Eins
„Das war ganz klar rot", sagte Louisa, wandte den Blick von der vorbeirasenden Verkehrsampel ab und sah über den Rand ihrer Sonnenbrille zu Alea hinter dem Steuer, die nun langsam wieder vom Gaspedal ging. Das Auto überquerte viel zu schnell eine große Kreuzung und wurde dann vom zunehmenden Stadtverkehr wieder ausgebremst. Überrascht drehte Louisas Freundin den Kopf in ihre Richtung.
„Ach, wieder wach? Hat ja einige Kilometer gedauert. Und das war nicht rot, das war dunkelgelb." Sie sah Louisa mit hochgezogenen Brauen an, bevor sie den Blick zurück auf die Hauptstraße richtete, die von der Rush Hour eingenommen war. Jaja. Dunkelgelb... Louisa schob sich die Sonnenbrille ins blonde Haar und seufzte.
„Was soll man auch verpassen, auf einer Autofahrt von Sacramento nach San Francisco." Etliche Male war sie die Strecke zuvor bereits mit ihren Eltern gefahren, wobei die knappen zwei Stunden Autofahrt, eineinhalb wenn ihr Vater fuhr, üblicherweise mit intellektuellen, literarisch hochwertigen Hörbüchern gefüllt wurden. Nur einmal war es ihr gelungen, das Biss zum Morgengrauen Hörbuch durchzusetzen, das allerdings nach heftigstem Protest und knappen zehn Minuten wieder auf ihrem Schoß lag. Es war aus der Hörbuchsammlung ihrer Eltern geflogen, bevor Edward überhaupt zubeißen konnte. Das Einschlafen gehörte also gewissermaßen zur Strecke.
Sie richtete den Blick aus dem Beifahrerfenster und beobachtete abwesend die vorüberziehenden Gebäude, die ihr allesamt gleich vorkamen. Unspektakulär. Eintönig. Nicht einmal für den goldgelben Sonnenuntergang über der Stadt konnte sie sich begeistern. Es war nur ein weiterer Tag danach, der sich allmählich dem Ende neigte. Flüchtig massierte sie sich die Schläfen und den verspannten Nacken und versuchte sich vom Gedudel der iTunes Chartshow im Autoradio ablenken zu lassen. Vergeblich. Viel zu voll war ihr Kopf mit Gedanken an ihre gerade zerbrochene Beziehung. Die Wahrheit lag ihr immer noch unverdaut im Magen. Ich habe seit einiger Zeit eine Andere, Louisa. Das mit uns wurde mir zu langweilig. Innerlich stellte sie sich bereits seit den ersten Metern im Auto die Frage, ob ihr Aufenthalt in einer ausgelassenen Stadt wie San Francisco wohl gerade angebracht war. Oder war er möglicherweise noch nie so angebracht gewesen wie jetzt? Alea drehte dankenswerterweise die Musik leiser, als irgendeine Sängerin jaulend ihren Herzschmerz kundgab. Louisa seufzte nur. Davon konnte sie auch ein Lied singen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Freundin sah schließlich zu ihr, als hätte sie ganz Edward-like ihre Gedanken laut mitgehört. Oh nein. Bitte keine Fragen mehr zu dem Thema! Bitte.
„Hey, immer noch so schlimm, der Liebeskummer?", fragte sie vorsichtig. Oh man. Danke.
Louisa zögerte einen Moment und nahm die Hände von ihren Schläfen, aber es war sinnlos. Sowohl die Gedanken wegzumassieren als auch Aleas Frage auszuweichen. Sie würde sie, die Worte in anderer Reihenfolge, sonst nur noch einmal stellen. Der Liebeskummer immer noch so schlimm, hey?
„Es ist schon okay. Vielleicht war es eine gute Idee, mich mit nach San Francisco zu nehmen und ein wenig für deine Abschlussarbeit zu forschen", erwiderte sie und sah wieder aus dem Fenster. Vielleicht. Hoffentlich. Es dämmerte bereits und die Straßen waren voller Menschen, die womöglich auf dem Heimweg von der Arbeit waren, auf dem Weg ins Restaurant oder zu Freunden, vielleicht als Touristen im Urlaub oder einfach unterwegs in den Feierabend. Es war das Leben, das sich auf der Straße zeigte. Etwas, das sie schon immer an San Francisco geliebt hatte. Und doch hatte sie sich nur widerwillig überreden lassen, Alea bei ihren Vorbereitungen für ihre Abschlussarbeit zu unterstützen. Trauer und Selbstmitleid hatten sie viel zu lange in der Wohnung in Sacramento gehalten, Schwankungen zwischen Selbstvorwürfen, Scham und Zorn hatten dazu geführt, dass ihre Freunde nur noch über ihren Whatsappstatus erahnen konnten, dass sie überhaupt noch am Leben war. Von ‚beschäftigt' zu ‚verfügbar' hatte sie ihn gelegentlich gewechselt und wieder zurück, beides war sie trotzdem nicht gewesen. Nur eine positive Sache hatte die Zeit mit sich gebracht: Sie wusste nun, dass man sich mittlerweile sogar Eiscreme liefern lassen konnte. Während ihr Ex Freund also hoffentlich seine sieben Sachen zusammenpacken und endlich die gemeinsame Wohnung in Sacramento verlassen sollte, die er ohnehin nur noch betreten hatte, um sich verdammte frische Unterwäsche zu holen, würde sie in San Franciscos Ghettos nach Ursachen für Kriminalität forschen. Und mal Butter bei die Fische: Vor fremden Haustüren ließ es sich ohnehin immer besser kehren. Sie nahm den Blick nun endlich von den eintönigen Gebäuden der Hauptstraße und versuchte, alle negativen Gedanken beiseite zu schieben.
„Wenn wir in einigen Tagen nach Sacramento zurückkommen, ist Dominic aus eurer Wohnung ausgezogen, wirst schon sehen. Und es wird viel leichter werden, wenn du nicht mehr jeden Tag mit seinem Kram konfrontiert bist." Kram ergo Unterwäsche. Alea hielt den Wagen an einer Ampel und setzte den Blinker. Dein Wort in Gottes Ohr, Al. Es war eindeutig Zeit für einen 180° Themenwechsel.
„Du hast Recht. Sind wir bald da?", fragte Louisa etwas angespannt und band sich das Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Wie immer, wenn irgendetwas sie aufwühlte. Eine lästige Angewohnheit und eigentlich nichts anderes als eine elf sekündige Beschäftigungstherapie. Sie hatte keine Ahnung, was sie die nächsten Tage in der Großstadt erwarten würde. Sie hoffte nur, es waren keine Gangduschen.
„Es dauert keine fünf Minuten mehr. Ich kann dich rausschmeißen und alleine einen Parkplatz suchen, wenn du magst." Louisa überlegte einen Moment. Deal.
„Mach das, ich gehe dann schon mal vor und check die Lage." Und Whatsapp und Facebook. Sie sah zu Alea hinüber, die sich eine braune Strähne aus dem Gesicht pustete.
„Du meinst, ob es Gangduschen gibt und das Bad abschließbar ist?" Sie grinste. Edward Cullen war ein verfluchter Witz gegen sie.
„Mach du nur deine Witze, Al."
„Ich hab mal mit dir zusammen gewohnt, auch, wenn es nur einige Monate waren. Ich weiß, was zu deinen schlimmsten Ängsten gehört", schmunzelte sie. Es stimmte. Nur ihren wöchentlichen veganen, gluten-, lactose- und nahezu geschmacksfreien Spinatauflauf hatte sie offenbar nie dazu gezählt.
Fast zeitgleich fuhr sie an den Bordstein einer Hauptstraße und hielt ziemlich abrupt den Wagen. Huch? Sie hatte Glück, dass er ihr nicht abgeschmiert war.
"Here we go." Sie schaltete den Motor ab und sah Louisa erwartungsvoll an, die aus dem Fenster auf das Gebäude an der Hauptstraße sah. Oh...kay.
„Sieht...nett aus, " erwiderte sie und versuchte ihre Enttäuschung nicht zu sehr zu zeigen. Das Hostel, das Alea für ihren Aufenthalt gebucht hatte, stach mit seiner grünen Farbe aus den umstehenden Häuserblocks geradezu heraus. Das Gebäude war zwar im für San Francisco typisch viktorianischen Stil, wirkte jedoch von nahem eher ein wenig heruntergekommen. Es hatte eindeutig seine besten Tage bereits hinter sich. Die Farbe tat ihr übriges, worüber auch die winzigen Erker, die sich an der kompletten Fassade hochzogen, nicht hinwegtäuschen konnten. Es war einfach gehalten. Einfach...heruntergekommen.
„Was hast du erwartet? Das Fairmont?", fragte Alea, der Louisas verhaltene Reaktion nicht entgangen war. Gute Frage. Was hatte sie erwartet?
„Nein, natürlich nicht. Das Hotel wirkt nur so..." Trostlos? Alt?
„...grün."
„Grün, wie die Hoffnung, meine Liebe", verkündete Alea zufrieden. Grün wie... Spinat. Louisa zuckte seufzend mit den Achseln und öffnete die Autotür. Sofort schlug ihnen der Lärm der vorbeifahrenden Autos entgegen, gepaart mit dem Stimmengewirr der Menschen, die auf dem Bürgersteig auf- und abgingen. In der Ferne waren vereinzelt hupende Autos zu hören. Wow. Die Stadt strotzte vor Leben. Es war großartig.
„Ich habe ziemlich praktisch gedacht. Wir haben hier alles vor der Haustür und ich hab es nicht weit zum Forschen in die berüchtigten Ecken San Franciscos. Du weißt ja, ich bin ein wenig spät dran mit meiner Abschlussarbeit. Der Abgabetermin ist in weniger als zwei Monaten. Und ich hoffe doch sehr, dass ich mein Studium dann in der Tasche habe. Da zählt jetzt jede Minute", erklärte Alea unaufgefordert und kratzte bereits etwas Kleingeld aus dem Münzbehälter zusammen, während Louisa sie beobachtete. Was, zwei Monate? Lecko mio, sie sollte sich langsam ein Thema überlegen.
„Jetzt sind wir ja hier und ich wette, du wirst hier auf großen Erfolg stoßen", murmelte sie dann und griff nach ihrer Tasche im Fußraum. Es kam eben einfach auf die Definition von Erfolg an. Das war die einfachste Grundregel im gesamten Leben. Im Grunde konnte man bereits von Erfolg sprechen, wenn jemand seit Wochen das erste Mal wieder unter Leute ging oder Dirty Dancing bei der dreizehnten Wiederholung schauen konnte, ohne vor Selbstmitleid erneut in Tränen auszubrechen. Mein Baby gehört zu mir. Von der Seite bemerkte sie Aleas ungeduldigen Blick in den Rückspiegel. Oh. Sie war wohl eher im Modus Fast & Furious.
„Ich will nicht unhöflich sein, Lou, aber das hier ist die Post Street. Ich kann nicht lange hier stehen bleiben."
„Ist gut." Louisa lächelte sie flüchtig an, stieg dann aus dem Wagen und schloss die Autotür.
„711 Post Street", murmelte sie und sah erneut an der Gebäudewand hoch, während sie sich die Henkel ihrer Tasche über die Schultern streifte. Die Aufschrift ‚usa hostels' prangte auf der roten Markise und wurde von der untergehenden Sonne beleuchtet. Louisa fror dennoch ein wenig und rieb sich über die Arme, die nur von einem dünnen Jäckchen bedeckt waren. Es war kühl, aber das war es nun einmal im März, vor allem in diesem Teil Kaliforniens. Eine Weile lauschte sie dem regelmäßigen Verkehrslärm der belebten Straße neben sich, erst, als sie ihre eigene Abwesenheit bemerkte, lief sie die dunklen Stufen des Hostels hoch.
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