4 - Jungs sind komisch
Wir trafen uns vor dem Haupteingang wieder.
Auch wenn wir uns schon nackt gesehen hatten, verzichtete ich gern darauf in einer Umkleide mit ihm zu sein.
Mel verabschiedete sich mit einem Wangenkuss und einer lockeren Umarmung von mir.
„Komm schon. Er ist süß. Jetzt sei nicht so verkrampft", flüsterte sie mir ins Ohr, was er definitiv hören konnte.
Wer Mel zum Freund hatte, brauchte keinen Feind mehr.
Langsam nahm sie schon Züge von Lissy an. Ich konnte mir meinen Freund schon noch alleine aussuchen. Sie hatte mit ihren Megabrüsten und dem ausgeprägten Selbstbewusstsein natürlich kein Problem einen Freund zu finden.
Ich stieg auf der Beifahrerseite ein. Sein Auto war eine alte Klapperkiste, doch erstaunlich ordentlich.
„Im Handschuhfach ist ein Snickers. Ich glaube, ein bisschen Zucker würde deinem Kreislauf gut tun."
„Immer wieder dieser Snickers", scherzte ich das erste Mal und versuchte nett zu klingen. Ich griff ins Handschuhfach und zog mir den Riegel heraus. „Jetzt schulde ich dir wieder einen."
„Ist geschenkt", sagte er lässig.
Eigentlich war er ja nett. Vielleicht sollte ich mich wirklich mal von einer besseren Seite zeigen. So übel war er eigentlich nicht.
Marlo startete den Motor, der erst einmal aus seiner Tiefschlafphase geholt werden musste.
„Danke übrigens, dass du mich vorhin davor gerettet hast für immer entstellt zu sein", brachte ich mit Mühe über die Lippen.
„Ach, es gibt Schlimmeres als eine hübsche, nackte Frau in den Armen zu halten", witzelte er, doch ich fand das nicht so lustig.
Würde er nicht gerade am Steuer sitzen, hätte mein Ellenbogen jetzt den Weg in seine Rippen gefunden. Hatte er die Situation tatsächlich ausgenutzt?
„Geht's noch?", meckerte ich.
„Hey, reg dich ab! Das war ein Scherz! Was sollte ich denn bitte tun? Ehe ich mir ein Handtuch geschnappte hätte, um mich zu bedecken, wäre dein Gesicht längst weggebrutzelt gewesen." Dann sah er zu mir. „Ich bin kein Perversling." Er lächelte in sich hinein. „Aber trotzdem bin ich ein Mann und als solcher kann ich sagen, dass du dich für deinen Körper ja nun wirklich nicht schämen musst."
War das ein Kompliment oder Anmache?
„Ähm, danke", sprach ich mit hochrotem Kopf.
Falls er hoffte, das Kompliment zurückzubekommen, könnte er lange warten. Ich hatte seinen Körper so wenig, wie nötig betrachtet und selbst dabei viel zu viel gesehen. Ich wollte das jetzt nicht thematisieren.
„Ich hoffe, du hast keinen Freund, der mich jetzt verprügelt, weil wir zu viel Körperkontakt hatten", witzelte er und schien mit dem Thema noch nicht durch zu sein.
Clevere Taktik, um herauszufinden, ob ich Single war.
„Gibt kein Freund", sagte ich knapp.
Er versuchte seine Freude darüber zwar zu verstecken, doch er war nicht sonderlich talentiert darin.
„Wieso nicht?"
Was sollte das denn jetzt werden? Das hier war ein Beifahrersitz und nicht die Couch eines Psychologen.
„Keine Ahnung. Jungs sind komisch."
Oh Gott, was gab ich denn hier gerade von mir? Warum redete ich manchmal so einen Stuss, wenn ich in der Nähe von Jungs war?
„Jungs sind komisch? Also stehst du nicht auf Jungs?"
Ich schluckte schwer. So hatte ich das nicht gemeint.
„DOCH! Ich stehe auf Jungs", erwiderte ich sofort. „Ich bin nicht lesbisch." Mir gefiel ganz und gar nicht, in welche Richtung dieses Gespräch lief. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich noch nie einen Freund hatte: Alle hielten mich für eine Lesbe. „Es ist nur nicht so einfach mit Jungs."
Marlo lachte.
„Sorry, hab das wohl falsch verstanden", entschuldigte er sich. „Mit Mädchen ist es auch nicht immer so einfach", scherzte er und schien sich über meine Unsicherheit zu amüsieren.
Er hörte sich erfahren an, was das betraf.
„So schwer ist das mit Mädchen nicht", sagte ich altklug. „Wir mögen es nicht, wenn man Kaffee über uns schüttet und auch nicht, wenn man uns splitterfasernackt an sich drückt."
Marlo schmunzelte bei meinen letzten Worten und wahrscheinlich keimte doch noch mal die Theorie auf, dass ich lesbisch sein könnte. Ich redete mich hier um Kopf und Kragen.
„Da hatten wir ja einen ganz schön miesen Start", witzelte er. „Aber das mit dem Auffangen würde ich trotzdem jederzeit wieder tun. Es wäre eine Schande, wenn dein Gesicht entstellt wäre."
Okay, ich war schon wieder gemein. Immerhin hatte er mich mit dieser Aktion wirklich gerettet und machte mir jetzt auch noch Komplimente.
„Hast du denn eine Freundin?", lenkte ich vom Thema ab.
„Nee."
„Und warum nicht?", hakte ich nach. Schließlich hatte er das bei mir auch gemacht.
„Hab erst eine Beziehung hinter mich gebracht. Brauch erst einmal ne Pause."
Lässig bog er das Auto in unsere Straße ein. Wir hatten Glück und fanden eine Parklücke direkt vor dem Hausaufgang. Die Wahrscheinlichkeit im Lotto zu gewinnen, war deutlich höher. Die Parkplatzsituation war hier eine Katastrophe, weshalb Mum keines besaß und wir unsere Einkäufe schleppen mussten.
Ohne es auszusprechen, hatten Marlo und ich uns darauf geeinigt die Treppen zu nehmen. Von Fahrstühlen hatten wir beide erst einmal genug. Meine Pomuskeln würden mich dafür zwar hassen, aber sie hatten ein bisschen Arbeit auch nötig.
Ich hörte schon von draußen die Beats aus unserer Wohnung. Eigentlich hatte ich erst später nach Hause gehen wollen, doch die Pläne hatten sich geändert.
„Da feiert wohl jemand", bemerkte Marlo und schloss seine Tür auf.
Ich konnte selbst im Treppenhaus das Gras riechen. Ich hasste den Geruch. Ich bekam davon Kopfschmerzen.
„Mein Bruder hat ein paar Kumpels eingeladen", informierte ich Marlo und versteckte meinen Unmut diesbezüglich nicht.
„Du siehst nicht so erfreut darüber aus."
„Das da drin ist wie Woodstock, bloß ohne Sex und mit Elektrobeats statt Gitarrensolos. Dafür starren sie alle auf den Fernseher."
„Also kiffen, PS zocken und trinken?", resümierte Marlo.
„Ja."
„Nicht so dein Ding?"
„Nein, nicht mein Ding", stellte ich klar.
„Willst du noch zu uns mit reinkommen. Ich kann dir Asyl geben."
Ich biss mir auf die Unterlippen. Das war wirklich keine leichte Entscheidung. Entweder müsste ich in einer Graswolke mit Menschen sitzen, die weniger Gehirnzellen als eine Ameise hatten oder ich würde mit einem Jungen abhängen, mit dem ich mehr Körperkontakt hatte, als mit keiner anderen Person auf dieser Welt.
„Ich will keine Umstände machen", zierte ich mich.
Marlo stieß nun die Tür auf.
„Machst du nicht. Komm rein! Fühl dich wie zu Hause. Mein Vater ist nicht zu Hause."
Vielleicht wäre es besser, wenn sein Vater zu Hause wäre. Eigentlich hatte meine Mutter mir immer beigebracht nie zu Fremden in die Wohnung zu gehen. Aber mal ehrlich: War mir jemand fremd, mit dem ich mich nackt umarmt hatte? Umarmt war sogar noch eine Untertreibung. Ich war mir sicher, dass es Leute gab, die Sex mit deutlich weniger Körperkontakt hatten.
Ich trat ein.
Und fand mich prompt in einer Burg aus Pappkartons wieder.
„Ist noch ein bisschen chaotisch", entschuldigte sich Marlo und schlängelte sich gezielt durch die Festung. „Willst du etwas trinken?"
Ich lehnte ab und starrte auf die ganzen Kartons, die fein säuberlich beschriftet waren. Es war eine weibliche Schrift.
„Was ist mit deiner Mum? Warum wohnt sie nicht hier?"
Ich fiel gern mal mit der Tür ins Haus, ohne dass ich es überhaupt bemerkte. Doch Marlo blieb locker.
„Meine Eltern haben sich letzten Monat getrennt. Deshalb sind wir auch umgezogen. Meine Eltern haben mir die Entscheidung überlassen, bei wem ich wohnen will und ich habe mich für meinen Vater entschieden." Er schlängelt er sich in die Küche zum Kühlschrank. „Was ist mit deinen Eltern? Sie die noch zusammen?", fragte er und holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank.
„Ich hab meinen Vater nie kennengelernt."
Marlos Blick ruhte kurz auf mir.
„Ist nicht so leicht, oder?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Man kann nichts vermissen, was man nie hatte."
Ich sagte das immer, wenn jemand danach fragte, doch um ehrlich zu sein, vermisste ich meinen Vater sehr. Ich wüsste gern, wer war und fragte mich oft, ob er sich um gekümmert hätte, wenn er von meiner Existenz gewusst hätte. Ich hätte in meinem Leben oft einen Vater gebraucht.
Marlo ließ sich auf die Couch fallen und klopfte auf den Platz neben sich, um mir zu zeigen, dass ich auch Platz nehmen sollte
Ob ihm bewusst war, dass ich kein Hund war, der auf Platz und Sitz hörte? Trotzdem folgte ich seiner Anweisung.
Ich saß neben mir und begann zu bereuen, dass ich mit ihm in die Wohnung gegangen war. Nun war diese unangenehme Stille zwischen uns. Das war die fruchtbarste Stille, die es im Leben gab. Man saß da und suchte verzweifelt ein Thema.
„Welche Klasse bist du jetzt?", erkundigte er sich.
Ihm die Stille nichts auszumachen. Mal abgesehen von Fahrstühlen, die stecken blieben, schien ihm generell nichts so schnell aus der Ruhe zu bringen.
„12."
„Dann machst du nächstes Jahr dein Abi?"
„Sieht ganz so aus."
Ich war keine gute Schülerin. Ich war nicht doof, aber mir fiel Lernen extrem schwer. Es fiel mir schon immer schwer mich im Unterricht zu konzentrieren.
„Du bist schon fertig, oder?"
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin auch im dritten Semester. Eigentlich wäre ich schon fertig, aber ich hab nach der zehnten ein Highschooljahr gemacht."
Wow, ich hatte so etwas auch immer machen wollen, doch wir hatten dafür nicht das Geld.
„Wo warst du?", fragte ich nun interessiert.
„Argentinien."
„Wow", kam es ohne zu überlegen über meine Lippen.
Er lächelte süffisant.
„Beeindruckt?"
„Ein bisschen", gab ich zu. „Hast du doch auch gelernt Tango zu tanzen?"
Er grinste nun breit.
„Ich habe tatsächlich einen Tanzkurs besucht, aber eine Körperkoordination ist die einer Qualle."
Ich musste bei dem Vergleich lachen. Bei seinen langen Gliedmaßen schien es auch eine Sache der Unmöglichkeit diese zu koordinieren.
„Wie ist dort so?", fragte ich neugierig.
Ich war noch nie im Ausland gewesen und deshalb liebte ich es mir Geschichten von anderen Ländern und Kulturen anzuhören.
„Es ist großartig dort. Ich liebe die Mentalität. Die Menschen sind dort viel lockerer und sehen alles einfach gelassen. Und das Essen ist großartig. Es gibt nichts Besseres als argentinische Steaks."
Ich konnte das Leuchten in seinen Augen sehen. Er vermisste Argentinien.
„Erzähl mehr!", forderte ich ihn auf.
Und dann begann er zu erzählen. Er berichtete von Touren durch den Dschungel und wie er von Wasserfällen gesprungen war. Er erzählte, dass man dort auch Skifahren konnte. Ich war zwar noch nie Ski gefahren, aber so wie er es erzählte, musste es wirklich Spaß machen. Er sprach von Kühen, die dort massiert werden, damit das Fleisch besser schmeckt, von Bussen, die sich nie an den Fahrplan hielten und von einer Besessenheit von Fußball, die seinesgleichen suchte.
Er hörte gar nicht mehr auf zu reden und ich genoss es wirklich ihm zu zuhören. Er hatte eine sehr witzige Art Dinge zu erzählen und ich wünschte, dass ich eines Tages auch mal nach Argentinien reisen könnte.
Als ich das erste Mal auf die Uhr sah, stellte ich fest, dass es schon 2 Uhr morgens war.
„Wo ist die Zeit geblieben?", fragte ich in den Raum hinein.
„Auch typisch deutsch", sagte er lachend. „Ist doch egal, wie spät es ist. Wir haben uns nett unterhalten und darauf kommt es an."
Ich schmunzelte, denn er hatte Recht.
„Ja, das mag stimmen, aber ich sollte jetzt trotzdem rüber gehen. Die Sauna hat mich echt müde gemacht."
Ich rappelte mich von dem Sofa auf.
„Meinst du die Party bei euch schon vorbei?"
Ganz sicher nicht.
„Nein, aber ich bin so müde, dass ich eh gleich einschlafen werde."
Marlo stand nun ebenfalls vom Sofa auf.
„Okay, aber wenn du einen Zufluchtsort brauchst, dann kannst du jederzeit herkommen."
„Danke schön", sagte ich ernst gemeint. „Für alles."
Er lächelte höflich.
„Immer wieder gerne."
Ich ging in Richtung Tür, blieb dann kurz davor aber stehen.
„Marlo." Es war das erste Mal, dass ich seinen Namen aussprach. „Auf welche Schule gehst du eigentlich?"
Wenn er im gleichen Semester wie ich war, dann könnten wir eventuell im selben Jahrgang sein.
„Rosa Parks. Ich bin an meiner alten Schule geblieben. Ich muss jetzt zwar immer eine halbe Stunde mit der Bahn hinfahren, aber ich wollte nicht für die letzten Monate wechseln", erklärte er mir.
Seltsamerweise war ich darüber ein wenig traurig. Ich glaube, ich hätte mich gefreut, wenn Marlo der neue Schüler an unserer Schule gewesen wäre.
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