Zwei
Im Inneren empfing sie eine angenehme Wärme und eine ebenso ungewöhnliche Stille für ein Gebäude direkt an der Hauptstraße. Die Lobby des Hostels wirkte gemütlich und verfügte neben einigen weißen Sesseln weiterhin über eine große schwarze Couch inmitten des Raumes. Für die vielen Sitzgelegenheiten war erstaunlich wenig Betrieb. Sie lief direkt auf die Rezeption zu und warf dabei einen kurzen Blick auf die Uhr, die ihr gegenüber an der Wand hing. Obwohl es erst früher Abend war und sie die gesamte Autofahrt verschlafen hatte, fühlte sie sich eigenartig müde und erschöpft. Ein Blick auf ihr Handy zeigte ihr, dass sie während des Schlafens zahlreiche Nachrichten bekommen hatte, hauptsächlich von ihrer besorgten Mutter. Typisch. Sie scrollte flüchtig die verschiedenen Nachrichten auf dem Display durch und bemerkte eine leichte Enttäuschung, dass keine von Dominic dabei war. Er hatte sich melden wollen, wenn er fertig mit dem Umzug war und die Schlüssel in den Briefkasten geworfen hatte. Er ließ sich unverschämt viel Zeit.
„Guten Abend und herzlich Willkommen in San Francisco", riss sie eine Stimme aus den Gedanken und ließ sie erschrocken aufsehen. Das Mädchen an der Rezeption ihr gegenüber war kaum älter als sie selbst und eindeutig zu schick gekleidet für ein Hostel. Sie lächelte Louisa freundlich an, die ihr Kommen nicht einmal bemerkt hatte. Typisch Handysucht eben.
„Hi, eine Freundin von mir hat hier ein Zimmer gebucht. Alea Johnson", sagte sie dann und sah auf die Finger des Mädchens, die sogleich schnell über die Tastatur huschten.
„Sie haben Zimmer 121. Frühstück ist hier jeden Morgen von 8 bis 10 Uhr, Abendessen haben Sie nicht gebucht, sollten Sie trotzdem hier essen wollen, wird Ihnen das nachträglich in Rechnung gestellt. Das Zimmer wird alle zwei Tage vollständig gereinigt, frische Handtücher erhalten Sie dabei ebenfalls. Das Hostel verfügt außerdem über ein kleines Kino, einen Fitnessraum und einen großen Aufenthaltsraum mit verschiedenen Unterhaltungsmöglichkeiten. Duschen und Toiletten befinden sich auf den jeweiligen Gängen der Zimmer", spulte das Mädchen ab, während es weiterhin professionell auf der Tastatur tippte. Louisa nickte nur, nahm den faszinierten Blick schließlich von ihren schnellen Fingern und dann die Zimmerkarte entgegen. Sie sprach beinahe genauso schnell, wie sie tippen konnte. Oder andersherum.
„Gibt es... WLAN hier?", fragte sie dann zögerlich. Die wichtigste Frage.
„Selbstverständlich." Die elegant manikürte Hand der Rezeptionistin schob ihr eine kleine Karte mit dem WLAN Schlüssel entgegen. Dem Himmel sei Dank.
„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns", beendete das Mädchen seinen Kurzvortrag und Louisa lächelte sie flüchtig an. Gangduschen ungleich angenehm. Aber wahrscheinlich würden Alea und sie ohnehin nicht allzu viel Zeit hier verbringen und besser als eine vom Ex-Freund besetzte Wohnung war das hier allemal. Sie schob die Zimmerkarte in die Hosentasche ihrer Jeans und lief zurück zu der schwarzen Couch, um auf Alea zu warten. Die Wand neben ihr war mit sämtlichen Stadtteilen San Franciscos beschriftet, von denen ihr nur einige etwas sagten. Erneut holte sie ihr Handy hervor und öffnete nun den Nachrichtenchat, den ihre Mutter deutlich dominierte. Mütter.
„Sind gut angekommen. Alles gut", tippte sie in das Fenster und sah, dass ihre Mutter prompt ebenfalls online war. Seitdem sie das Prinzip des Chattens verstanden hatte, war sie quasi daueronline. Und cool war sie jetzt natürlich auch, denn sie konnte sogar ihr Profilbild eigenständig wechseln.
„Geht's dir gut?", kam die Antwort umgehend. Sie stellte ihre Tasche auf die Couch und seufzte. Es war offensichtlich, dass Dominic sie selbst nach San Francisco verfolgte, wenn auch nur in diversen Gesprächen.
„Alles bestens", log sie und grinste ihre Mutter mittels eines geheuchelten Smileys an, bevor sie das Chatfenster schloss. ‚Mädchen mit 21 dürfen nicht lange unglücklich sein. Ihr habt doch alles noch vor euch', hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Mütter hatten immer Recht, zumindest hatte sie das noch nie so sehr gehofft wie jetzt.
„Sorry. Das mit dem Parken ist eine einzige Katastrophe. Ab jetzt sind wir zu Fuß unterwegs", hörte sie fast im gleichen Moment Aleas Stimme und drehte sich um. Ihr braunes Haar fiel ihr vereinzelt aus dem lockeren Zopf, die Jacke trug sie elegant über ihrem Arm. Obwohl sie die gesamte Strecke alleine gefahren war, sah man ihren großen braunen Augen keine Spur von Müdigkeit an.
„Kein Problem, ich habe mich schon um alles gekümmert. Unser Zimmer müsste gleich hier sein", sagte Louisa und nahm ihre Tasche wieder auf den Arm. Dann folgte sie Aleas zügigem Schritt, vorbei an der Rezeption, den Aufzügen und einer Treppe, die in höhere Stockwerke führte. Nur kurz darauf blieb sie vor dem ersten Zimmer zu ihrer Rechten stehen. In großen, silbernen Zahlen war die Zimmernummer auf der Tür vermerkt. Zimmer 121.
„Sehr gut. Die Lage des Zimmers passt schon einmal zu meinem straffen Zeitplan", bemerkte Alea seufzend und wartete, bis Louisa die Zimmertür öffnete. Was zur Hölle hatte sie bloß für die nächsten Tage geplant? Das Zimmer selbst bestand aus zwei silbernen Stockbetten, einem Waschbecken und einer Mikrowelle. An jedes der Stockbetten war ein kleiner Schrank angehängt, insgesamt wirkte alles hell, freundlich und ordentlich. Der Straßenlärm war kaum zu hören.
„Lass mich raten: Ganz nett?", spottete Alea und sah zu Louisa, die ihre Tasche auf einem der Betten abstellte.
„Es ist wirklich gemütlich. Und wir müssen nicht mal losen, wer oben schläft. Oder kommen hier etwa noch Leute dazu?" Neeeein. Bitte keine Klassenfahrt.
„Ich glaube nicht. Aber ein Mehrbettzimmer war einfach am günstigsten." Alea lächelte zufrieden und schloss die Zimmertür hinter sich. Sie war einfach ein Fuchs.
Louisa sah sich flüchtig um und hing dann ihre Jacke an die Garderobe. Dabei fiel ihr Blick in den länglichen Spiegel an der Wand. Das Mädchen, das ihr entgegenblickte, hatte leicht rote Wangen und ihre grünen Augen sahen weniger müde aus als sie sich anfühlten. Die Sonnenbrille im Haar war etwas seitlich verrutscht und ein paar Strähnen aus dem Pferdeschwanz hingen in ihr Gesicht. Sie bemerkte, dass sie sich eigentlich viel zu kritisch ansah.
„Warum der kritische Blick?", las Alea im gleichen Moment ihre Gedanken. Überrascht sah Louisa sie im Spiegel an. Heilige Scheiße, ihr entging nichts.
„Nichts, ich... eigentlich hab ich gerade...nur..."
„Dominic?" Was? Nein! Sie hatte nicht einmal an ihn gedacht. Ausnahmsweise.
„Nein, mir geht's ehrlich gut, es war nur-"
„Vergiss ihn, Lou. Ich weiß, ihr wart zwei Jahre zusammen und ich weiß auch, dass er dein erster richtiger Freund war. Sonst wärst du auch sicherlich nicht so überstürzt mit ihm zusammengezogen. Aber er hat sich falsch verhalten und zwar schon viel zu früh. Dieses Geflirte mit anderen Mädchen, seine Unzuverlässigkeit, ständig diese Partytouren, am Ende ist er nachts doch nicht einmal mehr nach Hause gekommen und nie wusstest du, wo und mit wem er sich herumtreibt", zählte Alea auf und versuchte, den Ärger in ihrem Tonfall zu bändigen. Mit wem er's treibt, wohl eher. Wenn Alea sauer war, wurde ihre Stimme höher und ihre Augen verengten sich, obwohl sie sich stark beherrschen konnte. Es fiel also womöglich nicht jedem auf, aber Louisa kannte sie lange genug. Etwas überrumpelt setzte sie sich auf die Bettkante von einem der Stockbetten. Es war typisch für ihre Freundin, den Finger in die Wunde zu legen und wahrscheinlich hatte sie Recht damit. Es tat jedes Mal zunächst höllisch weh und ebbte dann erst allmählich ab. Das Gefühl, das zurückblieb, war nüchterne Klarheit.
„Er hat dich nie zu deinen Eltern begleitet, er ist von Beginn an zweigleisig gefahren. Wer weiß, wie lange er dieses andere Mädchen schon im Blick hatte", fuhr Alea fort. Oder in etwas anderem, das mit B begann. Gedankenverloren strich Louisa über die blütenweiße, faltenfreie Bettdecke. Das andere Mädchen.
„Ich weiß", entgegnete sie nur. Es war gelogen, sie hatte es nicht gewusst.
„Du hattest Recht, in der Wohnung zu bleiben. Er hat die Beziehung aufgegeben, er sollte auch die Wohnung aufgeben." Alea sah sie kurz an und ordnete dann ihre Kleidung in den Schrank an ihrem Bett ein. Louisa beobachtete, mit welcher Sorgfalt sie ihre Oberteile zusammenlegte, obwohl ihr Aufenthalt nur für wenige Tage geplant war. Aleas Ordnung war das komplette Gegenteil des chaotischen Zustandes in Louisas Kopf.
„Vielleicht sollte ich einfach für eine Zeit zurück nach Roseville", sagte sie dann leise.
„Roseville? Zu deinen Eltern?", fragte Alea überrascht und drehte sich vom Schrank weg. Louisa zuckte die Achseln. Roseville war die Heimatstadt der Mädchen. Sie dachte gerne an ihre Kindheit dort zurück, Sorgen oder Probleme schien es in Roseville kaum zu geben. Es war mehr als nur die kalifornische Sonne, die ihre Erinnerungen an Roseville so unbeschreiblich warmhielten. Louisas Eltern hatten ihr Zimmer eingerichtet gelassen, nachdem sie mit Alea zum Studieren nach Sacramento gezogen war. Und ihre Mutter vermisste sie sowieso ungemein.
„Unsinn, wenn Doms Sachen aus der Wohnung erst einmal verschwunden sind, fühlst du dich sicher auch wieder wohler. Aus den Augen, aus dem Sinn." Alea lächelte sie aufmunternd an und Louisa erwiderte ihr Lächeln erstmals. Sie musste einfach Recht haben.
„Scheißdreck, so eine Trennung", murmelte sie und schnickte eine Feder von der Bettdecke. Sie schwebte mit beneidenswerter Leichtigkeit zu Boden.
„Kann ich mir vorstellen, ist ja auch erst einige Wochen her. Ich glaube, dass dich nur sein Auszug jetzt noch einmal umhaut. Wie sagt deine nette Verwandtschaft immer so schön? Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Und jetzt bist du ja erst einmal Detective Breston. Bei San Franciscos Kriminalitätsrate vergisst du alles andere, versprochen. Und ich brauche deine Argusaugen, Tenderloin ist vor der der Haustür. Und du weißt ja, was man über diesen Stadtteil so sagt." Wusste sie das? Alea grinste und schloss dann mit Schwung ihre Schranktür. Sie war ohnehin etwas größer als Louisa und im Sitzen musste diese noch weiter zu ihr hochschauen.
„Du willst nach Tenderloin? Heute noch?", fragte sie verblüfft und stand dann ebenfalls vom Bett auf. Alea zuckte die Achseln.
„Klar, wieso nicht? Es wird langsam dunkel, bald kommen sie sicherlich alle aus ihren Löchern gekrochen und treiben ihr Unwesen." Den letzten Satz betonte sie beinahe bedrohlich. Louisa sah sie belustigt an. Der Gedanke reizte sie. Löcher...und treiben... und hauptsächlich natürlich das Unwesen.
„Stundenhostels, Drogenabhängige, Obdachlose und Dreck... Wieso nicht. Ich erkläre mich bereit zum Dienst, Johnson. Aber wenn du nichts dagegen hast, erkundige ich mich vorher an der Rezeption noch einmal nach einem Stadtplan. Nur für mich natürlich. Falls ich verloren gehe. Dein inneres Navigationssystem führt dich ja von jedem Standort aus zurück ins Hotel." Alea lachte und warf einen Waschlappen nach Louisa, die bereits zur Tür lief.
„Ich weiß, wie man googelt. Stadtplan?! Komm schon, Lou, du kannst ihn eh nicht lesen und wir leben nicht mehr im Jahre 1935. Du hast ein Handy! Poste doch irgendwas oder twittere lieber deinen Aufenthaltsort, das machst du doch so gerne. Hashtag LovelyLou und so!" Alea grinste. Ab und an zog sie Louisa immer noch mit ihrem vor Jahren angelegten und nie benutzten YouTube Channel auf. Louisas Karriere als YouTube Star war leider gescheitert, bevor sie überhaupt ihr erstes Video drehen konnte. Sie hatte ihre Kamera fallen lassen, als Dominic sie an Halloween erschreckt hatte. Er war natürlich nie dafür aufgekommen. Genauso wenig wie für die verdammten letzten Jahre der Beziehung. Jetzt war sie wohl mehr LonelyLou.
„Okay, Al, nur, weil du dich deiner digitalen Demenz beugst, heißt das nicht, dass ich das gleiche Schicksal erleben will. Da stehen manchmal echt gute Tipps drauf!" Wo man am günstigsten einkaufen oder am besten Sushi essen konnte zum Beispiel. Und zumindest hatte sie mit dem Stadtplan schon einmal ein kleines Souvenir. Alea schnaubte.
„Ich und digitale Demenz? Wer hat denn hier Accounts in allen möglichen Netzwerken, ist aktiv auf Facebook, Instagram, tumblr, nutzt Snapchat, ist heimlicher Youtube Freak und liest Geschichten nur noch auf Wattpad?" Touché. Siegessicher sah sie Louisa an, die schlucken musste. Heilige Scheiße, klang das nach viel und das, obwohl sie die Hälfte vergessen hatte. Wer hörte schon gerne, wie süchtig er war?
„Al, ich warne dich. Sag nichts gegen Wattpad! Und hör auf mich zu ärgern, du riskierst unsere Facebook Freundschaft!" Drohend hatte Louisa einen Finger gehoben und grinste Alea an.
„Schon gut, solange du nicht mit deinem Selfie Gedöns in den Ghettos anfängst, lass ich dich in Ruhe deine Sucht ausleben", lachte Alea und hob den Waschlappen wieder auf, den sie zuvor geworfen hatte.
„Ich bin gleich wieder da." Louisa verließ schließlich das Zimmer und stellte erleichtert fest, dass sie spürbar ausgelassener war als noch vor wenigen Momenten. Die Distanz zu ihrem Wohnort verlieh ihr zunehmend ein Gefühl von neuer Hoffnung. Ihre Mutter hatte recht: Mit 21 hatte man schließlich noch alles vor sich.
Das Mädchen an der Rezeption sah überrascht auf, als es Louisa bemerkte.
„Könnte ich vielleicht einen Stadtplan bekommen? Wir sind Touristen hier und würden gerne heute Abend noch ein wenig die Stadt erkunden." Unverzüglich fing sie sich einen irritierten Blick. Jaha, richtig gehört: Stadtplan. Und jaha: man kann auch googeln. Mach Sachen.
„Selbstverständlich." Das Mädchen kramte etwas hervor und übergab Louisa schließlich einen gefalteten Stadtplan, zusammen mit einem weiteren Blatt. Es zeigte das Gesicht eines jungen Mädchens, höchstens Anfang zwanzig, darunter prangte in großen Buchstaben die Aufschrift ‚Helft uns, Ava zu finden'. Was zur Hölle! Erschrocken sah Louisa auf das Foto des Mädchens, das ihr so unbeschwert entgegen lächelte, bevor sie schließlich den Blick losriss und irritiert das Mädchen ihr gegenüber wieder ansah.
„Sie ist vor einigen Wochen schon verschwunden, hier ganz in der Nähe. Wir sind angehalten, all unseren Gästen eines dieser Flugblätter mitzugeben. Alles Weitere steht auf dem Blatt selbst", sagte sie und lächelte immer noch so freundlich wie zuvor. Entweder scherte sie sich nicht um Ava, oder sie tat einen verdammt guten Job, es nicht zu zeigen.
„Weiß man denn schon etwas?", fragte Louisa, den Blick erneut auf das Foto des Mädchens gewandt.
„Ich kann leider keine weiteren Auskünfte geben. Dazu kenne ich mich selbst zu wenig aus", beantwortete sie kurz die Frage und widmete sich dann weiteren Unterlagen. Offensichtlich war es ihr tatsächlich egal. Wow.
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