12 - Ganz die Mama
Ich hatte das gesamte Wochenende mit Arbeiten und Lernen verbracht. Am Montag stand dieser verdammte Spanischtest an, den ich unter keinen Umständen verhauen wollte. Marlo war das gesamte Wochenende bei seiner Mutter und irgendwie vermisste ich ihn. Zwischen mir und meiner eigenen Mutter passierte nichts. Wir gingen uns aus dem Weg und damit konnte ich leben. Da sie von Samstag zu Sonntag einen Mann mit ins Schlafzimmer genommen hatte, war ihre Laune auch deutlich gestiegen.
Als es dann Montagmorgen war, wartete Marlo auf mich, als ich zur Schule gehen wollte.
„Was machst du denn hier? Musste du nicht schon längst auf dem Weg zur Schule sein?"
Da seine Schule weiter weg war, musste er auch immer früher los als ich.
„Ich habe erst zum zweiten und wollte dir persönlich noch viel Erfolg für den Test wünschen." Aww das war jetzt wirklich süß. Ich musste aufpassen, dass in meinen Augen keine Rosaherzen aufploppten. „Du kannst das. Wir haben so viel geübt. Mach dir also keinen Druck."
Ich fühlte mich tatsächlich gut für den Test vorbereitet.
„Danke schön. Das ist lieb, dass du extra rausgekommen bist, um mir Glück zu wünschen."
Er hob belehrend den Zeigefinger in die Höhe.
„Ich wünsche dir kein Glück", korrigierte er mich. „Denn Glück brauchst du gar nicht. Glück ist etwas für die Doofen. Du kannst den Stoff. Du brauchst einfach nur ein wenig Konzentration und schon wirst du eine gute Note bekommen."
„Du denkst, ich schaff das, oder?"
„Ich weiß das sogar!"
Er zog mich in eine Umarmung, die, wenn es nach mir ginge, gerne ewig andauern könnte.
„Na los, du musst los. Nicht, dass du zu spät kommst."
Widerwillig stieg ich die Treppen hinab. Er winkte zum Abschied.
Spanisch war erst im letzten Block und so saß ich den gesamten Schultag wie auf Kohlen. Als es dann soweit war, wurde ich aufgeregt. Ich begann auf meinem Bleistift herumzukauen und ihm so einen individuellen Look zu verpassen.
„Das ist widerlich", beschwerte sich Mel. „Du musst dir das echt mal abgewöhnen, sonst wird das nie etwas mit Marlo."
„Wird es eh nicht, aber im Moment habe ich echt andere Probleme. Wenn ich das Abi bestehe will, brauche ich wirklich gute Noten. Ich darf diesen Test nicht verhauen."
„Reg dich ab! Ihr habt ständig gelernt und gestern hast du mir am Telefon nochmal alle Vokabeln runtergerasselt, als würdest du deine Lieblingsbands aufzählen. Du kannst das!"
Eigentlich hatte sie Recht, aber mein Pulsschlag hatte das noch nicht ganz begriffen. Ich war gut vorbereitet. Noch nie hatte ich so viel für einen Test gelernt.
Dann bekamen wir alle ein Blatt vor die Nase gelegt. Wir dürften es jedoch noch nicht umdrehen. Mit zitternden Beinen starrte ich auf die Rückseite. Ich war schon immer ein Mensch gewesen, der unter höllischer Prüfungsangst litt und das zu Recht, denn ich setzte Test mit beständiger Regelmäßigkeit in den Sand.
„Ihr dürft jetzt umdrehen!"
Das war mein Startschuss. Ich wendete das Blatt und sah eine Fragestellung auf Spanisch, die ich nicht verstand. Ich kannte die Wörter, aber mir fielen deren Bedeutungen nicht mehr ein. Ich wusste, dass ich sie Marlo tausend Mal durchgegangen war, aber es war mit einem Mal alles weg. Ich hatte ein Blackout.
Es war als hätte sich mein Gehirn von mir verabschiedet. Ich saß hier nur noch mit einem leeren Kopf.
Komm schon Violett, du kannst das!, sagte ich mir immer wieder, doch es fiel mir nicht ein. Mel schrieb neben mir wie eine Verrückte. Es stand nur eine einzige Frage diesem Blatt. Wahrscheinlich sollten wir die negativen Aspekte von Drogen aufzählen oder so, aber selbst dazu war ich nicht im Stande. Mein Gehirn war Brei. Und aus Brei konnte man keine Spanischvokabeln machen.
Eine halbe Stunde starrte ich auf den Zettel. Ich schrieb nicht ein Wort. Nicht einmal meinen Namen. Ich gab ein leeres Blatt Papier ab und floh dann aus dem Klassenraum.
Ich war eine verdammte Heulsuse, aber in dem Moment konnte ich einfach nicht anders. Die ganze Arbeit war umsonst gewesen. Das würde eine glatte Sechs werden. Mal wieder. Und das weil ich mich nie auf mein Gehirn verlassen konnte. Weil meine Mutter gemeint hatte, dass Alkohol in der Schwangerschaft nicht so schlimm sein würde.
Ich fühlte mich so verdammt dumm.
Ich nahm den Bus direkt nach Hause, ohne auf Mel zu warten. Ich war so verdammt sauer auf alles. Frustration über mein Leben machte sich in mir breit. Und dann kam ich auch noch ins Wohnzimmer und sah diese fette Barbie Lizzy da sitzen.
„Warum siehst du aus wie ein Panda?"
„Schnauze!", giftete ich sie an. Das war nicht der Moment mich anzuspechen.
Dann tat ich etwas, was ich noch nie getan hatte und was ich eigentlich auch nicht tun sollte. Ich nahm mir eine Flasche Wodka aus dem Vorrat meiner Mutter.
„Was wird das denn?", erkundigte sich Sam.
„Ich betrinke mich jetzt."
Das erste Mal in meinem Leben schien mein Bruder ernsthaft besorgt um mich zu sein. Ich war ihm in den letzten Jahren immer gleichgültig gewesen. Ganz egal, wie hart Mum zugeschlagen hatte, doch nun kam er zu mir und sah mich ernst an.
„Violett, du bist alt genug, aber tu das nicht. Du siehst doch, was der Alkohol mit Mum macht. Trete nicht in ihre Fußstapfen!"
„Du kannst mich mal! Ich mache, was ich will!"
Ich umklammerte den Wodka und schloss mich in mein Zimmer ein. Ich wollte meinen Frust betäuben. Ich hatte noch nie Wodka getrunken. Wie meine Mutter es tat, setzte ich die Flasche an und wollte es trinken, als wäre es Leitungswasser. Schnell merkte ich, dass ich das nicht konnte. Automatisch spuckte ich es aus. Ich war selbst zu dumm zum Alkoholtrinken.
Ich mischte ihn mit der Cola, die ich im Zimmer zu stehen hatte und trank das Gemisch dann schlückchenweise. Ich wusste, wie erbärmlich ich war und ich hasste mich dafür.
Es war schon abends, als ordentlich Promille durch meine Adern floss. Entschlossen stand ich auf. Ich schloss meine Tür auf, marschierte durch den Flur, verließ die Wohnung und klopfte an Marlos Tür.
Sein Vater öffnete.
„Violett", sagte er fröhlich. „Wie lief dein Test?"
Toll, dass jeder davon wusste.
„Wo ischt Marlol?"
Aiaiei, meine Zunge gehorchte mir nicht mehr.
„Hast du getrunken?" Sein Blick war besorgt.
„Wo ischt Marlo?" Ich hatte versucht deutlicher zu sprechen, leider ohne Erfolg.
Er seufzte.
„Komm rein!", bot er mir freundlich Einlass, sah mich aber kritisch an. „Er ist in seinem Zimmer."
Ich stürmte in Marlos Zimmer ohne Anzuklopfen. Er saß vor seinem Laptop und schreckte auf, als ich die Tür aufriss.
„Sag mal, geht's noch?", fuhr er mich an. Das erste Mal erlebte ich ihn sauer. „Warum platzt du einfach so in meine Zimmer rein?"
„Du bischt Schuuld."
Verdammt, das mit dem Sprechen würde ich heute nicht mehr bekommen.
„Bist du betrunken?", fragte er skeptisch.
„Nee."
Er kam näher.
„Natürlich bist du betrunken. Ich kann es doch riechen! Wieso bist du um 19.00 an einem Montag hackedicht?"
„Du bischt Schuuuld"; wiederholte ich mich.
„Woran denn?"
„Der Tescht. Ich bin durschgefallen."
Nun verstand er. Verwirrung wich Mitleid.
„Was? Wie konnte das denn passieren? Du wusstest doch alles!"
„WAS WEIßSCH ICH DENN?", rief ich und fing an zu weinen. „Blackout. Isch wusschte gar nischts mehr", fügte ich schluchzend hinzu. „Nischts. Alles leer. Isch bin dumm." Ich wurde emotional.
Oh Mann, ich machte mich gerade total lächerlich und blamierte mich bis aufs Knochenmark. Marlo seufzte und kam zu mir. Ich musste in seinen Augen so unglaublich erbärmlich aussehen. Wieso hatte ich nur an seiner Tür geklingelt? Wieso hatte ich überhaupt zur Wodkaflasche gegriffen?
„Hey, du bist doch nicht dumm", sagte er nun einfühlsam und legte seine Hände auf meine Schultern.
„Doch!"
Er schüttelte den Kopf.
„Das einzige, was dumm war, war sich zu betrinken. Aber Blackouts passieren. Deshalb bist du nicht dumm."
„Aber mir passchieren sie ständig!"
Er drückte mich fest. Er spürte meine Schwäche und all die Selbstzweifel, die in meinem Kopf schwirrten, doch er hatte keine Ahnung, was in meinem Leben wirklich los war. Er wusste nicht, was ich alles durchmachen musste. Am liebsten würde ich ihm alles sagen. Ich wünschte ich könnte mich ihm öffnen und von meiner alkoholkranken Mutter erzählen. Von der Gewalt und der Herzenskälte, von der ich ständig umgeben war.
Wie er mich so an sich drückte, fing ich noch mehr an zu weinen. Mir war das so peinlich. Ich heulte hier hemmungslos rum.
„Tut mir leid. Isch hätte nischt herkommen sollen", entschuldigte ich mich.
„Es ist gut, dass du hergekommen bist", erwiderte er sofort.
Er umarmte mich auf so herzliche Art und Weise. Ich glaubte, mich hatte noch nie jemand so liebevoll umarmt. Jetzt heulte ich noch mehr.Ich mutierte gerade zum lebenden Springbrunnen.
„Sccchhh, ist gut. Ich bin doch hier", versuchte er sich im Trösten.
„Isch hassche mein Leben."
Sein Blick wurde immer ernster.
„Warum sagst du denn so etwas? Wegen einem versemmelten Spanischtest hasst man doch nicht sein gesamtes Leben."
Noch immer standen wir eng umschlungen da. Ich drückte mich noch näher an ihn. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich hatte außer Mel nie jemandem die Wahrheit über mich erzählt. Und ich hatte auch nicht vor, dass sich das heute änderte. Ich wollte nicht das misshandelte Mädchen sein.
Mir wurde mit einem Mal unglaublich schlecht. Um mich herum begann sich alles zu drehen. Marlo schien das zu merken und half mir mich auf sein Bett zu legen. Mit einem gezielten Griff hatte er eine Tüte in der Hand und hielt sie mir hin.
„Falls du dich übergeben muss und es nicht rechtzeitig ins Bad schaffst."
Ich nahm die Tüte, doch ich musste mich nicht übergeben. Ich wollte einfach nur da liegen und warten, bis es aufhörte.
Ich schloss die Augen. Obwohl ich nichts mehr sehen konnte, hatte ich noch immer das Gefühl, dass sich die Erde um mich herum drehte.
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