26 - Süß

Ich blieb in den folgenden Wochen bei Marlo wohnen. Ich traf Mum öfter im Hausflur. Jedes Mal flehte sie mich an, dass ich zu ihr zurückkommen sollte, doch ich fühlte mich so unglaublich wohl bei Marlo und seinem Vater. Es war ein komplett anderes Leben. Ein Leben ohne Angst und Gewalt. Ich hatte das vorher nicht gekannt. Ich wollte nicht mehr zurück zu ihr.

Thorsten und Marlo waren beide so lieb zu mir. Selbst wenn ich mal vergaß einen Teller in den Geschirrspüler zu stellen, wurde keiner böse. Nicht einmal als ich aus Versehen ein Glas umkippte. Mum hätte mir dafür mindestens eine gescheuert, doch die Zwei hatten einfach nur angefangen zu lachen. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass das alles neu für mich war.

Am Wochenende stand ich auf und der Frühstückstisch war geckt. Ich kannte das aus Filmen, doch erlebt hatte ich das nie. Mum hatte es nie geschafft für uns Frühstück zu machen.

Heute war Weihnachten. Es stand ein Weihnachtsbaum im Wohnzimmer. Wir hatten ihn alle gestern gemeinsam geschmückt. Das war auch so eine Sache, die ich noch nie gemacht hatte.

Wir hatten nie Weihnachten gefeiert und auch keine Geschenke von Mum bekommen. Lediglich Grandma hatte unser immer ein Päckchen vorbeigebracht, aber sie hatte nie bleiben dürfen. Meistens hatte ich an diesem Tag alleine in meinem Zimmer gesehen.

„Das ist auch für uns ein ungewohntes Weihnachten", erklärte Thorsten als wir alle in der Küche standen und Plätzchen buken. „Letztes Jahr war ich mit meiner Frau noch zusammen. Es ist das erste Weihnachten nach der Scheidung. Es ist schön, dass wir dich dieses Jahr dabei haben."

Im Radio spielte fröhliche Weihnachtsmusik.

„Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich euch bin."

Thorsten beschmierte scherzhaft meine Nase mit Mehl.

„Brauchst du nicht. Wir sind froh, dass du hier bist."

Er war ein so cooler Vater. Ob mein eigener Vater auch so wäre?

Ich konnte manchmal mit so viel Herzlichkeit gar nicht umgehen. Ich hatte das Gefühl es nicht zu verdienen.

Marlo umarmte mich von hinten und küsste mich auf die Wange. Dann steckte mir ein Stück rohen Teig in den Mund. Ich liebte rohen Mürbeteig und war süchtig nach der Butter-Zucker-Mehl-Mischung.

Dann hielt er mir ein Plätzchenherz vor die Nase. Mit Zuckerguss hatte er unsere Initialen dort hinein geschrieben. Ich konnte mir keinen besseren Freund als ihn vorstellen, auch wenn es superkitschig war und das eigentlich nie mein Ding gewesen war. Es war einfach das tollste Gefühl der Welt, von einem Jungen so sehr geliebt zu werden.

„Du bist süß, weißt du das?"

Er grinste und küsste mich erneut.

"Ich weiß. Du darfst auch gerne an mir knabbern."

Ich lachte und legte meine Lippen auf seine. Er hatte noch ein bisschen Zuckerguss auf den Lippen.

Auch wenn es erst um 10 Uhr morgens war, war es jetzt schon das beste Weihnachten, das ich je erlebt hatte. Ich sah zu dem Weihnachtsbaum, an dem die Lichter brannten. Es sah so wunderschön aus.

Nachdem die Plätzchen alle gebacken waren, wurde die Gans in den Ofen geschoben. Ich setze mich davor und beobachtete eine Weile, wie sie vor sich hin brutzelte. Der Geruch war göttlich.

Marlo leistete mir Gesellschaft.

„Als Kind habe ich auch immer davor gesessen", sagte er leise.

„Er riecht gut und ist warm. Der perfekte Platz in der Wohnung."

Marlo lächelte und küsste mich. Heute übertrieb er es mit den Küssen, doch mir konnte es nur Recht sein. Ich würde davon nie genug kriegen können.

„Mehr davon!", forderte ich.

Und prompten folgten gut ein Dutzend Küsse auf Stirn, Wangen, Kinn, Hals, Nase und Lippen.

Ich kicherte glücklich.

Zum Abendessen kam dann der Braten auf den Tisch. Dazu gab es Klöße und Rotkohl. Ein echtes Weihnachtsessen. Ich hatte mir immer vorgenommen, dass ich so etwas mal erleben würde, wenn ich meine eigene Familie gegründet hatte. Und nun saß ich hier als 17-jähriges Mädchen und hatte diese wunderbare Tafel mit all dem leckeren Essen vor mir. Ich hätte das nie für möglich gehalten.

Eine Träne kullerte mir über die Wange.

„Violett, weinst du?", hörte ich Thorsten fragen, der gerade den Braten anschneiden wollte.

Die Frage traf mich irgendwie ins Herz. Auf einmal brach alles aus mir heraus. Es war so peinlich. Ich saß hier weinend an diesem perfekt gedeckten Tisch. Auf den Servietten waren sogar kleine Weihnachtsmänner.

„Was ist?", fragte jetzt auch Marlo.

Doch mittlerweile hatten mich die Gefühle so sehr überrumpelt, sodass ich nicht mehr sprechen konnte. Das hier war etwas, wovon ich immer geträumt hatte und auf einmal war es wahr. Ich feierte Weihnachten wie jeder andere. Hier gab es Plätzchen, einen Weihnachtsbaum und diesem perfekten Gänsebraten. Das war einfach zu viel.

„Sch!", sagte Marlo und nahm mich in den Arm. „Warum weinst du?"

Ich wollte antworten, doch dann fing ich wieder an zu schluchzen und es kam zu unverständliches Gebrabbel aus mir heraus.

Das ging etwa fünf Minuten so. Mir war das so unangenehm, denn ich machte damit diese perfekte Stimmung kaputt. Warum wurde ich denn auf einmal so sentimental?

„Geht's wieder?", erkundigte sich Marlo, als sich meine Atmung normalisierte.

Ich nickte.

„Es tut mir leid. Ich weine einfach nur, weil es so schön ist."

Marlo zog eine Augenbraue hoch.

„Weil es so schön ist? Also ich drücke Freude für gewöhnlich anders aus", witzelte er leicht.

„Es ist nur... Ich kenne das alles nicht. Ich habe noch nie einen Gänsebraten gegessen und noch nie einen echten Weihnachtsbaum geschmückt." Meine Grandma hatte immer nur einen aus Plastik gehabt und das war einfach nicht das gleiche. „Dieser Tag heute ist wie in einem Bilderbuch und irgendwie kann ich es noch nicht so ganz glauben, dass das hier alles real ist."

Geschockte Blicke trafen mich.

„Du hast noch nie Weihnachten gefeiert?"

Beschämt nickte ich.

„Ihr habt gar nicht gefeiert? Nicht mal ein bisschen?"

Wieder nickte ich.

„Wir saßen immer in unserem Zimmer und haben uns selbst beschäftigt." Thorsten hielt sich die Hand vor den offenen Mund. Marlo tat es ihm nach. Sonerlich gut waren sie nicht gerade darin, ihren Schock zu verbergen. „Ich kann euch gar nicht oft genug danken, dass ihr mich bei euch wohnen lasst."

Marlo küsste mich. Er küsste mich wie noch nie zuvor.

„Du wirst so ein Weihnachten von jetzt an jedes Jahr erleben. Das verspreche ich dir."

Und schon nahmen meine Tränen wieder ihre Arbeit auf. Es waren Freudentränen, aber sie mischten sich mit ein bisschen Trauer. Denn ein Weihnachtsfest aus Kinderaugen würde ich nie erleben können. Das konnte mir keiner wiedergeben.

Der Braten schmeckte noch besser als er roch. Thorsten war ein großartiger Koch. Und zum Nachtisch gab es meine Lieblingsbrownies. Dann holte Marlo seine Gitarre und begann ein paar Weihnachtslieder darauf zu spielen.

Zwar regnete es draußen in Strömen, doch das ließ meine Weihnachtslaune nicht zerstören. Dann war es Zeit Geschenke auszupacken. Es hatte mich zugebenermaßen überfordert etwas für zwei Männer zu finden, die mir in den letzten Wochen ein neues Leben geschenkt hatten.

Ich hatte mich im Stricken versucht. Thorsten trug ständig diese Norwegerpullover und nun konnte er noch einen seiner Sammlung hinzufügen. Dieses Mal einen Selbstgestrickten von mir. Ich hatte das Gefühl, dass er sich ernsthaft darüber freute.

Dann war Marlos Geschenk an der Reihe. Da er nicht auf Strickwaren stand, konnte ich hier mit einem Pullover nicht punkten. Stattdessen hatte ich ihm eine Kiste zusammengepackt. Darin war eine CD mit Liedern, die uns verbanden. Ich hatte einen Zettel dazu gelegt und jedes Lied noch einmal erklärt, falls er es vergessen haben sollte. Dann war da noch eine Collage drin, die ich in mühevoller Arbeit zusammengestellt hatte. Zudem noch ein Album, in dem Tickets und Eintrittskarten klebten, von Veranstaltungen, die wir zusammen besucht hatten. Es lag eine DVD von unserem Lieblingsfilm drin, den wir bis jetzt immer nur illegal gestreamt hatten. Es war ein typisches Pärchengeschenk, aber ich sah, dass Marlo sich freute und das erleichterte mich extrem.

Dann übergab er mir zwei Schachteln. Ich öffnete zuerst die große. Sie war bis oben hin mit Süßigkeiten gefüllt. Ich liebte alles, was genug Zucker hatte, um mich zum Diabetiker zu machen. Mit Vorliebe Schokolade.

„Das richtige Geschenk ist in der kleinen Schachtel", sagte Marlo.

Ich merkte, wie er ein wenig nervös wurde.

Behutsam öffnete ich das Kästchen. Eine silberne Kette kam zum Vorschein. Vorsichtig zog ich sie heraus und betrachtete den Anhänger. Es war ein paar Engelsflügel.

„Klingt jetzt vielleicht kitschig, aber wenn ich mal grade nicht da bin, soll sie dich an mich erinnern und dir stellvertretend Kraft geben", sagte er halb scherzend, halb ernst.

Ich schwang mich auf seinen Schoß und küsste ihn.

„Du hättest mir doch nicht so etwas Teures schenken sollen. Ich bin doch schon so froh, dass ich bei euch sein darf."

„Wir sind auch froh dich hier zu haben", ließ Thorsten mich aufrichtig wissen.

Dann reichte auch er mir ein Geschenk. Ich sah mehr Klebeband als Geschenkpapier. Da schien jemand mächtig mit der Verpackung gekämpft zu haben.

Es war ein Handtuch-Set. Jedoch nicht irgendeins. Sowohl Thorsten als auch Marlo hatten jeweils Handtücher, auf denen ihre Namen eingestickt waren. Und genau solche besaß ich nun auch. Nur, dass eben mein Name da darauf stand.

„Jetzt gehörst du richtig zur Familie", sagte er und umarmte mich.



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Tags: #herzschmerz