Achtundvierzig
Noch bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er ihr mit seiner nach Zigaretten stinkenden und verschwitzten Hand den Mund zu gehalten. Sie presste die Augen zusammen, um sich zu konzentrieren. Seine Griffe waren hart und fest, alleine könnte sie sich niemals daraus befreien. Fest presste er ihren Körper an seinen, was sie deutlich seine Anspannung und Erregung spüren ließ. Bluffte er nur? War er möglicherweise angreifbarer als sie dachte?
„Der entscheidende Punkt ist doch...-", hörte sie Jacob plötzlich und öffnete augenblicklich wieder die Augen. Er schien mit einem Mal ruhig und beherrscht, er hatte sich wieder gefangen. Gott sei Dank! Er durfte nichts Unüberlegtes sagen. Zu viel stand auf dem Spiel und damit meinte sie nicht ihr eigenes Leben. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, fixierte Jacob den Boss und lief einen Schritt auf die beiden zu. Seine Hände hatte er in seine Jeanstaschen geschoben. Wieso zur Hölle sah er mit einem Mal so gleichgültig aus?
„Ich hab bereits alles verloren", sagte er dann achselzuckend und blieb stehen. Großer Gott. Er hatte den Verstand verloren. War es der Gestank nach Benzin, der ihn derart benebelte? Wie konnte er aufgeben? Stoßartig entfuhr Louisa die Luft, die sie unbemerkt vor Anspannung eingehalten hatte. Beim Einatmen durchflutete sie der abartige Gestank des Mannes, der sie nach wie vor im Schwitzkasten hatte und ihr den Mund zuhielt.
„Mich zu töten hat keinen Mehrwert. Es ist ein temporäres Gefühl der Genugtuung, höchstens. Ein wenig Rachebefriedigung. Es wird niemanden verletzen, wenn ich tot bin. Ich habe meine Freunde verloren, meine Familie, mein Studium. Ich habe bereits verloren." Stopp! Verzweifelt versuchte Louisa, ihn auf sich aufmerksam zu machen und zog an der Hand des Bosses, der seinen Druck auf ihren Mund daraufhin nur noch mehr verstärkte. Irgendwie musste sie Jacob stoppen. Sofort. Erhoffte er sich Mitleid? Gnade? Aber dazu sprach er zu nüchtern, beinahe gleichgültig, als hätte er bereits einen Strich unter sein Leben gesetzt und warte ohnehin nur noch auf die Abrechnung. Es klang nahezu, als fordere er dazu auf, umgebracht zu werden. Er stand jetzt beinahe direkt vor ihnen, sah jedoch konsequent über Louisa hinweg. Seine Gesichtszüge waren ruhig. Zu ruhig. Sie beobachtete ihn einen kurzen Moment. Lächelte er?
„Ich habe nichts mehr zu verlieren." Seine Stimme war eindringlich und ruhig. Dann ging mit einem Male alles ganz schnell. Jacob hatte ausgeholt und dem Boss voller Wucht mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Augenblicklich riss dieser beide Arme von Louisa und taumelte etwas zurück. Überrascht von der plötzlichen Bewegungsfreiheit, stolperte sie einen Schritt beiseite.
„Es steigt der Mut mit der Gelegenheit. Shakespeare. Aber das wissen Sie ja sicher." Es war Genugtuung in Jacobs Stimme. Noch bevor Louisa überhaupt richtig Luft holen konnte, hatte Jacob sie bereits mitgerissen. Sie taumelte ihm nach, stolperte die ersten Schritte, bis sie zuordnen konnte, dass er auf die Tür zurannte, ihre Hand fest in seiner, sodass es sie bereits schmerzte.
„STEHEN BLEIBEN!", brüllte der Boss noch mit der Hand im blutenden Gesicht, aber Jacob ignorierte ihn. Es waren nur noch wenige Meter, die sie von der Tür trennten, wenige Meter nach draußen, nur noch Schritte bis ihnen vielleicht jemand zur Hilfe kommen konnte. Bis alles vorbei sein konnte. Zu Ende. Nichts als eine böse Erinnerung. Nur verschwommen bemerkte sie, dass der Mann vor der Tür seine Waffe zog und sie auf die beiden richtete. Panisch presste sie noch im Rennen die Augen zusammen und wartete innerlich nur noch auf einen Schuss. Und da war er. Zumindest der Schmerz, den ein Schuss mit sich brachte. Den er mit sich bringen musste. Erschrocken von einem Aufprall riss sie die Augen auf. Geschossen hatte niemand. Vor ihnen war die Tür geöffnet, benommen von einem Schlag am gesamten Oberkörper taumelte Louisa einen Schritt zurück. Was war geschehen? Jacobs Hand hielt sie nicht mehr. Das plötzliche, helle Tageslicht blendete. War es vorbei? Nein. Sie befanden sich nach wie vor in der Lagerhalle, deutlich roch sie das beißende Benzin. Irritiert sah sie auf den Mann vor sich, mit dem sie offenbar zusammengeprallt war. Jemand musste die Tür im gleichen Moment geöffnet haben, in dem sie hinausstürmen wollten. Jemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt. Er war von großer und breiter Gestalt, aber er stand im Licht, sein mächtiger und dunkler Umriss war alles, das sie erkennen konnte.
„Jake...", murmelte sie benommen, bevor sie durch den Schwindel die Orientierung verlor und zu Boden fiel. Es war ein Schlag zu viel auf den Kopf gewesen. Unsanft landete sie auf dem Steißbein.
„LOU! Großer Gott! Oh Gott!", hörte sie eine panische Stimme. Es war eine Frauenstimme. Es war...
„Al?", murmelte sie und presste erneut die Augen zusammen. Verdammtes Unterbewusstsein. Ihr Körper spielte ihr zweifellos einen Streich. Sie hatte es doch bereits schwer genug. Als sie die Augen wieder öffnete, erhielt sie allmählich ein klareres Bild. Neben ihr war Alea in die Knie gegangen. Wie zur Hölle kam sie hierher? Ungläubig sah sie ihrer Freundin ins Gesicht. Es war kein Traum. Panisch sah Alea sie an, diese Art von Ausdruck hatte sie noch nie gehabt. War all das real? Benommen tastete sie nach Alea und fand ihre Hand. Es war real. Sie war hier.
„Al... es tut mir so leid, alles tut mir so leid", brach Louisa heraus. Sie spürte heiße Tränen auf ihrer Wange und einen Moment lang keinen Schmerz mehr. Wie war Alea hergekommen? Neben ihr war ein breiter Mann in die Knie gegangen, aber er war keiner der Männer, die zum Boss gehörten. Auch kniend war er weit größer als Alea neben ihm. Sein Gesicht spiegelte eine Mischung aus Verwirrung und Schreck wider. Wenn er es war, mit dem Louisa zusammengestoßen war, war es kein Wunder, dass sie nun auf dem Boden saß. Nur kurz konnte sie ihn ansehen, immer noch drehte sich alles.
„Schh... Komm hoch, steh auf. Ich hab dich." Aleas Stimme zitterte. Es waren mehrere Arme, die ihr hochhalfen, bis sie wieder auf eigenen Beinen stand.
„Verschwinde, Jacob. Ich weiß, was du getan hast. Du bist abartig. Du bist ein Monster", hörte sie Aleas zitternde Stimme. Nein. Was sprach sie da?
„Nein, Al, er...-" Louisa brach ab als die Übelkeit ihren gesamten Bauchraum einnahm.
„Er hat mit Avas Tod zu tun, Lou, ich weiß alles." Großer Gott. Die Übelkeit verwehrte es ihr, zu antworten. Stattdessen versuchte sie Jacobs Hand zu greifen.
„Ich bin bei dir, Lou", antwortete er ruhig. Sie spürte ihn, bevor sie ihn sah. Erst allmählich ließ der Schwindel nach. Ihr Fluchtversuch war gescheitert. Sie hatten gerade ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.
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