25 - Es ist nicht fair

Ich lag abends eng umschlossen in Marlos Armen. Meinen Kopf platzierte ich auf seiner Schulter. Trotz der Schmerzmittel taten mir der Schädel und der Brustkorb weh.

„Du atmest schwer", stellte Marlo fest.

„Ja, durch die geprellten Rippen fällt es mir ein bisschen schwer."

Er streichelte meinen Arm. Seine Berührungen waren sanft. Er wollte mir unter keinen Umständen wehtun.

"Du bist wirklich tapfer", flüsterte er und küsste meinen Nacken.

"Ich geb mein Bestes."

Er strich mir durch die Haare.

„Darf ich dich fragen, wie deine Kindheit war?"

Ich legte meine Hand auf seinen flachen Bauch.

„Was willst du denn wissen?"

Er schwieg für einen Moment und schien zu überlegen.

„Am liebsten alles. Erzähl mir irgendetwas und bitte sei ehrlich. Ich will die Wahrheit hören."

Meine Hand wanderte auf seine Brust. Er hatte mir schon so viel von seinem Leben erzählt. Nur war ich mal mit dem Erzählen dran.

„Du kannst dir vorstellen, dass ich nicht die klassische Kindheit hatte. Ich musste früh selbstständig werden. Als ich klein war, hat meine Oma viel aufgefangen, was meine Mutter nicht geschafft hat. Aber sie konnte uns nicht alles ersparen. Mum hat während der Schwangerschaften getrunken und das sehr viel. Sowohl Sam, als auch ich waren in der Entwicklung immer etwas zurück. Wir lernten später laufen und später sprechen. Auch die motorischen Fähigkeiten entwickelten sich bei uns später. Ich kann mich zudem nur schwer konzentrieren. Ich hätte als Kind gefördert werden müssen, doch meine Mutter hat sich darum nicht gekümmert. Um gar nichts. Wäre unsere Oma nicht gewesen, wären wir wohl komplett verwahrlost. Es wurde nie zu Hause gekocht und ich kann mich nicht erinnern mit meiner Mutter mal gespielt zu haben. In der Grundschule fiel ich auf, weil meine Kleidung nicht gewaschen war und ich nie Essen mit hatte. Ich war eine Außenseiterin. Erst als ich älter wurde, ich meine Sachen alleine waschen konnte und auch den Rest selbstständig regelte, bekam ich Freunde."

„Und es hat nie jemand Verdacht geschöpft?", fragte er dazwischen.

„Doch. Viele Nachbarn und Lehrer konnten sich denken, dass etwas nicht stimmte. Aber die wenigsten Leute gehen dann wirklich zum Jugendamt. Einmal hatte sich meine Mutter bis zur Ohnmacht gesoffen. Sie kam ins Krankenhaus und man brachte uns Kinder in eine Art Heim, weil Grandma damals auf Geschäftsreise war und sie niemand erreichen konnte. Fünf Tage mussten wir da bleiben. Es war furchtbar. Da waren laute fremde Kinder, von denen die meisten verhaltensauffällig waren. Ich war damals ein sehr schüchternes Mädchen, was sie ausgenutzt haben."

„Wie meinst du das? Ausgenutzt?"

Mein Herz klopfte schneller. Ich hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Aber jetzt fühlte ich mich bereit. Ich vertraute Marlo.

„Sie haben sich an mir vergangen."

Ich konnte nicht glauben, dass ich das gerade wirklich ausgesprochen hatte.

Marlos Körper spannte sich an. Im Dunkeln konnte ich sein Gesicht nicht sehen.

„Du meinst, sie haben dich sexuell missbraucht?"

Noch nie hatte jemand diese Wahrheit ausgesprochen. Ich bekam Gänsehaut bei seinen Worten. So lange hatte ich es verdrängt und nun war alles wieder da. Diese Berührungen, der Geruch, der Schmerz.

„Ja."

„Oh Gott, Violett", hörte ich seine zittrige Stimme.

Ich spürte seinen schweren Atem auf meiner Haut.

„Ist schon okay. Ich war damals fünf. Ich kann mich kaum erinnern", sagte ich schnell, ehe er wieder einen halben Nervenzusammenbruch bekam.

Er umarmte mich fester. Mein Brustkorb tat dadurch weh, doch ich sagte nichts.

„Was haben sie damals mit dir gemacht?"

Ich hatte sie anfassen müssen und dann hatten sie mich vergewaltigt. Diese Jungs waren gerade mal 12 und 13 gewesen. Ich war gerade mal fünf Jahre alt gewesen.

„Ich will da nicht drüber sprechen." Ich konnte mit Marlo darüber nicht im Detail sprechen. „Aber dieser Vorfall ist der Grund, warum ich nichts mit dem Jungendamt zu tun haben will.", erklärte ich. „Ich habe Angst, dass ich wieder irgendwo lande, wo mir so etwas passieren könnte."

Er legte seine Wange an meine und schien mich nun zu verstehen.

„Das wird nicht passieren. Das lasse ich nicht zu", hauchte er.

Ich schluckte meine Tränen runter.

Selbst Mel wusste nichts davon. Niemand hatte es bis jetzt gewusst. Es war immer mein kleines dunkles Geheimnis gewesen, das ich versuchte zu verdrängen. Vielleicht war das auch er Grund gewesen, warum ich den Sex mit Marlo herausgezögert hatte. Auch wenn es schon über zehn Jahre her war, konnte ich mich noch zu gut an die Angst erinnern, die ich damals verspürt hatte.

Aber es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich nicht mehr allein war. Marlo war da und er würde ich beschützen.
"Marlo, du bist wirklich das Beste, was mir passieren konnte."

Seine Hände umfassten sachte mein Gesicht und legte seine Lippen auf meine. 
"Das gleiche könnte ich auch von dir sagen." Er streichelte mich liebevoll. "Ich lasse nicht zu, dass dir irgendjemand weh tut."

Mit diesem Gedanken schlief ich in seinen Armen ein.

Als ich wieder aufwachte, war er nicht mehr da und das ob wohl es gerade mal Mitternacht war. Es war dunkel und ich war allein. Das war kein schönes Gefühl. Ich kletterte aus dem Bett und folgte den Stimmen. Sie kamen aus dem Wohnzimmer. Ich blieb neben dem Türrahmen stehen, sodass Marlo und Thorsten mich nicht sehen konnten, ich sie aber hören konnte.

„Dad, sie hat eine Wunde auf der Stirn, die mit sieben Stichen genäht werden musste. Ich habe ihren Oberkörper gesehen. Der ist blau, grün und lila. Ich kann sie unmöglich zu ihrer Mutter zurücklassen", sprach Marlo.

„Das sage ich doch gar nicht. Das will ich auch nicht. Ich denke nur, dass wir das dem Jugendamt melden sollten. Sie könnten für Violett die beste Lösung finden. Sie darf hier nicht einfach einziehen, ohne dass ihre Mutter das will. Sie ist noch nicht volljährig und ihre Mutter hat das Sorgerecht."

„Sie will aber nicht zum Jugendamt."

„Aber warum?"

Gebannt hörte ich nun zu. Würde Marlo mein Geheimnis ausplappern?

„Das kann ich dir nicht sagen, aber sie hat ihre Gründe, die ich verstehen kann."

Thorsten seufzte.

„Marlo, du musst mir die Wahrheit sagen, wenn ich ihr helfen soll. Warum will sie nicht zum Jugendamt?"

Ich hatte mittlerweile begonnen an meinen Fingernägeln zu kauen.

„Das ist etwas sehr Intimes und ich glaube, sie möchte nicht, dass ich das jemanden sage."

Ich hörte ein lautes Seufzen.

„Sie wird es nicht erfahren, dass du es mir gesagt hast, aber ich muss das wissen, um die Situation zu verstehen. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst und Geheimnisse bei mir gut aufgehoben sind."

„Ja, ich weiß", sagte Marlo kleinlaut.

„Gut, dann sag mir bitte, was los."

Auch wenn ich Marlo nicht sah, konnte ich mir sein gequältes Gesicht vorstellen. Er wollte mich nicht hintergehen, aber er wollte auch, dass sein Vater mir half. Aus diesem Grund nahm ich es ihm nicht übel, dass er es erzählte. Auch wenn es wehtat.

„Sie wurde sexuell missbraucht. Als sie sechs Jahre alt war und vom Jugendamt für ein paar Tage in ein Heim geschickt wurde, weil ihre Mutter im Krankenhaus war. Sie hat Angst, dass das nochmal passieren könnte."

„Ach du Scheiße!", hörte ich seinen Vater sagen.

„Ich weiß", stimmte Marlo zu. „Ich kann nicht zum Jugendamt gehen. Das kann ich ihr nicht antun. Dann würde sie irgendwo in einem betreuten Wohnen untergebracht sein. Ich weiß ganz genau, dass ihr das unglaublich Angst machen würde. Das ist für sie der absolute Horror."

„Ja, das ist verständlich", sgate Thorsten nachdenklich. "Von mir aus kann sie hier wohnen bleiben, aber das wird nicht ewig gehen. Rechtlich gesehen kann sie nicht ohne Einverständnis der Mutter einfach bei uns einziehen."

„Trotzdem danke."

„Ist doch selbstverständlich. Du weißt, dass ich immer für dich da bin."

Dann schwiegen sie und ich hörte nur leises Gemurmel, das aus dem Fernseher kam. Ich wollte gerade wieder ins Bett schleichen, als Thorsten eine Frage stellte.

„Hast du mit ihr schon geschlafen?", durchbrach seine Frage die Stille.

Ich riss bei diesem Worten automatisch die Augen auf.

„Dad! Müssen wir darüber sprechen?"

„Ich denke schon", kam es ernst zurück. „Wenn sie missbraucht und vielleicht auch vergewaltigt wurde, dann ist sie sehr wahrscheinlich traumatisiert. Das bedeutet, dass du wirklich sensibel sein musst, wenn es um das Thema Sexualität geht. Du darfst das nicht auf die leichte Schulter nehmen."

Wow, Thorsten war ein verdammt guter Vater.

„Das tue ich nicht. Wir hatten auch schon Sex und da wusste ich es noch nicht, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie irgendwie traumatisiert war."

Sprachen die beiden gerade wirklich über den Sex, den ich mit Marlo hatte? Ich konnte es nicht fassen. Die Hitze stieg in meinen Kopf.

„Nur weil sie es nicht zeigt, heißt es nicht, dass sie sich vielleicht trotzdem nicht wohl fühlt. Sei einfach noch sensibler als du es eh schon bist."

„Natürlich."

Er war süß. Er war so süß, dass ich Gefahr lief Diabetes zu bekommen.

„Sie bedeutet dir viel, oder?", hakte Thorsten nach.

„Ja, das tut sie. Und genau deshalb ertrage ich auch nicht, dass sie so viel Leid durchleben musste. Das ist einfach nicht fair."


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top

Tags: #herzschmerz