24 - Ich will nicht in Boxershorts zur Schule

Marlo versuchte alles, damit ich mich gut fühlte. Er besorgte wieder diese wunderbare Brownies und machte mir heiße Schokolade. Er stellte mir eine Playlist mit meinen Lieblingssongs zusammen. Doch am meisten genoss ich den Körperkontakt zu ihm. Gemeinsam lagen wir auf seinem Bett und lauschten der Musik.

Nachdem ich ein kleines Nickerchen gemacht hatte, wollte ich in meine Wohnung zurück, um ein paar Sachen zu holen.

„Violett, ich lass dich da nicht reingehen", protestierte er.

„Ich brauche aber meine Sachen. Ich will nicht in übergroßen Pullis und Boxershorts zur Schule gehen!"

Ich hatte nur mein Handy und mein Schlüssel greifen können, als ich heute Nachmittag zu Marlo geflüchtet war. Mittlerweile war es abends.

„Okay, aber ich komme mit!"

Er hatte noch nie meine Wohnung betreten gehabt und schon gar nicht mein Zimmer. Im Moment stapelten sich dort jede Menge Kisten, da Mum von den Möbeln nicht viel Brauchbares zurückgelassen hatte, als sie alles zerschlagen hatte.

Da sich Marlo neuerdings als mein persönlicher Bodyguard aufspielte, konnte ich ihn auch nicht abschütteln. Er stand hinter mir, als ich die Tür zur Wohnung aufschloss.

Ich erschrak selbst etwas, als ich die getrocknete Blutpfütze auf dem Boden sah. Ich hätte wissen müssen, dass sie noch da war. Schließlich war das Putzen meine Aufgabe.

Es sah aus, als müsste man mal ein paar Tartortreiniger vorbeischicken. An der Wand entdeckte ich sogar Blutspritzer. Dank meines CSI-Konsums hätte ich jetzt an der Form der Blutspritzer ganz genau analysieren können, wo mich die Vase getroffen hatte, doch im Moment hatten wir Wichtigeres zu tun.

Ich hörte Marlo hinter mir schwer schlucken. Er schien sich annähernd ein Bild machen zu können, wie dramatisch die Situation gewesen war. Ich hatte ein bisschen Angst ihn mit diesem Anblick hier zu traumatisieren.

"Guck da einfach nicht hin!", wies ich ihn an und ging weiter.

Ich warf einen Blick ins Wohnzimmer. Keiner da. War auch nicht zu erwarten gewesen, denn die Wohnungstür war abgeschlossen gewesen. Ich zog Marlo an der Hand weiter in mein Zimmer.

„Nicht wundern. Meine Mutter hat neulich einen Wutausbruch bekommen und alles zerschlagen", warnte ich Marlo unverblümt vor. Ich ging ins Zimmer.

Ich hatte die ganzen zerstörten Möbel auf einen Haufen geschmissen. Auf der Freifläche standen Kartons, in denen mein Leben war.

„Oh Gott", hörte Marlo erschrocken sagen.

Ich versuchte es zu ignorieren.

„Die zwei Kisten reichen. Da ist alles drin, was ich brauche", informierte ich ihn und überging sein Kommentar.

Ich drehte mich nun um und sah Tränen in Marlos Augen. Schon wieder. Eine Träne flüchtete über seine Wange. Sofort wischte er sie weg. Vor mir wollte er der starke Mann sein.

Ich streichelte ihm über den Arm.

„Ist okay. Kein Grund zu weinen."

„Sorry. Ich frage mich einfach nur, wie ich das alles nicht sehen konnte."

„Marlo, fang damit nicht wieder an!", mahnte ich ihn.

Ich wollte nicht, dass er sich Vorwürfe machte, weil meine Mutter ein Alki war und ich vor ihm meine Geschichte verheimlicht hatte.

„Es tut mir einfach nur so leid, dass du so leiden musstest."

„Komm, hilf mir die Kiste zu tragen", forderte ich ihn auf.

Ich mochte die Mitleidsnummer nicht. Weder von Mel, noch von Marlo. Ich trotzdem noch ein Mensch mit einem halbegs normalen Leben. Ich mochte es nicht, wenn man so tat, als wäre alles schlecht gewesen in meinem Leben.

Ich wollte eine Kiste hochheben, doch sofort spürte ich Marlos Händen auf meinen.

„Ich mach das schon! Geh du rüber und warte da."

Er wollte mich nicht in dieser Wohnung haben. Das war offensichtlich.

„Na los, geh schon!", forderte er mit Nachdruck auf, als ich angewurzelt stehen geblieben war.

„Ich kann dir wirklich helfen."

„Violett. Geh!"

Ich tat wie er mir befahl, verließ die Wohnung und ließ mich vorsichtig auf sein Bett fallen. Meine Rippen schmerzten und mein Kopf brummte.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als ich mit Marlo hier die Nacht verbracht hatte. Dabei war es erst gestern Nacht gewesen.

Ich hörte es rumpeln und wusste, dass Marlo näher kam. Er stellte eine Kiste ins Zimmer.

„Bin gleich wieder da. Ich hol noch schnell die zweite", ließ er mich wissen.

Bevor er verschwand, küsste er mich jedoch noch einmal flüchtig. Ich lächelte ihn an, was er sofort erwiderte.

Er schien wirklich das Gefühl zu haben, mich wie ein rohes Ei behandeln zu müssen. Doch das brauchte er nicht. Vielleicht hatte ich keine leichte Kindheit gehabt, aber ich hatte mein Leben auch so meistern können. Es war nett, dass er mir half und auch, dass er sich so liebevoll um mich kümmerte, aber er sah mich anders an als zuvor. Er sah mich nicht mehr wie seine Freundin an, sondern wie eine Hilfsbedürftige.

Plötzlich hörte ich laute Stimmen aus dem Treppenhaus. Ich sprang auf, was mein Kreislauf mir sofort übelnahm. Der Medikamentenmix in meinem Blut ließ mich kurz schwanken. Als ich meinen Gleichgewichtssinn wiederfand, lief ich ins Treppenhaus. Dort stand Marlo mit meiner Kiste. Ihm gegenüber stand meine Mum, die völlig verheult wirkte.

Das konnte nichts Gutes bedeuten.

„Was sind Sie für ein Mensch?", brüllte Marlo völlig außer sich. Ich hatte ihn noch nie laut erlebt. Er war keine Person, die man aus der Ruhe bringen konnte. „Wie kann man seiner eigenen Tochter so etwas antun?"

„MARLO!", rief ich dazwischen. „Komm rein!"

Mums Blick fiel nun auf mich. Sie sah den Verband an meinem Kopf. Die Mumienoptik schien ihr nicht zugefallen.

„Schatz, es tut mir so leid. Ich verspreche dir, das kommt nie wieder vor!"

Ja, ist klar.

„Violett, geh rein!", wies Marlo mich an.

„Du weißt. Der Alkohol", fuhr sie fort. „Aber so bin ich eigentlich nicht. Das weißt du. Du bist doch meine kleine Prinzessin."

„PRINZESSIN? Sie haben ihr eine Vase an den Kopf geschmettert!"

„Marlo, komm jetzt!"

Ich zog ihm am Unterarm und ignorierte meine Mutter. 

„Violett bitte bleib! Lass mich nicht allein. Ich brauche dich!" wimmerte sie.

Ich hatte Mitleid mit ihr, doch das änderte nichts daran, wie sehr ich sie hasste.

„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du mir eine drei Zentimeter lange Narbe verpasst hast!", sagte ich knapp und schenkte ihr nun doch für einen kurzen Augenblick meine Aufmerksamkeit.

„Ich weiß", schluchzte sie, während ich weiter an Marlo zerrte. „Es kommt nie wieder vor."

„Als ob! Sie schlagen sie doch schon ihr ganzes Leben zusammen!", mischte Marlo wider lautstark ein. „Sie sind krank. Einfach nur krank."

„Ja, das bin ich", sagte sie ruhig und griff dann nach meinem Handgelenk.

Doch Marlo war schneller. Sofort hatte er ihre Hand weggeschlagen.

„Fassen Sie sie nicht an oder ich schwöre ihnen, dass sie nie wieder irgendetwas anfassen!", sagte er bedrohlich. Diesen Tonfall hatte ich bei ihm noch nie zuvor erlebt. 

„Marlo, es reicht! Komm jetzt!"

Dieses Mal meinte ich es wirklich ernst und zog ihn mit all meiner Kraft in die Wohnung. Ich hatte große Mühe ihn zu bewegen, doch ich schaffte es. Dann schloss ich die Tür.

Marlo war komplett aufgebracht. Mit einem Knall fiel die Kiste in seiner Hand zu Boden. Würde mich nicht wundern, wenn die Untermieter unter den Tisch krabbelten, weil sie dachten, dass ein Erdbeben war.

„Jetzt reg dich ab", sprach ich ruhig.

„ABREGEN? WIE SOLL ICH MICH ABREGEN? SIE HAT MEINE FREUNDIN KRANKENHAUSREIF GESCHLAGEN!"

„Würdest du mich bitte nicht so anbrüllen? Ich trag zwar zur Hälfte ihre Gene in mir, aber deshalb musst du es nicht an mir auslassen!"

Schlagartig wurden seine Gesichtszüge weicher.

„Nein, das ist doch nicht gegen dich gerichtet", entschuldigte er sich. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht anbrüllen, aber es macht mich so unfassbar sauer, wie sie dir so etwas antun konnte. Der eigenen Tochter!"

Ich legte meine Hände auf seine Schultern.

„Es bringt nichts sich darüber aufzuregen. Du kannst sie anschreien wie du willst. Sie ist krank und sie wird sich nicht mehr ändern."

Er schüttelte den Kopf.

„Wieso nimmst du sie in Schutz?"

Weil sie meinte Mutter war.

„Tue ich nicht und jetzt lass uns in dein Zimmer gehen und nicht mehr darüber sprechen, okay? Es ist nun mal passiert."

Er war damit nicht einverstanden, doch er wollte mich in meinem Zustand nicht aufregen. Also gab er klein bei.

Er räumte eine Seite seines Kleiderschrankes leer, damit ich dort meine eigenen Sachen reintun konnte. Auch wenn es für mich kein Problem gewesen wäre weiterhin aus den Kisten zu leben, hatte er darauf bestanden. Mit der Begründung, dass ich mich hier wohlfühlen soll. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich hier länger als nur ein paar Tage wohnen sollte. Einerseits war es perfekt, denn so konnte ich immer in der Nähe von Marlo sein und im Moment wollte ich eigentlich auch nichts anderes. Doch auf der anderen Seite wollte ich keine Belastung sein. Ich wollte nicht auf Kosten anderer leben.


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Tags: #herzschmerz