Dreiundzwanzig

„Hast du aufgeschrieben, wann du ihn vor dem Hostel gesehen hast?", fragte Taylor und reichte Alea dann den Stift, ohne sich zu bewegen.

„Hab ich." Sie stand auf und sah über die Massen an Zetteln auf dem Boden des Zimmers. Jeden Hinweis und jede Erinnerung hatten sie notiert und versucht, in eine Reihenfolge zu bringen. Sie stieg über die leeren Pizzakartons und brachte den Zettel schließlich an der mittlerweile gut beklebten Wand an.

„Wahnsinn", murmelte sie und blickte dann über die gesamte Wand.

„Es ist wichtig, dass wir uns einen Gesamtüberblick verschaffen. Jedes noch so unscheinbar wirkende Detail kann am Ende die Lösung zu irgendwas sein. Es muss sogar die Lösung sein." Taylor sah ebenfalls über die Wand und Alea drehte sich zu ihm. Sie war erschöpft und fühlte sich müde. Unmöglich konnte sie einschätzen, wie spät es war, sicherlich würde es bald schon wieder hell werden. Seufzend sah sie zurück an die Wand.
„Meinst du, sie kommt zurück hier her? Einfach... so?", fragte sie dann gedankenverloren und sah über die Zettel.

 „Ich kann es dir nicht sagen. Wenn ich von meiner Erfahrung mit Jake spreche, dann will ich dir lieber nichts versprechen. Tagelang, wochenlang, monatelang dachte ich jeden Tag, dass er zurückkommt. Einfach wieder da ist. Dass wir wieder einen drauf machen, Football spielen, grillen gehen, Musik hören oder einfach im Garten chillen. Als wäre nichts geschehen. Aber er war weg. Und ist weg geblieben. Bis heute kann ich das nicht verstehen, nicht einmal im Ansatz. Er hätte mit mir reden können, mit Mum und Dad, mit jedem. Er hätte Geld bekommen, Ratschläge, Schutz, je nachdem, was er benötigt hätte. Niemals hätte er sich für irgendetwas schämen müssen. Aber er hat sich für einen anderen Weg entschieden, warum auch immer. Er wollte ihn alleine gehen." Taylor starrte nachdenklich auf die Zettel, in denen er saß. Alea blieb zur Wand gedreht. Seine Erzählungen rührten sie, aber sie wehrte sich, ein versöhnlicheres Bild von Jacob zu entwickeln. Was er auch erlebt hatte und was ihm zugestoßen war, er entzog ihr ihre Freundin. Sie war überzeugt davon, dass er sie von Beginn an trennen wollte, dass er alles daran gesetzt hat, Louisa alleine anzutreffen. Aleas Misstrauen zu wecken, es gegen sie zu verwenden und Louisa dadurch für sich zu gewinnen. Aber warum?

„Denkst du denn, dass Louisa einfach durchbrennen würde?", fragte Taylor in die Stille. Jetzt drehte Alea sich zu ihm.
„Nein, da bin ich ziemlich sicher. Lou ist ein Nestkind. Sie hatte schon auf der Autofahrt Heimweh. Ich musste sie überreden, mitzukommen, sie hat eine hässliche Trennung hinter sich. Niemals würde sie sich darauf einlassen, einfach abzuhauen, den Kontakt zu allen abzubrechen. Weshalb auch? Sie kennt Jacob nicht." Alea zuckte die Achseln. Zumindest nicht richtig.
„Ich sehe, wie sehr du dich um sie sorgst", sagte Taylor und ließ den Blick auf ihr ruhen.
„Das tu ich. Manchmal denke ich, dass sie nicht richtig auf sich selbst aufpassen kann. Auch, wenn sie mir das um die Ohren knallen würde." Sie musste schmunzeln und sah, dass Taylor ebenfalls lächelte.

„Lou glaubt an das Gute im Menschen und in der Welt. Ihre Eltern haben ihr das geschenkt. Sie... ist ein gutes Mädchen." Alea presste kurz die Lippen aufeinander und sah wieder zur Wand.

„Mag sie Jacob?", hörte sie Taylor. Wahrscheinlich viel zu sehr.
„Ich weiß nicht", seufzte Alea und schloss kurz die Augen.
„Irgendwie bestimmt. Zumindest lenkt er sie ab. Er sieht sie mit anderen Augen als alle anderen in letzter Zeit. Viele haben sich Sorgen um sie gemacht, nachdem sie verlassen wurde. Das hat sie gestört. Bei Jacob fühlt sie sich normal und nicht als die Verlassene. Zumindest waren das ihre Worte während unseres Streits." Der verdammte Streit.
„Mach dir nicht so viele Gedanken über diese Diskussion, ich bin mir sicher, dass sie nicht böse auf dich ist. Oder sie ist natürlich genau deswegen abgehauen", versuchte Taylor sie aufzumuntern. Nicht lustig!

„Ich hoffe nur wirklich, dass Jacob ihr diese Muttergeschichte nicht erzählt hat. Wenn sie von seinem Schicksal weiß, denkt sie bestimmt, sie muss jetzt seine Welt retten. Dann ist sie nicht mehr in der Lage, rational über Dinge nachzudenken. Nur noch emotional." Oder sie hatte ihm bereits die Vollmacht für all ihre Konten ausgestellt. Alea sah ihn wieder an. Er hatte sich in den Papiermassen immer noch nicht bewegt.
„Das glaube ich nicht. Jake redet nie viel über sich. Er ist nach außen ein Charmebolzen, man kann Pferde mit ihm stehlen und alles, aber wenn es um Privates geht, macht er zu. Ich habe ihn seltenst über sich sprechen hören. Man muss ihn schon knacken, damit er einen an sich heran lässt." Taylor zuckte die Achseln. Konnte er das denn nicht nachvollziehen? Offenbar war Taylor ähnlich behütet aufgewachsen wie Louisa. Ohne Probleme oder Sorgen. Sie lief wieder zurück, stieg erneut über die Kartons und setzte sich schließlich auf ihr Bett. Die Knie zog sie an ihre Brust.

„Wie wollen wir nun weitermachen? Mir fällt absolut nichts mehr ein, was noch fehlt an dieser Wand", sagte sie und rieb sich müde über die Schläfen. Mittlerweile hatte sie sogar leichte Kopfschmerzen. Taylor kaute flüchtig auf seiner Unterlippe herum und erhob sich dann vom Boden.

„Ich fürchte, wir müssen... uns etwas widmen, das nicht ganz so angenehm sein könnte." Au weia. Sie sah nervös zu ihm auf.
„Falls wir in einigen Stunden immer noch nichts gehört haben, schalte ich meinen Dad ein. Bis dahin sollten wir ungefähr wissen, was Louisa anhat. Was sie vielleicht bei sich trägt." Er sah sie vorsichtig an. Erschrocken wollte Alea schlucken und spürte einen dicken Kloß im Hals. Was wollte er denn damit sagen?

„Ich musste früher gehen, ich hatte den Interviewtermin mit deinem Dad am Morgen, sie hat noch geschlafen. Das letzte, was ich an ihr gesehen habe, war das schwarze Partykleid", stieß sie hervor und ließ dann den Blick durchs Zimmer schweifen.

„Viel an Kleidung kann sie ja nicht mit haben. Euer Aufenthalt hier war doch nur für einige Tage geplant oder? Weißt du ungefähr, was sie dabei hat?" Taylor lief auf einen der Schränke zu.
„Ungefähr, ja. Kann das nicht noch warten? Das klingt so... ernst. Wieso überlegen wir nicht erst einmal, wo Jacob sein könnte? Bestimmt ist sie bei ihm. Und er hat irgendwo in seinem scheiß Handy meine Nummer gespeichert. Es könnte so einfach sein!" Verzweifelt sah sie zu Taylor.
„Wie wär's, wenn du mir erst einmal ein paar Fotos von deiner Freundin zeigst? Einfach... so? Ich kenne Jake, ich kenne dich, du kennst Jake und mich, Jake kennt uns auch alle. Nur Louisa und ich wurden uns noch nicht vorgestellt." Er lächelte sie aufmunternd an und setzte sich dann neben sie aufs Bett. Sie musste selbst im Sitzen noch zu ihm aufschauen. Himmelherrgott, war er groß.

„Klar." Sie zog ihr Handy zu sich und öffnete die Galerie.
„Das hier ist das letzte Foto von ihr, das ist vielleicht eine Woche her. Wir waren in ihrer Wohnung und haben versucht, Sushi selbst zu machen." Alea sah lächelnd auf das Foto und schob Taylor ihr Handy zu.
„Oh, den Reis kann ich sehen, den Fisch auch. Und das zwischendrin ist sie?", witzelte er und Alea musste grinsen.
„Das letzte Mal, als ich Jake gesehen habe, haben wir versucht, zusammen Kuchen zu backen für den Geburtstag meiner Mum. Etwas derart Ekelhaftes haben wir alle noch nie gegessen. Sie hat sich trotzdem gefreut. Sie hat es versucht", erzählte er dann amüsiert. Sie stellte ihr Kinn auf ihre Knie und beobachtete ihn lächelnd.
„Ihr steht euch alle sehr nahe, oder? Ich gebe es ja wirklich nur ungern zu, aber du hattest Recht mit dem Foto im Büro deines Vaters. Ich war nur so erschrocken, dass Jacob darauf war. Das stand für mich in keinem Zusammenhang, verstehst du?" Jetzt lachte er.
„Klar fällt mir sowas auf. Es hing nur ein klein wenig schief, aber du warst eben alleine im Raum." Er grinste sie an.
„Es ist ein schönes Foto. Es wirkte sehr harmonisch."

„Es wirkte nicht nur so. Wir sind ein Team. Das Foto ist im Jackson State Forest entstanden, das ist gar nicht so weit von hier. Aber weit genug, um für ein paar Tage im Sommer einfach abzuschalten. Wir waren früher häufiger dort, alle zusammen. Hin und wieder waren Mum und Dad auch alleine mal dort, in den letzten Jahren ist es seltener geworden. Aber auch nur, weil Jake am College war und ich in der Ausbildung. Es war nahezu unmöglich, ein paar Tage im Jahr zu finden, die wir alle frei haben. Aber ich denke gerne daran zurück. Die Tage waren irgendwie endlos. Man ist dort absolut für sich und abgetrennt von allem anderen", erzählte er. Alea musste lächeln.

„Jacob muss das so sehr genossen haben mit euch. Mit einer glücklichen Familie, die hinter ihm steht", sagte sie nachdenklich und betrachtete das Foto vor ihrem geistigen Auge erneut.

„Ja, das hat er. Er hat die Natur genossen. Und die Einsamkeit. Die Abgeschiedenheit. Kein einziges Problem konnte ihn dort erreichen." Alea nickte gedankenverloren. Wahrscheinlich hatten Taylors Eltern ihm ein neues Zuhause bieten können. Möglicherweise das erste, das er überhaupt hatte. Jahrelang hatte Aleas Mutter das Gleiche versucht. Es war ihr nur teilweise gelungen. Immer wieder war Alea geflohen, auf Lichtungen, ins Freie, weg von ihrem Elternhaus, mit Büchern, Notizblöcken oder einfach nur ihren Gedanken. Einsamkeit. Abgeschiedenheit. Es waren Moment, die nur ihr und ihrer heilen Erinnerung gehörten. Orte, an denen sie nicht erreichbar war, für niemanden, außer für Träume oder ihre Bücher. Erzählt hatte sie davon nie jemandem, nur die wenigsten würden sie überhaupt verstehen. Möglicherweise hätte Jacob zu einen der wenigen gehört. Sie spürte, wie ihr mit einem Mal schwindelig wurde. Es war so verdammt einfach.

„Da ist er", murmelte Taylor zeitgleich und Alea sah ihn fassungslos an.

„Da muss er sein", bestätigte sie und war mit einem Mal hellwach.
„Ich weiß es. Ich hätte es all die Zeit wissen müssen. Er ist zu Hause." Taylor war aufgestanden und lief bereits auf seine Jacke zu. Alea brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, bevor sie wieder zu ihm aufsah. Kaum vernehmlich zuckten seine Augenwinkel.
„Wir müssen dorthin, sofort. Das Gebiet ist etwa drei Stunden von hier mit dem Auto. Es wird schon hell, vielleicht... Wir müssen einfach dorthin." Er schien enorm aufgewühlt, mehr als je zuvor. Alea hörte ihren eigenen Herzschlag, als sie ebenfalls vom Bett aufstand und nach ihrer Jacke griff. Möglicherweise hatten sie alles gelöst.

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In weiter Entfernung spürte Louisa, wie etwas sie kitzelte. Was konnte das sein? Es fühlte sich angenehm an, beinahe warm. Kurz überlegte sie, ob sie die schweren Augen öffnen sollte, um nachzusehen. Dann entschied sie sich dagegen. Sie war noch viel zu müde. Gleich würde sie wieder in den so unendlich erholsamen Schlaf versinken. Da. Wieder kitzelte sie etwas.

„Jacob...Nicht", murmelte sie schlaftrunken und zuckte kurz mit der Nase. Diesmal hörte es gar nicht mehr auf. Gegen ihren Willen öffnete sie schließlich die müden Augen. Sie blickte unmittelbar in das Sonnenlicht, das durch die Gardinen auf das Bett fiel. War es schon Morgen? Müde drehte sie sich auf den Rücken. Die Nacht war wie im Flug vergangen. Übermüdet und bis zur Vollkommenheit zufrieden war sie in Jacobs Arm eingeschlafen. Jacob! Ob sie ihn wecken sollte?

„Guten Morgen", murmelte sie leise und drehte sich schließlich in seine Richtung. Sicherlich schlief er noch. Noch. Müde lächelte sie, als sie sich an den Abend erinnerte. Erstmals war er ihr wirklich nah gewesen. Den Gedanken an die baldige Abreise aus der Stadt schob sie prompt beiseite. Es war jetzt nicht die richtige Zeit, darüber nachzudenken.

Dass Jacob ihr nicht antwortete, bestätigte sie in der Vermutung, dass er noch schlafen musste. Sie konnte unmöglich einschätzen, wie lange er noch wachgewesen war. Vermutlich hatte er sich noch der ein oder anderen Sitcom gewidmet, ungestört, sobald sie eingeschlafen war.

„Wach auf, Schlafmütze", murmelte sie mit halboffenen Augen und tastete auf seiner Bettseite nach seinem warmen Körper. Nanu? Vorsichtig setzte sie sich ein wenig auf und zog die Bettdecke an ihre Brust. Sie war immer noch nackt darunter. Das Bett neben ihr war leer.

Hallo Du,

am Mittwoch gibt es ein kleines Sonderkapitel, damit ihr endlich erfahrt, wie es mit Jacob und Lou weitergeht. Geduld. Wir befinden uns beinahe bereits auf der Zielgeraden. Wahnsinn. ♥

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