27 - 1.Weihnachtsfeiertag
Ich schlief an diesem Abend mit einem Lächeln ein. Ich hatte mich noch nie so geborgen gefühlt.
Es war am Mittag des ersten Weihnachtsfeiertages, als es an der Tür klopfte. Wir erwarteten Marlos Großeltern. Ich war ein bisschen aufgeregt, weil ich sie das erste Mal treffen würden und ich einen guten Eindruck hinterlassen wollte.
Es war Thorsten, der die Tür öffnete. Marlo und ich hielten uns mit einem Willkommenslächeln auf dem im Hintergrund.
Ich sah nicht viel von der Person, die da im Hausflur stand, aber das war definitiv weder sein Opa noch seine Oma. Das war eine junge Frau.
„Guten Tag, sind Sie Herr Zarow?", ertönte eine helle Frauenstimme.
„Ja", sagte Thorsten zögerlich. „Kann ich Ihnen helfen?"
„Ich bin frau Kaufmann. Ich komme vom Jugendamt. Ist Violett Meister hier?"
Marlo und ich sahen uns mit großen Augen an.
Bitte nicht! Nicht jetzt, wo alles so erfekt war. Nicht das Jugendamt.
Ich krallte mich an Marlos Hand fest.
„Was wollen Sie von ihr?", entgegnete Thorsten und antwortete nicht auch ihre Frage.
„Ihre Mutter ist zu uns gekommen und meinte, dass Violett hier wohnt, obwohl sie dazu nicht zugestimmt hat."
Der Hass auf meine Mutter stieg ins Unermessliche. Nie hatte sie sich um mich gekümmerte und nun, wo ich glücklich war, schaffte sie auf einmal den Weg zum Jugendamt.
Ich trat einen Schritt nach vorne, sodass mich Frau Kaufmann sehen konnte.
„Ich will aber hier bleiben und nicht zu meiner Mutter", ergriff ich das Wort.
Ihr Blick ruhte auf mir.
„Bist du Violett?"
Dumme Frage. War das nicht offensichtlich?
„Sieht wohl ganz so aus!", zischte ich.
„Violett", sprach sie meinen Namen ruhig aus. „Du bist minderjährig und deine Mutter hat das Sorgerecht. Damit bestimmt sie, wo du wohnst."
„Meine Mutter hat mich krankenhausreif geschlagen. Sie ist Alkoholikerin. Ich glaube kaum, dass sie weiß, was für mich am besten ist!"
Ihre Augen verengten sich.
„Sie hat dich geschlagen?"
„Ja! Sonst würde ich ja wohl kaum von zu Hause abhauen, oder?"
Sie seufzte.
„Wenn das so ist, dann müssen wir dich da natürlich rausholen. Am besten du packst deine Sachen und du kommst mit mir mit. Dann werden wir sehen, was das Beste für dich ist, aber du kannst nicht einfach bei fremen Menschen wohnen."
Fremd? Thorsten und Marlo waren alles, aber nicht fremd.
„WAS? Nein! Das sind keine Fremden für mich und sie behandeln mich besser, als meine Mutter es je getan hat. Außerdem ist doch Weihnachten!"
„Das sehe ich genauso", stärke Thorsten mir nun den Rücken. „Sie fühlt sich hier wohl. Wir kommen alle gut aus. Sie kann hier wohnen bleiben."
„So einfach geht das leider nicht", entgegnete sie. „Es muss erst geprüft werden."
„Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Ich fühle mich hier wohl. Hier schlägt mich keiner. Wieso wollen sie mich hieraus holen?"
„Das sind die Vorschriften. Du kannst nicht einfach so, irgendwo einziehen. Packe jetzt bitte deine Sachen."
Jetzt?
„Nein!" Ich wurde immer lauter. „Ich kenne sie doch überhaupt nicht. Ich gehe nicht mit Ihnen mit!"
„Da wirst du nicht drumrumkommen und wenn ich die Polizei holen muss." Ihr Tonfall wurde strenger. "Herr Zarow macht sich strafbar, wenn er dich hier weiter wohnen lässt, ohne die Erlaubnis zu haben."
Damit hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Ich wollte nicht, dass Thorsten oder Marlo wegen mir Ärger bekamen.
„Dumme Hexe!", feuerte ich ihr ins Gesicht und lief wütend in Marlos Zimmer.
Marlo klebte mir dabei an Fersen.
„Violett, warte doch mal!", sagte verzweifelt. „Du musst da nicht mit. Wir kriegen das bestimmt auch anders geregelt."
„Ich will nicht, dass ihr Ärger bekommt", entgegnete ich knapp und begann meine wichtigsten Sachen in eine Reisetasche zu stopfen. Sie hatten schon so viel für mich getan. Ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen.
„Mach dir um uns mal keine Sorgen. Ich weiß doch, was du für eine Angst hast."
Ja, ich hatte Angst, aber ich würde den Teufel tun und das zugeben.
„Ist okay, Marlo. Wirklich. Sie kümmern sich jetzt um mich und mit ein bisschen Glück lassen sie mich bald wieder zu euch."
Ich legte meine Pullover notdürftig zusammen und verstaute sie in einem Rucksack.
„Ich will nicht, dass du an Weihnachten ins ein Heim musst."
Das wollte ich auch nicht.
„Ist wirklich okay. Wir hatten doch gestern ein schönes Weihnachtsfest."
Ich musste jetzt stark sein. Ich dürfte Marlo meine Angst nicht zeigen. Er sollte sich nicht noch schlechter fühlen, als er es eh schon tat.
Marlo nahm mich sachte am Handgelenk und zog mich zu sich ran. Dann sah er mir in die Augen. Zwischen unsere Nasespitzen hätte nicht einmal mehr ein Atomkern gepasst.
„Es wird alles gut werden. Wir sorgen dafür, dass du da so kurz wie möglich bleiben musst. Verstanden? Wir holen dich da raus!"
Ich küsste ihn und umarmte ihn fest. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass das hier kein normaler Abschied war.
„Danke. Für alles!"
Er strich mir verträumt über die Wange.
„Du bist doch meine Prinzessin. Ich würde alles für dich machen. Dafür musst du dich nicht bedanken. Und ich werde dich da auch rausholen. Ich liebe dich."
Ich küsste ihn noch einmal.
„Ich liebe dich auch."
„Mach dir keine Sorgen. Wenn irgendetwas ist, dann ruf mich an und ich werde sofort da sein. Verstehst du? Du bist nicht allein!"
Er meinte es genauso, wie er sagte.
Auch wenn ich innerlich weinte, zeigte ich ihm meine Tränen nicht. Stattdessen schwang ich mir meine Reisetasche über die Schultern und ging zurück in den Flur. Thorsten und Frau Kaufmann diskutierten heftig.
Als sie mich sahen, verstummten sie.
„Freut mich, dass du zur Vernunft kommst", sagte sie mit einem falschen Lächeln. Sie erinnerte mich an die böse Hexe aus Hensel und Gretel.
Meine Aggressionenfür diese Frau waren so groß, sodass ich ihr am Liebsten die Mundwinkel runtergezogen hätte. Ihre Grinsen trieb mich in den Wahnsinn.
Thorsten hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie Marlo. Mitleid und Verzweiflung, abgerundet mit ein klein bisschen Schuld. Ich hasste meine Mutter so sehr, denn sie gönnte mir mein Glück nicht. Wegen ihr wurde ich hier rausgeholt. Sie zerstörte mein Leben und das war nie anders gewesen.
Es war so ironisch, dass ausgerechnet Sie zum Jugendamt gegangen war.
Thorsten umarmte mich mit denselben Versprechungen wie Marlo zum Abschied. Sie würden mich daraus holen. Das sagten sie immer und immer wieder. Dann verschwand ich im Treppenhaus und konnte meinen Tränen endlich freien Lauf lassen.
„Ich tu dir doch nichts", sprach die Jugendamtfrau auf mich ein.
„Sie tun mir nichts? In diesem Augenblick nehmen sie mir die einzigen Menschen weg, die mir jemals das Gefühl gegeben haben willkommen zu sein und zu einer Familie zu gehören. Ich hoffe, Ihnen ist bewusst, dass Sie heute –an Weihnachten – Menschen wehgetan haben."
Nun schwieg sie, aber so etwas wie Reue in ihrem Gesicht konnte ich nicht erkennen.
In diesem Moment fiel mir ein, dass ich all meine Sachen im Bad vergessen hatte. Ich hatte also nicht einmal eine Zahnbürste dabei. Super. Aber Umdrehen konnte ich jetzt nicht mehr.
Wir setzten uns in ein Auto. Ich nahm bewusst auf der Rückbank Platz. Ich wollte möglichst viel Abstand zwischen mir und der blöden Kuh bringen.
„Ich werde dich erst einmal in eine Art Erstaufnahme bringen. Dort leben viele Jugendliche zusammen. Es wird dir dort gefallen. Die Betreuer werden sich um dich kümmern und du wirst merken, dass es gar nicht so schlimm ist. Und wenn wir wissen, was mit dir passiert, werden wir dich endgültig unterbringen. Das wird nur ein paar Tage dauern. Wir müssen das alles einfach nur prüfen."
Ich antwortete nicht. Ich musste es jetzt einfach auf mich zukommen lassen. Ich hatte schon Vieles im Leben durchgestanden, dann würde ich das hier auch noch überstehen.
Dann hielt das Auto vor einem großen, grauen Betonklotz. Es regnete. Man würde nicht vermuten, dass heute der erste Weihnachtsfeiertag war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top