17 - Klarer Moment

Ich war in Marlos Armen eingeschlafen. Als ich wieder aufgewacht war, lag er nicht mehr neben mir. Ich war traurig darüber. Es war schön gewesen von ihm gewärmt zu werden. Ich wollte mehr davon.

Ich richtete mich langsam auf. Mein Körper war wieder warm, aber irgendwie fühlte ich mich noch immer schlapp. Ich stand auf und sah auf dem Schreibtisch das Polaroidfoto liegen, das Mum in zwei Stücke gerissen hatte. Es war mit Tesafilm wieder zusammen geklebt worden. Offensichtlich hatte Marlo das Bild in meinen Sachen gefunden, die ich angehabt hatte, als er mich zu sich in die Wohnung getragen hatte.

Er war so ein Schatz.

Vorsichtig lugte ich aus dem Zimmer. Vom Wohnzimmer her hörte ich den Fernseher. Ich lugte in den Raum. Marlo saß da. Vor ihm standen eine halbe Pizza und eine Cola.

„Hey", machte ich mich bemerkbar.

Er hatte mich nicht kommen gehört und sah ein wenig erschrocken zu mir auf.

„Du hast aber nicht lange geschlafen", stellte er fest.

Ich hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Draußen setzte jedoch bereits die Dämmerung ein. Es hatte aufgehört zu schneien. 

„Du warst ja auch nicht da. Du hast mir gefehlt."

Er lächelte und klopfte auf den Platz neben sich. Das machte er so oft. Es war wirklcih eine seltsame Angewohnheit von ihm.

Sobald ich mich gesetzt hatte, legte er einen Arm um mich und küsste mich auf die Wange.

„Willst du etwas Essen oder trinken? Ich kann dir einen Tee oder so machen."

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte wirklich keinen Appetit.

„Geht es dir denn besser?", erkundigte er sich fürsorglich.

„Ja. Danke, dass du vorhin für mich da warst."

Er lächelte schwach.

„Verrätst du mir jetzt, was bei dir los ist?" fragte er nun ernst.

Warum musste er mit dieser Frage die Stimmung kaputt machen?

„Ich kann das nicht."

Ich konnte es wirklich nicht. Wie sollte ich ihm das erklären? Mir war das peinlich.

„Du kannst mir wirklich vertrauen. Ich will dir doch nur helfen."

„Das weiß ich doch", sprach ich nun mit schwacher Stimme.

„Aber?"

Ich vermied seinen Blickkontakt. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und ich wollte auch nicht, dass er das Gefühl hatte, dass ich ihm nicht vertraute, aber ich konnte es ihm einfach nicht sagen. Ich schämte mich dafür. Wer gab schon gerne zu, dass er zu Hause Prügel bekam?

„Tut mir leid, aber es geht nicht."

Das hatte gesessen. Er saß aus, als hätte ich ihm das Herz gebrochen.

„Okay. Ich kann dich zu nichts zwingen", sagte er verbittert.

Dieser Satz ließ mich nicht gerade besser fühlen. Ich lehnte mich gegen ihn.

„Nimm mir das bitte nicht übel."

Er strich mir über die Haare.

„Versprich mir einfach, dass du zu mir kommst, wenn du wirklich Hilfe brauchst. Ich will dich nicht noch einmal halberfroren im Hinterhof finden."

„Versprochen."

Ich blieb nicht lange bei Marlo. Ich hatte schon viel zu viele Umstände gemacht.Also ging ich zurück in meine Wohnung.  Meine eigenen Sachen hatte ich in einer Tüte in der Hand. Die Sachen, die ich trug, waren mir viel zu groß.

„Wo kommst du denn her?", fragte Mum, die im Wohnzimmer vor der Glotze saß.

Skeptisch betrachtete sie meine Sachen, die wie ein Kartoffelsack an mir herunterhingen.

„War bei einer Freundin."

„Kommst du bitte und setzt dich mal?"

Ich hatte keinen Bock darauf, doch ich tat es trotzdem. Es würde wohl wieder Ärger geben, wenn ich ihre Anweisung nicht befolgte.

„Und jetzt?", fragte ich provokant, als ich saß.

Sie seufzte. Es schien so, als hätte sie einen klaren Moment.

„Schatz, es tut mir so leid. Ich habe es mal wieder voll verbockt." Konnte man so sagen. „Ich verspreche dir, dass ich aufhören werde zu trinken."

Wer es glaubt!

„Wie oft willst du mir das noch versprechen? Das erzählst du mir jeden Monat. Seit 17 Jahren. Es hat sich nie etwas daran geändert."

„Dieses Mal habe ich aber wirklich ein besseres Gefühl dabei."

„Erzähl doch nicht! Das glaubst du doch selbst nicht. Jedes Mal sagst du, dass es dieses Mal anders wird. Du brauchst Hilfe und zwar professionelle!" Ihr Blick war leer. Ich hatte ihr schon oft versucht ins Gewissen zu reden. „Wenn du so weiter lebst, wirst du wohl nicht mehr lange auf dieser Erde weilen! Wenn du es schon nicht für deine Kinder schaffst, dann tu es doch wenigstens für dich selbst!"

„Das ist nicht so einfach. Aber falls es dich interessiert: Ich habe mich bei den anonymen Alkoholikern angemeldet."

Überrascht zog ich eine Augenbraue hoch. Das war tatsächlich eine Neuigkeit.

„Das hast du wirklich getan?"

Sie nickte.

„Ich meine es dieses Mal wirklich ernst, Violett. Ich will dir nicht mehr wehtun."

Sie sah entschlossen aus. Vielleicht schaffte sie es dieses Mal ja wirklich. Ich würde es ihr gönnen. Auch wenn sie mir schon so viel Leid zugefügt hatte, war sie trotzdem noch meine Mutter.

„Mum, wenn du es wirklich ernst meinst, dann unterstütze ich dich."

Ihre großen Augen sahen nun in meine eigenen.

„Wirklich?"

Sie war meine Mutter und sie war krank. Ich wäre eine schlechte Tochter, wenn ich sie hängen lassen würde. Tief in mir drinnen liebte ich meine Mutter trotzdem. Die Mutter, die nicht vom Alkohol zum Monster gemacht wurde. Ich hatte außer ihr und Sam keine Familie.

„Ja, wirklich. Aber ich will, dass du kämpfst."

„Das werde ich, Schatz. Das bin ich dir schuldig!"

Sie nahm mich in den Arm und fing an zu weinen.

„Du bist meine einzige Tochter. Ich weiß, dass ich dir bis jetzt kein gutes Leben geboten habe, aber ich werde mich bessern. Wir werden uns ein schönes Leben machen!"

Ich wusste nicht, ob ich ihren Worten wirklich glauben schenken konnte. Es war nicht selten, dass sie mir morgens sagte, wie sehr sie ich liebte und mir dann abends eine verpasste. Von ihren Stimmungsschwankungen konnten einem schwindlig waren. Sie war eine gebrochene Persönlichkeit.

Als Sam zu uns ins Wohnzimmer kam, fiel mir auf, dass er humpelte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er diese Verletzung vom Mum hatte. Gestern Abend hatte ich beide rumschreien gehört.

Sam zeigte nicht oft, wie sehr ihn das belastete. Als Kinder hatten wir zusammengehalten und ns gegenseitig beschützt. Doch dann waren wir in die Pubertät gekommen und hatten uns in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Es machte mich manchmal traurig. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie wir uns zusammen unter der Bettdecke versteckt hatten, wenn Mum mal wieder voll gewesen war. Er hatte immer eine Taschenlampe dabei gehabt, weil mir die Dunkelheit Angst gemacht hatte. Dann hatten wir uns Geschichten erzählt. Geschichte, in der wir in einer normalen Familie lebten. Wo jeden Mittag eine warme Mahlzeit auf dem Tisch stand und keine Cornflakes. Wo die Mutter Gute-Nacht-Geschichten vorlas und nicht erzählte, was man für ein schlimmes Kind war. Wo es Vater gab, der einen auf den Schultern trug und nicht Männer, die sich ständig die Klinke in die Hand gaben.


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Tags: #herzschmerz