19 - Enttäuscht
Ich verbrachte den Sonntag mit Marlo. Da der erste Schnee liegen geblieben war, wollten wir diese Bedingungen ausnutzen. Ich kramte einen alten Holzschlitten aus dem Keller, den meine Oma mir vererbt hatte.
Während ich mich hinten draufsetzte, zog Marlo mich hinter sich her.
„Schneller!", rief ich, woraufhin er anfing zu rennen.
Der Schnee knirschte unter den Kufen des Schlittens. Als Marlo fast ausrutschte, rief ich laut „Stopp".
Ich wollte nicht, dass er sich wegen mir verletzt.
„Jetzt zieh ich dich!"
Ich stand vom Schlitten auf.
„Nein, du bist doch das Mädchen2, ließ er den Gentleman raushängen.
„Na und? Leben wir nicht in einer gleichberechtigten Gesellschaft?"
Er lächelte und machte es sich auf dem Schlitten bequem.
„Na dann zieh mich mal", sagte er bewusst machomäßig.
Selbstbewusst griff ich nach dem Seil. Ich lief los und stellte fest, dass es bei Marlo deutlich einfacher ausgesehen hatte, als es war. Ich bekam den Schlitten nur zentimeterweise voran. Ich wollte mir jedoch nicht die Blöße geben und als Schwächling dastehen, also zog ich tapfer weiter.
Ich musste mein gesamtes Körpergewicht reinlegen, damit der Schlichten sich bewegte.
„Ich kann dich auch wieder ablösen", hörte ich Marlo von hinten rufen.
„Ich schaff das schon!", sagte ich bestimmt.
„Du nimmst nicht gerne Hilfe an und stehst alles lieber alleine durch, oder?"
Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um.
„Fängst du jetzt schon wieder damit an?"
Ich ließ ein bisschen die Zicke in mir durchschimmern. Marlo erhob sich vom Schlitten, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm.
„Sorry, ich will kein Streit anfangen", ruderte er sofort zurück.
Ich konnte seinen warmen Atem auf meiner kalten Haut spüren. Dann küsste er mich. Das ließ die Zicke in mir sich wieder in die letzte Ecke zurückkriechen.
Hand in Hand liefen wir neben einander und zogen den leeren Schlitten hinter uns her. Als wir einen kleinen Hügel fanden, setzten wir uns dicht an dicht auf den Schlitten. Marlo saß hinter mir und legte seine Arme um mich.
Unser Schlitten beschleunigte erstaunlich schnell. Ich schrie kurz auf, während Marlo mich enger an sich presste. Ich spürte seine Wange an meiner. Mein Herzschlag wurde immer schneller.
Der Schlitten hielt und wir ließen uns beide vom Schlitten in den Schnee rollen. Wir knutschten herum, während unsere Klamotten immer mehr durchnässten. Doch es war uns für den Augenblick egal.
Wir lachten und bewarfen uns mit Schneebällen. Wir bauten einen Schneemann und nannten ihn Olaf. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückgesetzt, als meine Oma immer mit uns den ersten Schnee entdeckt hat.
Irgendwann wurde es dann aber doch zu kalt und Marlo lud mich wie so oft zu sich in die Wohnung ein. Wir kuschelten uns in sein Bett und sahen uns von ihm ein Fotoalbum an, in dem er noch ein Kind. Er war wirklich das süßeste Kind, das ich je gesehen hatte. Diese blonden Locken sahen einfach zuckersüß aus und ließen ihn wie einen Engel aussehen. Er erzählte mir von seiner wundervollen Kindheit. Er hatte für drei Jahre sogar mal in Schweden gelebt. Marlo konnte immer so viel erzählen. Ob es nun das Jahr in Argentinien war oder seine Schwedenkindheit. Es hörte sich alles so wundervoll an, was er erlebt hatte. Er führte ein richtiges Abenteurerleben.
Ich konnte ihm so etwas nicht erzählen. Die Ferien hatte ich immer auf dem betonierten Hinterhof verbracht und an einer Klassenfahrt hatte ich nie teilnehmen dürfen. Ich hatte noch nie wirklich ein Abenteuer erlebt. Umso mehr genoss ich es all diesen wunderschönen Geschichten zu lauschen. Er entführte mich damit in eine andere Welt. Marlo hatte eine ganz besondere Art und Weise Dinge zu erzählen und zog mich damit förmlich in seinen Bann.
„Falls ich dich mit meinen Geschichten langweile, dann sag Bescheid", ließ er ich entschuldigend wissen.
„Nein, erzähl weiter!", forderte ich.
Er strich mir über den Arm.
„Aber ich habe jetzt zwei Stunden nur über mich gesprochen. Jetzt bist du mal dran!"
„Über mich gibt es nicht Spannendes zu berichten."
„Das glaube ich nicht", widersprach er mir. „Erzähl mir, was der schönste Tag in deiner Kindheit war."
„An meinem achten Geburtstag hat meine Oma eine Überraschungsparty für mich geschmissen", erzählte ich. „Sie hat mir eine Banjamin-Blümchen-Torte gekauft, die ich schon immer haben wollte. Überall waren Ballons und ich habe einen Partyhut auf den Kopf gesetzt bekommen. Ich habe sogar ein Prinzessinnenkleid bekommen, das ich angezogen habe. Und Grandma hat The Way you do the things you do von den Temptations aufgelegt. Das war damals meine Lieblingsschallplatte aus ihrer Motown-Sammlung gewesen. Wir haben getanzt und gesungen. Sie hatte ein paar ihrer Freundinnen eingeladen. Auch wenn die alle über 60 waren, hatte ich den größten Spaß an diesem Tag. Sie haben Happy Birthday für mich angestimmt und Konfetti geworfen. Das war der schönste Geburtstag meines Lebens."
Ich sah Marlo lächeln.
„Das hört sich wundervoll an."
Ich nickte. Dass meine Mutter mir am Vormittag dieses Geburtstages die Schulter ausgekugelt hatte und es ein verzweifelter Versuch meiner Großmutter gewesen war, den Tag irgendwie zu retten, verschwieg ich an dieser Stelle.
„War es auch."
„Lebt deine Grandma noch?"
Automatisch fielen meine Mundwinkel nach unten.
„Nein, leider nicht. Sie ist vor fünf Jahren an Krebs gestorben."
Marlos Blick wurde mitleidig.
„Das tut mir leid."
„Ich glaube, ihr hättet euch gut verstanden. Sie war wirklich lustig."
Es tat weh an Grandma zu denken. Sie hatte mich viel zu früh verlassen. Ich brauchte sie noch immer. Jeden Tag. Ich brauchte die Frau, die an meinem achten Geburtstag alles gegeben hatte, damit es trotz einer ausgekugelten Schulter noch ein schöner Tag wurde.
Marlo schien meine noch vorhandene Trauer zu verspüren. Er kuschelte sich noch näher an mich heran. Marlo gab mir die Liebe, die ich seit dem Tod meiner Oma vermisst hatte.
Ich blieb bis abends bei ihm. Dann wagte ich mich wieder nach Hause. Ich war nicht gerade erfreut, als ich meine Mutter im Wohnzimmer heulend und mit einer Wodkaflasche vorfand.
„Du machst also einen Entzug?", fragte ich verbittert und enttäuscht.
Mum wirkte nicht aggressiv, sondern sie hatte ihre Phase, in der sie im Selbstmitleid versank.
„Es ist das letzte Mal. Ich wollte nur noch einmal trinken", wimmerte sie.
„Mum, ich habe wirklich an dich geglaubt, aber ich kann das nicht mehr!"
„Bitte", flehte sie. „Ich bin doch deine Mum. Ich sterbe vielleicht."
Selbst schuld, schoss es mir durch den Kopf.
Ich schüttelte den Kopf. Ich war sauer auf mich selbst. Ich hatte ihr wirklich geglaubt, dass sie es dieses Mal vielleicht schaffen könnte oder zumindest länger als ein paar Stunden trocken bleiben konnte.
Ich flüchtete in mein Zimmer und schmiss mich aufs Bett. Drum herum waren meine zerstörten Möbel. Es würde nichts besser werden. Es würden noch weitere Schläge kommen. Das war mir nun bewusst. Der Alkohol würde nie aus ihrem Leben verschwinden.
Ich griff nach meinem Handy.
Kannst du mir etwas vorspielen?, schrieb ich Marlo.
Ich wollte wissen, dass er im Nebenraum war. Dass er nicht weit weg von mir war. Ich wollte das hören.
Er antwortete nicht auf meine Nachricht. Dafür hörte ich, wie er anfing zu spielen. Ich presste mein Ohr gegen die Wand, um es besser verstehen zu können. Dann erkannte ich das Lied. Es war The way you do the Things you do. Das Lied, das meine Grandma auch zum 8.Geburtstag für mich gespielt hatte.
Ich fing mal wieder an zu weinen.
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