Sechsunddreißig

„Weißt du...", fing sie an und riss den Blick schließlich von seiner Brust, um in seine Augen zu schauen. Ihre Stimme klang rau. Sie hatte ihn offenbar ebenfalls aus Gedanken gerissen.

„Erzähl." Er lächelte vage und zog sein Hemd über ihren Schultern zurecht, als könne es sie auch nur im Ansatz warm halten. Aber es war eine liebevolle Geste, die er tat. Die Kälte hatte ihren gesamten Körper in Besitz genommen, aber immerhin zitterte sie nicht mehr.

„Ich finde, dass wir zu jung sind, um über den Tod nachzudenken." Sie stoppte kurz und spürte seinen Blick auf sich ruhen. Mit 21 hatte man noch alles vor sich. Und Mütter hatten immer Recht. Sie versuchte, die Angst herunterzuschlucken und war überrascht, dass es ihr mit einem Male gelang.

„Wir zwei, wir sollten... leben." Es waren seine Worte, die sie wiederholte. Sie passten immer noch, vielleicht sogar besser als je zuvor. Für einen Moment bemerkte sie, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Dann nahm er augenblicklich ihr Gesicht in seine Hände und antwortete mit einem Kuss. Nur noch vage spürte sie, wie sein Hemd, das über ihren Schultern lag, zu Boden fiel, dann hatte er sie bereits vorsichtig an eine Wand im Container gedrückt. Ihr Körper war so steif, dass sie die Wand beinahe warm an ihrem Rücken spürte. Es waren Schmerz und Verzweiflung, die aus dem Kuss hervorgingen. Angst, die sich in Leidenschaft verwandelte. Vertrautheit, die aus dem gemeinsamen Schicksal entstand.

Niemand von beiden wusste, wie oft sie überhaupt noch die Gelegenheit haben würden, zu fühlen. Dumpf spürte sie das Pochen an ihrer Stirn. Mit einem Mal war ihr jeglicher Schmerz egal. Er machte ihr bewusst, wie lebendig sie war. Sie schob ihre Hände auf Jacobs Schultern und drückte vorsichtig ihre Fingernägel in seine harten Muskeln. Deutlich konnte sie ihn spüren, riechen, schmecken. Sein Duft und seine Kraft berauschten sie. Er war bei ihr, bis zum Schluss. Er war hier.

„Versprich mir...", flüsterte sie zwischen seinen Küssen.
„...dass du dir sofort einen neuen Job suchst." Sie spürte, wie er in den Kuss lächelte.

„Versprochen." Er schob seine Arme fester um ihre Taille, sie konnte schwer sagen, ob es bereits schmerzte, aber es war egal, solange er sie festhielt. Solange sie das Leben spürte. Sie waren gefangen in einem abgelegenen Hafencontainer, in einer Metropole, in der sie niemand so schnell finden würde. Und womöglich waren sie beide zum Tode verurteilt. Aber sie wollte nicht weinen, sie sträubte sich gegen Angst und Verzweiflung. Alles in ihr sog den Moment auf.

Es war das unsanfte Zuschlagen einer Autotür außerhalb des Containers, das sie noch während des Kusses die Augen wieder öffnen ließ. Auch Jacob hatte sich plötzlich von ihr gelöst, viel zu plötzlich, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt verharrt. Ein besorgter Ausdruck lag in seinen Augen, viel zu lange sah er sie einfach nur an. Sie erwiderte seinen Blick, der Ausdruck seiner braunen Augen hatte etwas Liebevolles und dennoch war er verzweifelt, beinahe erkannte sie in seinem Blick die stumme Bitte um Verzeihung. Dachten sie gerade dasselbe? War es das gewesen? Wer war draußen aus dem Auto gestiegen? Er? Der Tod? Die Stille um sie herum war nun so unerträglich, dass Louisa die Luft anhielt. Hatte sie sich die Autotür nur eingebildet? Aber was hatte Jacob dann gehört? Mit flachem Atem schielte sie zur Containertür, ohne dabei den Kopf zu bewegen. Nirgends waren Schatten zu erkennen oder Stimmen zu hören. Einbildung? Möglicherweise hatte ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt.

Heftig fuhr sie zusammen, als von außen gegen die Containerwand geschlagen wurde. Keine Einbildung. Gütiger Gott. Ihr Herz hatte ein, zwei, vielleicht auch drei Schläge ausgesetzt. Noch immer hatte Jacob ihr Gesicht in seinen Händen. Sein Blick war ruhig, offenbar hatte er sich kaum erschreckt. Um sie herum war es nun wieder totenstill, von außen waren keinerlei Geräusche mehr zu hören. Weshalb war Jacob so ruhig? Was ging in ihm vor? Flüchtig fuhr er mit zwei Fingern die Konturen ihrer Lippen nach, seine Finger waren warm und ruhig.

„Hast du Angst?", fragte er leise. Es war kaum mehr als ein Flüstern. Hatte sie Angst? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie vor Schreck erneut die Luft angehalten hatte. Nein. Es war keine Angst. Es waren Trance, Schreck und Ungläubigkeit, die sie spürte. Entsetzen.

„Wer den Tod fürchtet, hat das Leben längst verloren", hauchte sie dann und starrte auf seine Lippen, die sich kaum merklich zu einem Lächeln verzogen. Wäre er ihr nicht so unglaublich nah, hätte sie keine Regung erkennen können. Erst jetzt sah sie wieder in seine warmen Augen. Ihre Knie hatten erneut zu zittern begonnen, oder waren sie weich? Beinahe in Zeitlupe fuhren seine Finger von ihren Lippen über ihre Wange, bis er ihr schließlich eine Strähne hinter das Ohr strich. Nur leicht spürte sie seine Berührungen, immer noch war ihr Körper starr vor Kälte. Taub.

„Wenn wir hier raus sind, Lou, dann lade ich dich zum Sushi ein. Oder auf eine Pizza oder gleich beides. Ich beweise dir, wie atemberaubend diese Stadt ist. Und welche wunderbaren Menschen dort wohnen. Ich nehme dich mit zu meiner Familie, zu meinen Freunden. Ich zeige dir, wie man Football spielt, eine Bierflasche mit einem Feuerzeug öffnet oder richtig eine Straße überquert, ich führe dich aus und lade dich ein, wir gehen einkaufen, essen, spazieren, ins Kino, wir klettern auf jedes Dach dieser Stadt, können im Fairmont übernachten oder am Strand, nur... du und ich. Und ein Stückchen Zukunft." Er hatte sie keine Sekunde aus den Augen gelassen, während er sprach. Zukunft. Das erste Mal überhaupt erkannte sie einen Funken Hoffnung in seiner Stimme und in seinem Blick aufblitzen. Er sprach von Zukunft. Offenbar glaubte er, was er sagte.

Das wollte sie auch. Mit 21 hatte man noch alles vor sich. Die Worte ihrer Mutter hatten sich ein für alle Mal in ihren Kopf eingebrannt, nie wieder würde sie sie loswerden. Zärtlich hatte Jacob seine Hand an ihre Wange gelegt. Immer noch sah er sie an und war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Sein Blick war liebevoll und dennoch beunruhigte er sie. War es die Bitte um Verzeihung für die Lage, in der er beide gebracht hatte? War es... Abschied?

„Vertraust du mir?", fragte er dann, bevor sie seine Worte überhaupt alle durchdacht hatte. Zukunft. Sie würden einfach die Zeit zusammen genießen, wenn alles vorbei war. Ganz gleich, wo. Er müsste für sie kochen, während sie für ihre Abschlussarbeit büffelte, sie würde ihn begleiten zu Vorstellungsgesprächen, sie würden gemeinsam die Vergangenheit abschließen und etwas Neues beginnen. Neuanfang. Die Situation, in der sie sich befanden, wäre bald nicht mehr als ein Drehpunkt ihrer beider Leben. Ein Wendepunkt, der längst überfällig war und das Vergangene Schachmatt setzte. Ja. Ja! Ja, Jacob.

„Ich vertraue dir." Dann drehte sich ein Schlüssel in der Tür.

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