16 - Trümmerhaufen
Es war nicht wie vorher. Das zwischen uns wurde komisch. Wir schrieben nicht mehr so oft und trafen uns auch nicht. Zwar grüßten wir uns noch freundlich im Treppenhaus, wenn wir uns mal sahen, aber dieser Kuss hatte unsere Freundschaft zunächst auf Eis gelegt.
Eine Woche verging. Ich begann ihn wirklich zu vermissen. Vor allem seine Unbeschwertheit fehlte mir. Ich hörte ihn manchmal durch die Wand Gitarre spielen. Jedes Mal presste ich mein Ohr gegen die Wand, um ihn zu lauschen.
Am Freitag fing es auf dem Nachhauseweg an zu schneien. Ich musste an meine Omi denken. Wir hatten den ersten Schnee immer zelebriert. Ich vermisste sie so sehr. Ich nahm einen kleinen Umweg und besuchte ihr Grab. Ich kaufte ihr eine Rose und legte sie vor ihren Grabstein. Sie hatten Rosen immer geliebt und war mit mir oft in den Rosengarten einer Nachbarin gegangen.
Da es unter Null Grad waren, hielt ich es nicht lange dort aus. Mir wurde schnell kalt.
Ich lief nach Hause und musste gut aufpassen, dass ich auf dem Weg nicht ausrutschte.
Als ich in die Wohnung kam, saßen wie immer Lizzy und Sam vor dem Fernseher.
„Hey", begrüßte ich sie und schüttelte die weißen Schneeflocken aus meinen schwarzen Haaren.
„Deine Mutter ist in deinem Zimmer", warnte mich Lizzy vor.
Was hatte ich denn dieses Mal schon wieder falsch gemacht? Ich war es wirklich leid.
Mit einem unguten Gefühl ging ich in mein Zimmer. Als ich die Tür öffnete traf mich fast der Schlag. Und dieses Mal kein körperlicher.
Das hatte selbst ich noch nicht erlebt.
Mein gesamtes Zimmer war in Trümmern. Mein Bücherregal lag zerbrochen auf dem Boden. Überall auf dem Boden lagen Sachen herum. Inmitten von dem Chaos saß meine Mutter und heulte bitterlich. Erbärmlich sah sie zu mir auf.
„Es tut mir so leid", schluchzte sie.
Das war typisch Mum. Erst scheiße bauen und dann wimmernd ankommen und sagen, dass es gar nicht gewollt hatte.
„Was wird das hier?", fragte ich fassnglos und suche verzweifelt nach einem Möbelstück, dass nicht zerstört war. Sie hatte nichts verschont gelassen.
„Ich wollte das nicht", wimmerte sie.
„Warum tust du so etwas?", fragte ich wütend und verzweifelt. "Warum?"
Alle Blätter, die bis vor Kurzem noch in meine Hefte geheftet waren, lagen nun überall zerstreut rum.
„Ich weiß auch nicht. Sei bitte nicht böse auf mich, Schatz. Ich habe einfach zu viel getrunken und hatte mich nicht mehr unter Kontrolle."
Und dann sah ich das Foto, das Marlo damals von uns mit der Polaroidkamera gemacht hatte. Es war in zwei Hälfte gerissen. Das war zu viel für mich. Ausgerechnet dieses Foto! Alles in diesem Raum hätte sie kleinschlagen können, aber nicht dieses Foto. Ich hob mit zittrigen Händen die beiden Teil auf. Tränen nutzten ihren Weg in die Freiheit. Dieses Foto bedeutete mir alles.
„Ich hasse dich!", schrie ich meiner Mutter direkt ins Gesicht. „Ich hasse dich so sehr! Immer machst du alles kaputt! Ich bin deine Tochter. Du solltest mich lieben ud beschützen!"
„Es tut mir leid", sagte sie wieder.
Ich hatte es satt. Ich hatte es so satt in dieser Familie zu leben. Ich wollte weg. Einfach nur weg von hier und diesem erbärmlichen Leben.
Ich hatte zwar meinen Mantel nicht an, dafür aber noch meine Straßenschuhe. So wie ich war, stürmte ich aus der Wohnung. Ich lief die Treppen nach unten und rannte auf den Hinterhof. Ich wusste nicht, was ich hier wollte.
Es war ruhig. Hier war keine Menschenseele.
Der Schnee fiel lautlos auf den Boden. Ich fiel dafür mit einem Lauten Rums. Ich trug nur meine Jeans und ein dünnes Shirt. So saß ich auf dem nasskalten Boden. Es war kalt, aber mir fehlte die Kraft irgendwo hinzugehen. Ich wollte einfach nur hier sitzen und heulen. Mich im Selbstmitleid ertränken. Wo sollte ich auch sonst hin? So erbärmlich wie ich jetzt aussah, wollte ich mich niemandem präsentieren.
Ich umschlang meine Knie und weinte bitterlich. Schnell begann ich an zu zittern. Meine Hände und Füße wurden taub, och der Schmerz in meinem Herzen blieb.
Ich sah mir die Schneeflocken an, die so friedlich vom Himmel schwebten. Wenn sie nur wüssten auf was für einer grausamen Welt sie landeten.
Ich wünschte, ich wäre nie auf dieser Erde gelandet. Mir hatte so viel Leid erspart werden können. Ich war gerade dabei jeglichen Lebensmut zu verlieren. Ich wollte, dass das alles endlich ein Ende hatte. Ich wollte, dass dieser Schmerz und die ständige Enttäuschung verschwanden. Ich konnte das nicht mehr.
Die Kälte war mittlerweile in meinen gesamten Körper eingezogen.
„Violett!"
Ich reagierte nicht. Ich wollte jetzt mit niemandem reden und schon gar nicht mit ihm. Ich wollte meine Ruhe haben.
„Oh Gott, was tust du?", hörte ich ihn fragen.
Er nahm meine Hände in seine. Ich wusste, dass seine Finger warm sein mussten, doch spüren konnte ich es nicht.
„Geh weg!", murmelte ich mit eingefrorenen Lippen.
Er gehorchte nicht. Stattdessen hob er mich einfach hoch. Er trug mich ins Haus, schleppte mich die Treppen hoch und dann in seine Wohnung.
„Dad!", rief er laut, als er mich vorsichtig im Flur absetzte.
Sofort kam sein Vater an.
„Was ist?" Dann sah er mich. „Oh Gott, was ist mit ihr passiert?"
Ich fühlte mich zu schwach zum Sprechen. Also redete Marlo.
„Sie saß völlig apathisch draußen im Schnee. Ich weiß nicht, wie lange sie dort gesessen hat." Marlo wirkte panisch. „Sollen wir einen Krankenwagen rufen?"
Marlos Vater beugte sich zu mir nach unten und sah mich musternd an.
„Ich schlage vor, dass wir versuchen sie selbst warm zu kriegen. Es sieht nicht so aus, als hätte sie schon Erfrierungen. Geh du am besten rüber und informiere ihre Mutter."
„NEIN!", kam es mit erstaunlich fester Stimme aus meinem Mund. „Bitte, nicht meine Mutter."
Vater und Sohn tauschten kurz überrascht Blicke aus. Sie entschieden nach kurzem Zögern sich meinen Wunsch zu erfüllen. Die Zwei brachten mich ins Bad. Während Thorsten Wasser einlaufen ließ, versuchte Marlo mir meine Jeans auszuziehen.
„Was wolltest du da draußen?", fragte er.
Ich sagte nichts.
Es fiel ihm schwer, mir die nasse, enganliegende Hose auszuziehen. Sein Vater musste ihm dabei helfen. Mein Shirt ging deutlich leichter. Mit Marlos Hilfe stieg ich in Unterwäsche in die Wanne. Das lauwarme Wasser, brannte wie Feuer auf meiner Haut. Es brauchte Ewigkeiten bis ich mich komplett ins Wasser legen konnte. Nur sehr langsam gewöhnte sich mein Körper an die Temperatur.
Marlo wich mir nicht von der Seite. Es herrschte jedoch Schweigen. Es war eine merkwürdige Situation und so richtig konnte ich mi nicht erklären, wie es eigentlich dazu gekommen war.
Der Kuss war mir wieder sehr präsent.
Als das Wasser abgekühlt war, stieg ich aus der Wanne. Marlo kuschelte mich in ein großes, flauschiges Handtuch. Ich zitterte noch immer am ganzen Leib.
Er brachte mich in sein Zimmer. Sein Vater hatte dort bereits trockene Sachen für mich hingelegt.
„Schaffst du es dich alleine umzuziehen? Ich guck nicht hin."
Ich nickte. Er sah aus dem Fenster, während ich unter größter Mühe die Klamotten anzog. Meine Gelenke schienen noch immer gefroren zu sein. Mir war die Situation mittlerweile richtig unangenehm. Was war nur in mich gefahren? Was dachte er jetzt wohl über mich?
„Ich bin fertig", ließ ich ihn wissen, als mein Körper von einer Jogginghose und einem übergroßen Pullover bedeckt war.
„Okay, aber du zitterst ja immer noch. Am besten du legst dich in mein Bett. Ich habe die Heizung schon auf voll Pulle gedreht. Es müsste gleich wärmer werden. "
Ich tat, wie er mir befahl. Seine Bettdecke war viel kuschliger, als meine eigene.
„Wenn du etwas brauchst, dann ruf mich", sagte er und ging in Richtung Tür.
„Marlo!", hielt ich ihn auf.
Er blieb stehen und drehte sich zu mir.
„Was ist?"
„Kannst du bei mir bleiben?"
Ich musste in seinen so unglaublich erbärmlich aussehen, aber ich wollte jetzt nicht alleine sein. Ich wollte ihn bei mir haben und zwar so nahe wie möglich.
„Bitte", schob ich flehend nach.
Er zögerte, machte dann aber ein paar Schritte auf mich zu.
„Okay. Ich bleib hier."
Meine Zähne klapperten noch immer.
Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl. So hatte ich das eigentlich nicht gemeint.
„Kannst du zu mir kommen und mich wärmen?"
Sein Blick ruhte nach dieser Frage lange auf mir und es schien mit eine Ewigkeit bis er reagierte.
„Du willst, dass ich zu dir mit unter die Decke komme?"
Ich nickte.
Wieder verging eine Weile, in der er keine Anstalten machte zu reagieren. Doch kam er zu mir ins Bett. Er legte sich dicht an mich und begann mich zu wärmen. Seine Arme umschlangen meinen zerbrechlichen Körper. Ich legte meinen Kopf auf seiner Brust ab und konnte seinen Atem spüren.
„Wieso hast du das getan?", flüsterte er. „Wieso hast du einfach so im nassen Schnee gesessen? Und das über so lange Zeit?"
Ich konnte ihm die Wahrheit nicht sagen.
„Danke, dass du mich gerettet hast" sagte ich stattdessen und verweigerte eine Antwort.
Natürlich merkte Marlo, wie ich seiner Frage auswich.
„Wenn ich dich nicht aus dem Fenster gesehen hätte, wärst du vielleicht gestorben", predigte er weiter, als wäre er der Papst persönlich. "Es ist arschalt draußen und du hattest nicht mal eine Jacke."
Als ich im Schnee gesessen hatte, hatte ich nicht über die Konsequenzen nachgedacht. Mir war alles einfach egal gewesen. Meine Mutter hattem mein Zimme in Einzelteile zerlegt. Das hatte mich so unglaublich frustriert.
Doch ich war glücklich, dass Marlo mich gefunden hatte.
Ich lehnte mich zu ihm nach vorne und küsste ihn. Er war sichtlich überrascht, doch er erwiderte es. Ich presste meinen Körper enger an seinen.
„Tut mir leid", hauchte ich. „Was ich neulich gesagt habe, war dumm. Ich will mehr von diesen Küssen."
Er lächelte.
„Du bist schon ein verrücktes Mädchen."
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