Vierundfünfzig


Epilog

Es warerschreckend, wie schnell sich alles wenden konnte. Wie schnell Dinge beginnenoder enden konnten, ganz egal, wie intensiv oder vollkommen gleichgültig siewaren. Es spielte keine Rolle, welche Pläne oder Regeln man für sich und seinLeben entwarf, welche Sitten man pflegte oder absolut vernachlässigte, welche Aufgaben man sich zu Pflichten machte, wann, wie lange oder weshalb man es tat.Es war das Schicksal, das entschied. Es war unumgänglich. Und es war nichtimmer fair, aber das konnte es nicht sein.

Noch nie war sie sich darüber im Klaren gewesen, wie sehr das Dunkle siefaszinierte. Es schien so eindeutig undwar doch so unglaublich vielseitig. Sie hatte sich angezogen gefühlt vom Dunklen, von Geheimnissen, Undurchsichtigkeiten und Mysterien. Es hatte sie fasziniert, sich mit jemandem abzugeben, der offenbar einen dunklen Teil insich trägt, der ihn unglaublich stark und gleichzeitig so schwach machte. Und schließlich hatte sie Licht hinein gebracht, es waren nur wenige Augenblicke nötig gewesen, um alles zu verändern. War das Dunkle immer böse? Wieso verunsicherte es die Menschen so? War es nicht schon immer da gewesen? Musste es nicht überall das Dunkle geben, wo es auch das Helle gab? Stand es möglicherweise in Abhängigkeit voneinander? Dunkel und hell. Schwarz und weiß. Gut und böse. Und was war grau?Wer war grau?
Ich verkaufe Mädchen. Ich verkaufe Mädchen. Ich verkaufe Mädchen.
„Louisa?" Sie fuhr zusammen und riss den Blick von Jacobs tiefschwarzem Hemd einige Meter vor sich. Pechschwarz. Noch nie war der Ausdruck so treffend gewesen. Sie drehte den Kopf und sah in das besorgte Gesicht ihrer Mutter, die neben ihr saß. Ihre wunderschönen Augen sahen sie ruhig an.

„Geht es dir gut?", fragte sie nach. Sie sprach leise und doch hatte es gereicht, Louisa vollständig aus ihren Gedanken zu reißen. Sie nickte nur und lächelte ihre Mutter halbherzig an. Es war gelogen. Sie war vielleicht gerade einmal auf dem Weg Richtung okay.

Immer wieder hatte sie es geschafft, das Geschehen im Gerichtssaal um sie herum vollkommen auszublenden und war in Gedanken versunken. Mehrere Verhandlungstage hatte sie somit überstehen können, in denen Details ans Licht kamen, die sie niemals wissen wollte. Über Jacob, sie, Ava und die anderen Mädchen. Diesmal sollte es der letzte Verhandlungstag sein. Sie sah wieder nach vorne und spürte, dass ihre Mutter sie noch eine Zeit lang beobachtete. Sie konnte es ihr nicht verübeln. Hals über Kopf waren ihre Eltern nach San Francisco gereist,als sie erfahren hatten, was passiert war. Als das halbe Land erfahren hatte,was passiert war. Sie waren bei ihr gewesen, als sie im Krankenhaus wieder zusich kam. Nur ihre Eltern. Aus den Augenwinkeln schielte sie zu ihrem Vater neben ihrer Mutter. Sein Gesicht war angespannt, verhärtet, akribisch verfolgte er jedes Wort der Verhandlung, wie schon alle Verhandlungstage zuvor. Er wirkte älter als sonst. Es tat ihr Leid,dass ihre Eltern so aufgebracht waren, so besorgt um sie und gleichzeitig war sie unendlich dankbar, sie bei sich zu haben. Vorsichtig sah sie wieder nach vorne. Die Kopfbewegungen verursachten noch immer ein Pochen im Kopf, die Folgen der schweren Gehirnerschütterung hatte sie noch nicht vollständig wieder auskuriert. Jacob hatte Recht gehabt mit seiner Diagnose im Container. Flüchtig drückte sie die große und warme Hand ihres Bruders neben sich, die auf ihrem Schoß lag. Es war keine leichte Zeit gewesen und sie hatte ihre Familie so intensiv gebraucht wie noch nie. Nur Schritt für Schritt konnte sie sich mit den Ereignissen auseinandersetzen, die Erinnerungen zulassen, darüber sprechen.Sie hatte das Bewusstsein verloren, nachdem Polizisten die Lagerhalle gestürmt hatten. Taylor und Alea hatten sie informiert, sobald sie eine Vermutung hatten, wo Louisa und Jacob sich aufhielten. Lediglich einen der Hintermänner hatten sie festnehmen können, aber noch in Untersuchungshaft hatte er sich das Leben genommen. Möglicherweise hatte er Angst vor der Reaktion des Bosses gehabt. Er war verschwunden.Abgetaucht und unauffindbar. Manchmal stand er nachts vor Louisas Bett oder saß auf der Rückbank ihres Autos, bevor sie schweißgebadet aus dem Schlaf fuhr. Es waren furchtbare Albträume, die sie zeitweise plagten. Wenn sie sich konzentrierte, roch sie noch immer seinen schlechten Atem.

Es glich einem Wunder, dass sie alle noch lebten. Louisa wusste, dass sie alleine Alea und Taylor dafür zu danken hatte. Sie waren beide mit dem Schrecken davongekommen. Jacob, das hatte sie von ihren Eltern erfahren, wurde im gleichen Krankenhaus wie sie behandelt. Seine Schusswunde am Bein musste operiert werden, bevor sie ihn ebenfalls festnahmen und schließlich anklagten. Gesehen hatten sie sich dennoch nicht. Insgeheim, das wusste sie, hatte er sich nicht in ihre Nähe und ihr bewachtes Krankenbett getraut. Er gab sich die Schuld für alles. So, wie Alea es auch tat. Und ein Großteil Louisas Familie. Und die Familien der verschwundenen Mädchen. Avas Eltern. Und der Staat Kalifornien.Und auch, wenn es möglicherweise so war, hatte doch so viel mehr zu allem beigetragen als bloß sein Handeln. Sie hatte sich in den einsamen und langen Nächten im Krankenhaus oft mit dem Gedanken getröstet, dass er sich im gleichen Gebäude wie sie befand, möglicherweise sogar ganz nah. Ob es all die Zeit tatsächlich so war, wusste sie nicht. Es war unmöglich zu verstehen, woher sie das Vertrauen in ihn nahm. Weshalb sie nach wie vor zu ihm hielt, Mitleid empfand, an seine Unschuld glaubte, sofern man überhaupt von Unschuld sprechen konnte. Niemand in ihrem Umfeld konnte wirklich nachvollziehen, woher ihre gute Meinung über ihn kam. Alle sahen sie in ihm die Person, die Louisa verkaufen wollte, als ein Objekt, wie alle anderen Mädchen, sie der Prostitution ausliefern und anschließend wegwerfen lassen wollte. Dass dies nicht geschehen war, erklärte sich für die meisten nur durch unverschämtes Glück. Aber was sie alle nicht verstanden war, dass er sich zuerst verkauft hatte. Seine Freiheit, seine Träume, seine Zukunft. Sein Leben. Sie wusste, dass ihre Mutter wirklich versucht hatte, sie zu verstehen.Stundenlang hatten sie gesprochen, sie hatte Louisa erzählen lassen und ihre Emotionen zurück genommen. Sie wusste von der Nacht im Club, der Vertrautheit zwischen ihr und Jacob, dem Sex, der Zärtlichkeit, seiner tiefen Verwundung,die ihn in seine Lage gebracht hatte, seiner Ahnungslosigkeit über das Schicksal der Mädchen und schließlich den Rauswurf aus dem Auto, als letzten Versuch, Louisa nicht tatenlos ins Messer laufen zu lassen. Aber als ihre Mutter erfahren hatte, dass Jacob im Besitz einer Waffe, falscher Pässe und einem Zimmer voller Fotos von ihr war, endete ihr Verständnis, ganz gleich, wie positiv Louisa über ihn sprach. Und zugegeben: Diese Tatsachen hatten sie selbst zutiefst getroffen. Sie konnte die Einstellung ihrer Familie durchaus nachvollziehen. Sie hätten beinahe ihre Tochter verloren. Aber sie hatten Jacob nie erlebt. Unmöglich konnten sie wissen, wie er wirklich war. Und manchmal, vor allem nachts, hatte sie Angst, es selbst nicht zu wissen. Angst, dass ihr tiefes Vertrauen falsch war, ausgenutzt wurde, dass sie sich eigentlich doch gar nicht kannten und sie sich für ihn viel zu weit aus dem Fenster lehnte. Es war die Angst, ihr Herz an jemanden zu verlieren, der möglicherweise auch drauftreten würde, wenn es ihm verhalf, der Situation zu entkommen. Nein. Nicht er. Sie schluckte, als ihre Augen vom Richter wieder zu Jacob schweiften.

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