18 - Man hat nur eine Mutter
Ich war am nächsten Tag nach der Arbeit zu Mel gefahren. Ich brauchte meine beste Freundin so sehr.
„Du machst immer den gleichen Fehler! Ich verstehe nicht, dass du es ihr immer wieder abkaufst, dass sie das mit dem Entzug wirklich ernst meinst."
Mel hasste meine Mutter und daraus machte sie kein Geheimnis. Zu oft hatte sie schon meine Verletzungen gesehen.
„Ich weiß. Aber dieses Mal holt sie sich Hilfe von außen. Das hat sie sonst nie gemacht."
„Ich glaub es trotzdem nicht", machte sie ihren Standpunkt klar. „Wenn man wie sie über Jahrzehnte hinweg in den Maßen getrunken hat, dann hilft es nicht sich mit ein paar Leidensgenossen zusammenzusetzen. Sie braucht eine professionelle Therapie!"
„Ich will ihr die Chance einfach geben."
Mel schüttelte theatralisch den Kopf.
„Die hat sich nicht verdient. Ich bin ja auch dafür, dass Menschen eine weite Chance bekommen. Von mir aus auch eine dritte, aber deine Mutter hatte tausende Chancen und was ist am Ende rausgekommen? Du warst jedes Mal die Leidtragende. Ich will nicht, dass sie dich wieder verletzt und damit meine ich nicht einmal körperlich. Deine Seele hat schon viel zu viel Schaden genommen. Du hast Marlo wegen ihr abgewiesen. Weil du dich nicht getraut hast, dich ihm zu öffnen."
„Naja", begann ich. „also ehrlich gesagt... das zwischen Marlo und mit... naja... irgendwie läuft da doch etwas."
Sie richtete sich auf.
„Was? Was läuft da? Wieso hast du mir nichts erzählt?"
Sie war nun ganz aufgeregt und man könnte meinen, dass sie gerade einen Erngydrink zu viel getrunken hatte. Hippelig rutschte sie auf ihrem Sofakissen hin und her.
„Weil es erst gestern passiert ist."
„Nun erzähl schon Mädchen! Ich will dir nicht immer alles aus der Nase ziehen!", forderte sie und konnte sich vor Neugierde kaum noch halten.
„Es war nur ein bisschen kuscheln und ein Kuss. Naja, vielleicht auch mehrere Küsse."
Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd.
„Wie süß! Und wie war es?"
Nun grinste ich ebenfalls, denn ich dachte nur zu gerne daran zurück. Es war wirklich schön gewesen.
„Unglaublich."
„Aww, meine kleine Violett ist verliebt", zog sie mich liebevoll auf. "Endlich wird sie erwaschen. Hattest du Schmetterlinge im Bauch?"
„Ein paar", gab ich zu und sparte nicht an Untertreibung. Um ehrlich zu sein, war ich bis über beide Ohrenspitzen verliebt.
„Das freut mich so sehr für dich", quietschte sie und umarmte mich. „Dein erste richtiger Freund. Das ist so aufregend."
„Nun übertreibmal nicht. Wir lassen es ganz langsam angehen."
Sie ließ mich nun wieder aus ihrer Umarmung.
„Weiß er denn von deiner Mutter und so?"
„Nein", sagte ich mit gesenktem Kopf, denn ich wusste, dass Mel das nicht gerne hörte.
„Violett, er ist jetzt dein Freund. Er ist nicht nur da, um dich zu küssen, sondern auch um die eine starke Schulter zu bieten. Freunde sind da, um dich zu beschützen! Sprich mit ihm darüber und fange keine Beziehung mit einem Geheimnis an. Sowas kann echt schief laufen. Macht nichts kaputt, was noch gar nicht angefangen hat."
Ich legte meinen Kopf schief.
„Nun lass hier mal nicht Raffiki raushängen. Wer hat sich denn schon gut ein Dutzend Mal von Typen verarschen lassen."
Beleidigt sah sie mich an.
„Nun werde mal nicht frech! Aber schon mal darüber nachgedacht, dass ich genau deshalb weiß, wovon ich spreche?"
Ich hasste es, wenn sie Recht hatte und ich zu stolz war, um es zu zugeben. Ja, ich sollte es Marlo sagen, aber ich konnte und wollte es nicht. Nicht jetzt.
Als ich am Abend nach Hause kam, saß Sam allein im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Es war erstaunlich. Normalerweise klebte Lizzy wie eine Klette an ihm oder Mum saß daneben.
„Ganz alleine heute?", fragte ich ihn und setzte mich zu ihm auf die Couch.
„Lizzy ist auf dem Junggesellinnenabschied ihrer Schwester und Mum ist bei den Anonymen Alkoholikern."
„Wirklich?", hakte ich überrascht nach.
Ich hatte meine Zweifel gehabt, dass sie da wirklich hingeht.
„Ja. Zumindest hat sie das gesagt."
„Meinst du, es wird dieses Mal anders?"
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, was ich bei ihr noch glauben kann und was nicht. Manchmal hab ich das Gefühl, dass sie komplett den Verstand verliert. Sie hat doch kaum noch Momente, in denen sie sie selbst ist."
Das war leider wahr.
„Du hast wenig Hoffnung, oder?"
„Ich kann es mir nicht vorstellen. Sie steckt schon viel zu tief in der Scheiße drin. Weißt du eigentlich, warum sie jetzt davon so besessen ist, davon loszukommen?"
Ich wusste nicht worauf er anspielte.
„Was meinst du?"
„Sie war neulich beim Arzt. Man hat bei ihr eine Leberzirrhose festgestellt. Das ist nicht heilbar und geht auf den Alkohol zurück. Ihre Lebenserwartung wird dadurch deutlich gesenkt. Außerdem hat sie Bluthochdruck und katastrophale Cholesterinwerte. Der Arzt meinte zu ihr, dass sie sich auch gleich ihr Grab schaufeln kann, wenn sie so weiterlebt."
Es überraschte mich nicht. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn ihre Gesundheit nicht vom Alkohol betroffen gewesen wäre.
„Sie tut das für sich, Violett. Nicht für uns. Lass dir von ihr nichts vormachen. Sie hat Angst zu sterben. Deshalb reißt sie sich zusammen. Aber wir sind ihr egal."
„Das glaube ich nicht."
„Manchmal bist du echt naiv. Glaub es mir lieber oder du wirst mal wieder weinend in der Ecke hocken."
„Aber sie ist doch unsere Mutter."
Er lachte herablassend.
„Ist sie das? Wann war sie denn mal bitte unsere Mutter? Sie hat es nicht mal geschafft uns Essen mit in die Schule zu schicken, als wir klein waren. Weißt du noch, wie uns die Essensfrau heimlich etwas gegeben hat, damit unsere Mägen nicht knurrten. Das ist nicht normal, Violett. Unsere Kindheit war nicht normal. Weil sie es nicht auf die Reihe bekommen hat."
Er hatte ja Recht, aber auf der anderen Seite sah ich die kranke Frau, die unsere Mutter war.
„Sie war nie für uns da", sagte er mit Nachdruck. „Warum sollten wir jetzt für sie da sein?"
Weil ich nur eine Mutter habe und ich sie nicht am Grab besuchen möchte.
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