10 - Wie ich nüchtern betrunken war
Ich hatte Mel die Woche nicht gesehen, da sie von einer Grippe niedergestreckt wurde und ich somit zwangsweise zum Einzelkämpfer in der Schule geworden. Zwar hatte ich noch andere Freunde, aber Mel war einzigartig. Sie war meine Seelenverwandte und ohne sie fühlte ich mich unvollständig. Ich brauchte meine Lästerschwester stets an meiner Seite, weshalb ich sie am Freitagnachmittag nach der Schule besuchte.
Krank sah sie nicht mehr aus. Und ich hoffte auch nicht, dass sie noch krank war, denn in diesem Augenblick zog sie mich fest an sich und drückte mich zur Begrüßung. Falls da noch Keime waren, hatte ich sie spätestens nach dieser innigen Umarmung auch.
„Zu Hause bei dir alles okay?" war wie immer ihre erste Frage.
„Ja, die letzten Tage waren okay."
Okay bedeutete, dass Mum nur rumgemerkte und nicht handgreiflich geworden war.
„Und was gibt es von Der Marlo-Front?", fragte sie nun neugierig.
Wir hatten schon darüber geschrieben, aber ich hatte mich mit Details zurückgehalten.
„Nichts. Wir lernen halt spanisch zusammen."
Sie verdrehte die Augen.
„Ist klar. Ihr lernt nur Spanisch", sagte sie ironisch.
„Wirklich", beteuerte ich.
„Und wieso ist das bitte so? Ihr hängt nahezu jeden Tag miteinander ab, seitdem er letzte Woche eingezogen ist. Wieso läuft da nicht noch mehr?"
Sie ließ sich auf die Couch neben mich fallen, reichte mir meine Tafel Schokolade und umschlang dann ein Sofakissen.
„Wir sind Freunde. Mehr nicht", blieb ich standhaft.
„Aber warum?", drängte sie ungeduldig. „Ihr wärt ein so süßes Paar!"
Ich errötete leicht. Sie sah so etwas immer sofort. Auch in diesem Fall.
„Ha! Siehst du! Du stehst auf ihn! Trau dich doch einfach mal! Du hast bloß Angst den ersten Freund zu haben. Der Typ scheint nett zu sein, also nimm ihn dir!"
„Ich weiß nicht", zögerte ich. „Wie soll ich das denn anstellen?"
Mel schlug die Arme über dem Kopf zusammen.
„Du küsst ihn und fertig ist."
„Ich kann ihn doch nicht einfach so küssen!"
Mel lachte.
„Wenn jeder so denken würde, würde die Menschheit bald aussterben."
Ich griff nach einem anderen Sofakissen und warf es ihr ins Gesicht.
„Du bist blöd", beschwerte ich mich.
„Und du bist verliebt und willst es dir nicht eingestehen!"
„So ein Quatsch!"
„Was hast du denn zu verlieren?"
Das sagte Marlo auch immer, wenn ich bei irgendeiner seiner verrückten Ideen zögerte.
„Einen guten Freund."
Mel schüttelte den Kopf.
„Wegen einem Kuss verliert man keinen Freund. Also spring gefälligst über deinen Schatten oder ich schubse dich!"
Ich sagte darauf nichts mehr. Ich wollte nicht über Marlo reden. Wir wechselten das Thema und beschäftigten uns damit exotische Shakes mit ihrem Ice-Crasher zu machen. Dann zogen wir uns eine Folge Supernatural rein.
Am frühen Abend verabschiedete ich mich. Ich umarmte Mel gerade zum Abschied, als es tatsächlich ein Vogel wagte seinen Darm über mir zu entleeren. Es tropfte direkte auf meine Schulter.
Mel lachte, ich war genervt. Wäre Marlo hier gewesen, hätte ich wohl mitgelacht.
„Warte, ich hol dir ein Taschentuch."
Sie verschwand kurz nach drinnen und kam Augenblicke später wieder um mir meine Schulter abzuwischen, doch ein weißer Schatten blieb auf meiner Jeansjacke zurück.
„Soll Glück bringen", munterte mich Mel noch auf, ehe ich mich zur Bushaltestellte aufmachte.
Der Bus voll und von einem Sitzplatz konnte ich nicht einmal träumen.
Von der Bushaltestelle waren es kein 20 Meter bis zu mir nach Hause, doch innerhalb dieser 20 Meter schaffte ich es tatsächlich noch einmal Bekanntschaft mit den Fäkalien von Tieren zu machen. Mein Schuh landete direkt in einem Hundehaufen. Ich spürte das Glitschige unter meiner Sohle.
Das konnte doch echt nicht wahr sein!
„Na, nicht dein Glückstag heute?", hörte ich eine bekannte Stimme fragen.
Marlo stand vor mir.
„Wirklich nicht! Mich hat eben schon ein Vogel angekackt."
Er schmunzelte.
„Dann kann man ja sagen, dass du einen richtigen Scheißtag gehabt hast", scherzte er.
Was für ein Wortwitz. Um ihm einen Gefallen zu tun, lächelte ich darüber.
„Ich hab auch grad den Bus verpasst", offenbarte er mir. „Ich wollte mit Freunden in eine Bar gehen. Willst du mitkommen?" Ich war immer wieder fasziniert davon, wie unkompliziert er war. „Außer du hast schon andere Pläne für diesen Abend?"
Naja, mein Date mit dem Nudelauflauf konnte ich auch verschieben. Ich hatte das Gefühl, dass sich Marlo nie einen solchen Abend gönnte, an dem er einfach vor dem Fernseher gammelte und Nudelauflauf aß.
„Nein, keine Pläne, aber ich müsste dringend meine Schuhe wechseln."
„Dann beeil dich am besten. Dann schaffen wir vielleicht den nächsten Bus."
Der nächste Bus kam in acht Minuten. Schuhwechsel war in der Zeit zwar möglich, aber ich hätte mich für ihn schon auch gerne in eine Duftwolke gehüllt. Außerdem trug ich noch die vogelscheiß-verseuchte die Jacke, die ich wechseln musste.
Wie von einer Biene gestochen rannte ich los. Wie wunderbar, dass wir ganz oben wohnten. Hechelnd kam ich oben an. Jetzt könnte ich auch noch eine Dusche gebrauchen. Achtlos warf ich meine Schuhe auf den Balkon, damit sich der Gestank der Hundescheiße nicht in der Wohnung ausbreitete. Meine Jeansjacke ersetzte ich durch eine schwarze Lederjacke. Die passte dann aber nicht mehr zur schwarzen Hose. Schließlich wollte ich nicht als Grufti durchgehen. Also musste die auch noch gewechselt werden. Ich tat das alles in Lichtgeschwindigkeit. Der Hosenkopf wurde im Treppenhaus geschlossen. Meinen Zopf löste ich auf der Haustürschwelle.
„Hast du dich gleich einem Umstyling unterzogen?", fragte mich Marlo verdutzt.
„Ähm, nein", sagte ich verlegen.
Mit dem Bus fuhren wir keine zehn Minuten. Dieses Mal waren es keine Argentinier, sondern Menschen aus aller Welt. Ein Japaner, eine Chinesin, ein Araber, ein Australier und eine Norwegerin. Ich hatte keine Ahnung, woher er diese Leute kannte. Marlo erzählte immer viele Geschichten und ich hatte das Gefühl, dass er die gesamte Welt kannte. Die Unterhaltung fand auf Englisch statt. Das lief zwar besser als Spanisch, aber auch nicht optimal. Doch wieder stellte sich das Phänomen ein, dass ich sofort und selbstverständlich integriert wurde. Diese Menschen waren alle so furchtbar nett und ich hatte sofort das Gefühl sie ewig zu kennen. Wir saßen in einer kleinen Bar und bestellten uns Cocktails. Der erste, den ich trank, war noch mit Alkohol. Danach bestellte ich nur noch alkoholfreie. Ich musste morgen Arbeiten und wollte keinen Kater haben.
Es war wieder spät, als wir nach Hause fuhren, doch dieses Mal würde ich hoffentlich kein Ärger bekommen. Schließlich hatte ich morgen keine Schule.
„Was machst du am Wochenende?", fragte ich ihn, als wir gemeinsam die Treppen hochstiegen.
„Ich fahr zu meiner Mutter. Und du?"
Ich war müde und stolperte über eine Stufe. Ehe ich fallen konnte, hatte Marlo nach mir gegriffen.
„Ich muss beide Tage arbeiten", ließ ich ihn wissen, als ich mich wieder gefangen hatte.
„Macht dir kellnern Spaß?"
„Es gibt gute und schlechte Tage. Kommt immer auf die Gäste an."
„Dann hoffe ich mal, dass es Gute werden und du ein schönes Wochenende hast."
Wir standen nun vor unseren Wohnungstüren.
Ich dachte an Mels Wort. Was hast du schon zu verlieren? Küss ihn doch einfach!
Ich zögerte kurz und dachte mir dann Ach Scheiß drauf. Was war an einem Kuss schon so dramatisch?
Also küsste ich ihn. Es fühlte sich im ersten Moment komisch an. Ich schmeckte seine Alkoholfahne, aber seine Lippen waren weich.
Er legte seinen Kopf etwas nach hinten, sodass ich ihn nicht mehr erreichen konnte.
Ratlos sah ich ihn an. Hatte er gerade meinen Kuss abgelehnt?
„Violett, du bist betrunken!"
„Was? Nein!", protestierte ich sofort.
„Du hattest vier Cocktails. Bei deiner Figur reicht das, um dich sturzbesoffen zu machen. Du hast es gerade kaum die Treppe geschafft."
Aber das war doch nicht wegen dem Alkohol. Ich hatte schließlich nur einen Cocktail mit Alkohol getrunken. Ich war doch nur gestolpert, weil ich müde gewesen war. Jetzt war ich frustriert. Ich hatte doch etwas zu verlieren gehabt: Mein Selbstbewusstsein.
Wie peinlich was das denn bitte?
Ein Typ verweigerte mir einen Kuss, weil er dachte, dass ich besoffen war, obwohl ich stocknüchtern war. Oder nutzte er es nur als eine Ausrede?
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