich saugte, schob alle Möbel wieder an die ursprüngliche Stelle zurück und verteilte dann eine ordentliche Ladung Raumerfrischer im Wohnzimmer. Angeblich sollte dann alles wie eine Frühlingsbrise riechen. Mich erinnerte es eher an Frauen, die versuchten ihren Schweißgestank mit Parfum zu überdecken.
Ich hasste es, dass Aschenputtel der Familie zu sein, doch leider war das schon immer meine Aufgabe gewesen und aus irgendeinem Grund ließ ich es mit machen.
Als Mum gegen Mittag nach Hause kam, sah alles wieder blitzeblank aus. Würde ich hier nicht wohnen, würden hier schon Kammerjäger in Gefolgschaft von einem Kamerateam durch die Müllberge stapfen.
Als ich Mum sah, erschrak ich. Sie sah nicht gut aus. Sie war hackedicht. Ihre fettigen Haare hatte sie lose zu einem unordentlichen Dutt gebunden. Sie wankte und ihr Blick war wirr.
Scheiße.
Nicht schon wieder.
„Mum, alles in Ordnung?", fragte ich vorsichtig.
Sie sah zu mir.
„Sehe ich aus, als ging es mir gut?", raunte sie mich an.
Ich wusste, dass ich sie jetzt mit Samthandschuhe anfassen musste.
„Tut mir leid", entschuldigte ich mich kleinlaut.
Sie schnappte sich eine Flasche Wodka aus der Vitrine und ließ sich dann mit der Flasche aufs Sofa fallen. Meine Mutter hatte wunderbar schlanke Beine. Ihr Bauch war jedoch der eines Hängebauchschweins und so quietschte die Couch, als sie auf dem Sitzkissen landete.
„Er hat Schluss gemacht", lallte sie. „Dieses Arschloch hat mich für eine Jüngere sitzen lassen."
Sie hatte für heute definitiv genug getrunken, doch Mum öffnete die Wodkaflasche und setzte an. Sie nahm einen großen Schluck. Es war ihr egal, dass ich dabei zusah. Sie scherte es schon längst nicht mehr. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie Alkoholikerin war. Sie gab sich keine Mühe mehr es zu verstecken.
„Mark?", fragte ich vorsichtig. „Hat er dich betrogen?"
Sie funkelte mich böse an.
„Wer sonst?", fuhr sie mich an. Sie war nicht sie selbst, wenn sie betrunken war und leider war sie das viel zu oft. „Alles nur wegen dir."
Natürlich. Das Übliche. Ich war schuld. Ich war immer schuld. An allem. Wenn sie sich einen Nagel abbrach, wenn ihr ein Glas herunterfiel oder wenn ein Typ sie sitzen ließ. Ich war immer schuld. Wahrscheinlich war ich sogar daran schuld, dass die Titanic gegen den Eisberg gefahren war und dass die Dinos ausgestorben waren. Alles meine Schuld.
„Ihr Kinder habt mir mein Leben versaut." Ich wusste, dass der Alkohol aus ihr sprach, weshalb ich ihre Worte nicht wirklich ernst nahm. „Mein ganzes Leben habe ich für euch geopfert und was habe ich als Dank bekommen? Hässliche, selbstgemalte Bilder."
Ich hielt es für besser mich zu verziehen. Wenn sie so anfing, endete es meist übel.
„Sorry, Mum, bin noch mit Mel verabredet", entschuldigte ich mich.
Ich war zwar nicht mit Mel verabredet, aber ich wusste, dass ich bei ihr immer Zuflucht bekam. Zuflucht und so viel Schokolade, wie ich wollte.
Ich schnappte meine Tasche, ehe Mum widersprechen konnte und huschte aus der Wohnung. Es war Ende September und noch erstaunlich warm. So warm, sodass ich mir die Cellulite von Frauen angucken konnte, die nicht einsahen auch mit über 100kg auf kurze Shorts zu verzichten. Sich mit dem Kampfgewicht in enge Leggins zu quetschen war übrigens nicht besser.
Mit dem Bus konnte ich bis zu Mel durchfahren. Sie wohnte in einem Haus. Ihre Eltern waren oft auf Geschäftsreise, weshalb ich dort manchmal öfter war, als in unserer Wohnung. Per SMS warnte ich sie vor. Sie kannte das Spielchen schon.
„Alles okay?", begrüßte mich Mel und wedelte schon mit meiner Lieblingsschokolade herum.
Karamellisierte Macadamianüsse mit Kokos.
Ich könnte mich nur davon ernähren.
„Alles gut. Ich konnte rechtzeitig fliehen", informierte ich sie und schnappte mir die Tafel.
Wie selbstverständlich ging ich ins Wohnzimmer. Das hier war mein zweites Zuhause und ich war immer willkommen. Auch ihre Eltern freuten sich mich zu sehen, wenn sie denn mal zu Hause waren.
„Ihr Freund hat mit ihr Schluss gemacht und nun sitzt sie zu Hause und besäuft sich maßlos."
„Du kannst gern hier schlafen, wenn du magst."
Ich schüttelte den Kopf und biss dann in die Tafel rein.
Gott persönlich musste sich diese Geschmacksrichtung ausgedacht haben. Meine Geschmacksknospen kannten den Geschmack zwar schon, doch sie feierten jedes Mal eine Party, wenn ich ihnen mal wieder ein Stück gönnte.
„Nein, in ein paar Stunden wird sie eh so breit sein, sodass ich nur noch in der Ecke liegt."
Ich bekam einen mitleidigen Blick von Mel. Sie war die Einzige meiner Freunde, die wusste, dass meine Mutter Alkoholikerin war.
„Nun guck nicht so, als hätte man gerade eine Kiste voller Welpen auf der Autobahn abgesetzt", ermahnte ich sie.
Mel verzog das Gesicht.
„Violett, das ist nicht richtig, was deine Mutter tut! Es muss sich etwas ändern. Das kann nicht so weiter gehen. Sie muss in den Entzug."
„Das wird sie aber nicht tun. Sie trinkt schon immer. Sogar, als sie mit mir schwanger war. Was meinst du wohl, warum ich mich nie konzentrieren kann? Sie wird nie vom Alkohol wegkommen."
„Aber du musst daraus. Geh zum Jugendamt. Ich begleite dich auch."
Ja, ich musste daraus, aber erst einmal wollte ich mein Abi in der Tasche haben. Ein dreiviertel Jahr musste ich also noch durchhalten.
„Mach dir um mich mal keine Sorgen!", spielte ich die Heldin.
Natürlich belastete mich die Situation, aber ich wollte es nicht vor Mel offenbaren. Ich zeigte es nicht gerne, wie sehr ich unter der Situation litt.
„Ich bin gestern Abend noch mit zu Marlo in die Wohnung gegangen und wir haben bis in die Nacht gequatscht", wechselte ich nun das Thema, um abzulenken.
Ich wusste, dass Mel solche Geschichten liebte und sie alles, was wir zuvor besprochen hatten, vergessen würde. Mel könnte tagelang nur über Jungs quatschen.
„Wirklich?", quietschte sie. „Oh bitte, Violett! Gib ihm eine Chance! Ich fand, der war echt süß! Erzähl, wie war er so? Was habt ihr gemacht? Hat er dich geküsst oder dir noch mal seinen knackigen Hintern gezeigt?"
„Mel!", unterbrach ich sie lachend. „Wir haben nur gequatscht und er war erstaunlich nett. Er war ein Jahr in Argentinien und hat mir ein bisschen etwas über Land und Leute erzählt."
Ich konnte in Mels Augen die Herzchen aufflackern sehen. Jedoch nicht, weil sie auf ihn scharf war, sondern weil sie mich verkuppeln wollte. Sie liebte Kuppeln. Schon unzählige Typen hatte ich dank ihr an der Backe gehabt. Einer schlimmer als der andere. Von popelnden Nerds bis hin zu stinkenden Emos hatte ich dank ihr schon alle mal kennengelernt. Und jedes Mal hatte sie vorher gesagt: Glaub mir Violett, der ist perfekt für dich.
„Vergiss es!", sagte ich sofort. „Darf ich dich daran erinnern, dass er leicht exhibitionistische Züge an!"
„Ach komm, er hat dir damit das Leben gerettet. Er ist ein Held."
Ich lachte.
„Und ich dachte Helden hätten immer Sixpacks, anstatt Locken, in denen man sich verirren kann."
„Nun sei mal nicht so oberflächlich! Die Locken stehen ihm. Es lässt ihn so rebellisch wirken. Außerdem ist es doch heiß, dass er mal in Argentinien war und spanisch sprechen kann."
Ja, ein bisschen sexy war es schon, aber ich hatte schon zu viele Peinlichkeiten mit ihm durchgestanden.
„Gib dir einen Ruck!", ermutigte mich Mel weiter. „Du brauchst endlich mal nen Freund und vor allem Sex. Du hast keine Ahnung, was dir entgeht!"
„Was man nicht kennt, kann man halt nicht vermissen."
Einer meiner Lieblingssprüche, der universell einsetzbar war. Mel schüttelte jedoch unbeeindruckt den Kopf.
„Ich wette, er ist gut im Bett. Hast du gesehen wie lang sein-."
„Mel, halt die Klappe!", unterbrach ich sie.
Darüber wollte ich nun wirklich nicht reden. Es war erstaunlich, dass ich keine Alpträume diese Nacht bekommen hatte.
Mel kicherte.
„Du musst lockerer werden. Hab ein bisschen Spaß!"
Das sagte sich so leicht. Sie hatte ihre allzu perfekte Familie, mit so viel Geld wie sie haben wollte und noch mehr Freiheiten. Da war es einfach Spaß zu haben.
„Ich habe Spaß im Leben", sagte ich stur.
„Ich rede auch von Spaß mit Jungs. Du hast doch noch nicht einmal richtig geknutscht."
„Doch, mit Tim", erinnerte ich sie, doch sie lachte nur.
„Also, das gilt nicht. Tim hat eher eine Mundvergewaltigung bei dir durchgeführt. Das sah echt nicht ansehnlich aus, was er damals mit dir angestellt hat. Es wirkte fast so, als hätte er es sich vorgenommen jeden Quadratzentimeter deines Mundraumes auszuwischen. Außerdem warst du betrunken und hast dich danach übergeben und mir drei Wochen in den Ohren gehangen, wie furchtbar es war." Eindringlich sah sie mich an. „Du hast einen Jungen verdient, der dich leidenschaftlich ansieht, während er dich küsst und nicht so ein Biest wie Tim, der auf schnellsten Weg versucht hat seine Sabber loszuwerden. Hast du nicht gesehen, wie dieser Marlo dich gestern angeguckt hat? Ich glaub, er steht auf dich."
„Quatsch!", sagte ich sofort.
„Klar, tut er das. Warum hätte er dich sonst gestern noch zu sich einladen sollen?"
„Er ist einfach nur nett. Außerdem hat er gesagt, dass er vorerst genug von er Liebe hat, da er erst aus einer Beziehung kommt. Du weißt doch, dass ich eher so nen Kumpeltyp bin."
Mel lachte und verdrehte die Augen.
„Ja, aber ein verdammt hübscher Kumpeltyp, der Brüste und eine beneidenswerte Taille hat."
„Zwischen uns wird nichts laufen. Ende der Diskussion."
Abwertend schüttelte sie den Kopf.
„Also, wenn ich Single wäre, würde ich ihn nehmen. Nimm ihn, bevor ihr dir jemand wegschnappt!"
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