2- Meine Tiefschlafphase ist mir heilig
„Wow, da hat Ralf ja einen Rekord hingelegt", wurde ich von meinem Bruder begrüßt, der mit Lissy auf der Couch lag.
„Was hast du denn da an?", fragte Lissy mit ihrer gekünstelt hohen Stimme und mit abwertendem Blick auf mein nasses Top.
Sie hörte sich nicht nur an wie eine Barbie, sondern sie sah auch so aus, bloß in der XXL-Variante, wenn man ihre Körperfülle und die Speckröllchen betrachtete. Das hielt sie aber keineswegs ab, Leggings und knallenge Tops in Neonfarben zu tragen. Statt in eine Mitgliedschaft im Fitnesscenter zu investieren, hatte sie andere Formen gefunden, Geld für ihren Körper zu auszugeben. Ich war mir nicht sicher, was an ihr überhaupt noch echt war. Die Haarfarbe war es nicht, die Haarlänge auch nicht. Genauso wenig wie die Fingernägel, die Wimpern, die Hautfarbe und die Brüste schon gar nicht.
Aber irgendwie passte sie zu meinem Bruder. Sie waren beide nicht die hellsten Kerzen auf dem Kuchen und teilten die Leidenschaft für hässliche Tattoos.
„Wir haben neue Nachbarn", informierte ich Sam und ignorierte Lissys Frage.
„Und ist einer in deinem Alter dabei?", mischte sie sich trotzdem ein.
Ich verdrehte demonstrativ die Augen. Lissy hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht mir einen Freund zu suchen, was mich langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb. Auch wenn ich noch keinen Freund gehabt hatte, hieß das noch lange nicht, dass ich so verzweifelt war mich an den Nächstbesten zu kletten.
„Nein", murrte ich und ging in mein Zimmer.
Sofort zog ich mein Top aus und schmiss es aufs Bett. Der BH folgte. Meine Haut klebte wie Kaugummi von der Koffeinmischung und roch wie Tschibo. Ich beschloss duschen zu gehen. Ich schnappte mir mein Handtuch und wickelte es um meinen Oberkörper.
„Hey Indianermädchen!", ertönte es, als ich auf dem Weg zum Badezimmer war.
Ich hasste es, wenn Lissy mich so nannte. Ich hatte meinen Vater zwar nie kennengelernt, aber ich wusste, dass er schwarze Haare und einen dunklen Teint haben musste. Nur so war mein Aussehen zu erklären, denn ich hatte nicht die blonde Haare und die blauen Augen, die der Rest der Familie hatte. Manche sagten ich sehe indisch aus, andere fanden eher südamerikanisch und wieder andere waren der festen Überzeugung, dass ich philippinisch aussah. Ich würde es nie erfahren, denn abgesehen von der Unterhosenfarbe meines Vaters hüllte sich meine Mutter in Schweigen. Ich war immer der Exot der Familie gewesen und nicht selten wurde meine Mutter gefragt, ob ich adoptiert worden sei. Als ich im Einkaufszentrum mal verloren gegangen war und meine Mutter mich bei der Information abholen wollte, hatte man sich zunächst geweigert mich auszuliefern, weil man daran gezweifelt hatte, dass sie wirklich meine Mutter. Dass Eltern nicht immer gleich aussahen, schienen erstaunlich viele Menschen gerne zu vergessen.
„Was ist, Barbie?", maulte ich und sah ins Wohnzimmer herein, wo sie und Sam noch immer engumschlungen lagen.
„Wir wollten Morgen eine Party machen. Muss sich ja auszahlen, dass wir sturmfrei haben", sagte Lissy, als würde sie hier leben.
„Äh, Barbie, damit das klar ist, Sam und ich haben sturmfrei. Auch wenn du deinen Allerwertesten fast jeden Tag auf unsere Couch schwingst, heißt das noch lange nicht, dass du hier wohnst", unterbrach ich die freche Göre.
„Letti!", mahnte mich Sam.
„Nenn mich nicht Letti!", keifte ich sofort zurück.
Ich hasste nichts mehr als Letti genannt zu werden. Das hörte sich als wäre ich eine kleine süße Lettin. Ich hatte mit Lettland aber genau so viel am Hut wie Sam mit Intelligenz.
Er grinste breit, denn er wusste, dass mich diese Bezeichnung regelmäßig auf die Palme brachte.
„Man reg dich ab Violett!", hörte ich wieder diese furchtbar piepsige Stimme zwischen den Lipglosslippen hervorsprudeln. Man könnte meinen, dass sie sich jeden Morgen eine Portion Helium gönnte, bevor sie in den Tag starte. „Wir wollen einfach ne kleine Party veranstalten. Ich wollte einfach nur, dass du es weißt."
Schön, dass ich nicht einmal gefragt wurde, wenn sie ihre Assifreunde einluden.
„Macht doch, was ihr wollt!"
Ich verkroch mich ins Bad. Ich müsste mir für Morgen definitiv einen Zufluchtsort suchen, denn nur über meiner Leiche würde ich auf dieser Party sein. Ich hatte deutlich besseres zu tun, als mir stumpfe Elektromusik anzuhören, während sich eine Graswolke im Wohnzimmer ausbreitete. Und mit Leuten, die davon prahlten, dass sie schon drei Jahre geschafft hatten nicht arbeiten zu müssen, wollte ich mich auch nicht unterhalten.
Mit einem lauten Knall schmiss ich die Badtür zu.
Mum war für zwei Tage mit ihrem neuen Lover, der kaum älter als ihr eigener Sohn war, in den Liebesurlaub gefahren. Was für einen Durchschnittsteenager die lang ersehnte Freiheit bedeutete, war für mich eine Probe, wie strapazierfähig meine Nerven waren. Lissy und Sam würden Tag und Nacht auf dieser Couch abhängen und dessen Federn auf Äußersten belasten, da beide keine Leichtgewichte waren. Die Bezeichnung Couchpotatoes traf auf beide zu wie die Faust aufs Auge. Sie verbrachten nicht nur die ganze Zeit auf der Couch, sondern machten Kartoffeln zu ihrem Hauptnahrungsmittel. Ob es nun Chips, Pommes oder Kartoffelspalten waren: Sie waren nicht wählerisch. Kartoffeln waren ihr Mantra. Alles, was ihre Fettpölsterchen weiter wachsen ließ, wurde in sich hineingeschoben. Ich mutierte derweil zum Aschenputtel, das ihnen alles hinterherräumte.
Ich konnte es kaum erwarten endlich auszuziehen.
Ich schloss mich im Bad ein und wusch mir die Kaffeereste vom Körper. Ich könnte Stunden hier stehen und einfach nur das Wasser auf mich herabprasseln lassen. Doch Mum predigte uns immer wieder, dass wir sparen mussten. Schließlich fiel Geld nicht vom Himmel und das Leben war teuer, besonders wir Kinder, wie sie nur allzu gerne betonte. Das Sparen betraf auch unseren Wasserverbrauch und so beschränkte ich meinen Duschvorgang auf das Nötigste. Immerhin roch ich jetzt nach Kiwi und nicht mehr wie eine Kaffeebohne.
Ich wickelte mich in ein Handtuch und flüchtete wieder in mein Zimmer. Ich schnappte mir mein Handy, dessen Display schon mehrfach mit dem Asphalt Bekanntschaft gemacht hatte und dementsprechend aussah. Doch auch für ein neues Hand war kein Geld da.
Rette mich! Sam gibt morgen ne party. Hol mich hieraus oder ich ende auch noch als ASSI!, schrieb ich Mel, ohne an Dramatik zu sparen.
Prompt kam eine Antwort.
Hilfe ist unterwegs! Lass uns morgen einen mädelsabend in der therme machen. Sauna und whirlpool? Meine mum kann uns kostenlos reinschleusen. Sie hat jetzt eine affäre mit dem chef.
Das hörte sich perfekt an.
Du bist meine Heldin!!!
Ich ließ mich auf mein Bett fallen. Eigentlich sollte ich lernen. Doch das Kissen war grad viel zu gemütlich und meine Decke sehnte sich ebenfalls nach meiner Zuneigung.
Ich schloss meine Augen.
Der Übergang ins Land der Träume war nahtlos.
Das Aufwachen war dann aber wie ein Schlag ins Gesicht.
Ich hatte das Gefühl, dass ein Presslufthammer sich in meinem Kopf zu schaffen machte und Bomben meine Gehirnzellen wegsprengten. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es bereits halb zehn Uhr abends war.
Ich richtete mich auf und rieb mir den Schlafsand aus den Augen. Der Sandmann hatte mal wieder volle Arbeit geleistet. Eigentlich hatte ich nur eine halbe Stunde die Augen schließen wollen.
Ich versuchte den Lärm zu lokalisieren, was nicht schwer war. Es kam eindeutig aus dem Nebenzimmer, welches zur anderen Wohnung gehörte. Ich sah zu der Wand und befürchtete, dass jeden Moment der Bohrer die Betonwand durchbrechen würde. Die Vorstellung war nicht sonderlich prickelnd, zumal ich hier nur in meinem Wohlfühl-Schlüpfer und meinem Sport-BH saß.
Ich rappelte mich vom Bett auf, begann gegen die Wand zu hämmern und versuchte somit eine Konversation per akustisches Signal zu starten, dass sagen sollt: AUFHÖREN. Es wurde jedoch weiter gebohrt.
Ich schlüpfte in meine Jogginghose und zog mein Schlafshirt über. Ausnahmsweise passte ich mich mal dem Kleidungsziel meines Bruders an.
„Wo willst du hin?" fragte Sam, als ich am Wohnzimmer vorbeiging.
„Hörst du das Bohren nicht?", keifte ich ihn in meiner Müdigkeits-Laune an.
Er zuckte mit den Schultern.
„So laut ist das doch nicht."
Das Wohnzimmer lag ja auch nicht direkt neben der Lärmquelle.
Verschlafen stapfte ich ins Treppenhaus.
Ich hämmerte heftig gegen die Tür der neuen Nachbarn und betätigte erst die Klingel, als mein Hämmern nicht erhört wurde. Dann öffnete sich dir Tür und ich setzte meinen Todesblick auf.
Lockenkopf stand vor mir.
„Es ist halb zehn! Manche Leute müssen morgen früh raus und wollen schlafen", setzte ich zu meiner Standpauke an.
Bevor er etwas sagen konnte, trat ein Mann hinter den Lockenkopf, der offensichtlich sein Vater war. Gleiche Locken, gleiche Statur, gleiches Gesicht. Vaterschaftstest nicht nötig.
„Wohnst du hier?", fragte er freundlich, was meine Laune jedoch nicht heben konnte.
„Ja, direkt hinter der Wand, die ihr offensichtlich versucht habt durchzubohren", raunte ich.
„Oh, Entschuldigung. Wir hören sofort damit auf. Wir hatten nur noch ein paar Bilder in Marlos Zimmer aufgehangen." Super, jetzt hatte er auch noch das Zimmer direkt neben an. Wehe, er würde auf die Idee kommen nachts seine Gitarre auszupacken. „Freut mich dich kennenzulernen. Ich wollte morgen sowieso mal bei euch klingeln und mich vorstellen", fuhr er unbeirrt freundlich fort.
Er streckte seine Hand aus, die ich zögerlich annahm.
„Ich bin Thorsten."
„Violett", murrte ich.
Warum musste er so verdammt freundlich sein? Dann konnte ich nicht einmal richtig sauer wegen der Lärmbelästigung sein.
„Marlo, jetzt stell dich auch mal vor!", wies er seinen Sohn zurecht.
Lockenkopf grinste.
„Wir kennen uns schon", ließ er seinen Vater wissen. „Da fällt mir ein, dass ich noch etwas für dich habe", sagte er an mich gerichtet.
Ich zog eine Augenbraue hoch. Er hatte etwas für mich? Was sollte das denn bitte sein? Wenn er jetzt mit Oropax um die Ecke kam, würde ich ihm die in ganz andere Körperöffnungen stecken, als in die Ohren.
Lockenkopf verschwand kurz, kam nach Sekunden aber wieder und streckte mir einen Snickers entgegen.
„Danke, dass du mich vorhin nicht hast verhungern lassen", sagte er grinsend. „Einen Kaffee schulde ich dir auch noch. Was hältst du davon, wenn ich dich morgen auf einen einlade?"
Ich sah ihn an wie eine Kuh, der an gerade ohne Vorwarnung am Euter gezogen hatte.
Hatte er mich gerade zu einem Date eingeladen? Vor den Augen seines Vaters? Nachdem er mich heute Nachmittag im Fahrstuhl fast in den Wahnsinn getrieben hatte? Und ich dachte immer, dass nur alter Leute keinerlei Hemmungen haben.
„Es war Cappuccino", sage ich.
Er runzelte die Stirn.
„Was?", fragte er verwirrt.
„Ich hatte keinen Kaffee im Becher, sondern Cappuccino."
Nun lächelte er.
„Okay, dann lade ich dich auf einen Cappuccino ein. Ich bin da flexibel."
Da hatte ich aber auch noch ein Wort mitzusprechen.
„Nicht nötig. Es würde mir schon reichen, wenn ich einfach in Ruhe schlafen kann."
Ich fischte den Snickers aus seinen Händen und verschwand wieder in meiner Wohnung.
Man machte sich bei mir einfach nicht beliebt, wenn man mich aus der Tiefschlafphase holt.
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