11) Hell's Gate


Die Lust auf einen süßen Nachtisch ist uns gründlich vergangen bei all den düsteren Themen, obwohl es eine Sünde ist, diese Schokoladencreme liegenzulassen.

"Richte dem Koch oder wer auch immer dafür verantwortlich ist, ein Riesenkompliment aus."

Mein Lob scheint Aljan zu amüsieren. Seine Augen blitzen. "Ich sage es ihm, wenn ich ihn sehe."

Er geleitet mich hinaus auf den Gang. Das erste was mir auffällt, ist die neue Farbe - waberndes Grün. Ich ziehe die Augenbrauen in die Höhe.

"Wofür steht grün? Noch mehr Hoffnung?"

Für einen Augenblick studiert Aljan die Fackeln. "Da könntest du Recht haben. Grün bedeutet meistens, dass er beschäftigt ist und keine Zeit findet, um nachzudenken. Vermutlich fesselt irgendein Buch seine Aufmerksamkeit derart, dass sein Gemüt ruhig ist. Lesen ist sein Ruhehafen, sein sicheres Refugium, aber danach wird er meistens unruhig. Launisch und unausstehlich."

"Vielleicht ist dann gerade kein guter Zeitpunkt, um ihn mit Fragen zu löchern?"

Aljan streicht sich durch die dunklen Haare. "Auch da könntest du Recht haben."

Zum ersten Mal fallen mir die vielen weiteren Türen und Tore auf. Manche schlicht und einfach wie Wohnungstüren, andere verschnörkelt und kunstvoll dekoriert, erinnern mich eher an Kirchenportale.

"Wohin führen die alle?"

Aljans Blick folgt meiner ausgestreckten Hand. "Du kannst sie sehen?"

Ich nicke. "Offensichtlich. Ist das gut oder ist das schlecht?"

Wir passieren einige Holztüren, manche mit blankem Türblatt, während andere mit Symbolen oder Bildern versehen sind. Auch die Bilder an den Wänden sind schlichter. Einfache Kunstdrucke in schwarzem Rahmen. Weniger erschlagend für den Betrachter, als die schweren Ölgemälde in ihren prunkvollen Goldrahmen. Trotzdem unzählbar viele Totenschädel, brennende Kerzen, Skelette, ausgehöhlte Augen.

Auf der gegenüberliegenden Seite verdienen die kunstvollen Türen diese schlichte Bezeichnung kaum. Es sind Portale, die einer Kathedrale würdig wären.

"Ich schätze, das ist gut. Du kommst allmählich hier an", nimmt mein Begleiter den Gesprächsfaden wieder auf.

"Ich weiß nicht. Wenn ich die Eingänge sehe, kann ich vermutlich hindurch? Jetzt steigt die Gefahr, dass ich mich hier verirre. Also, wo führen sie hin?", wiederhole ich meine vorherige Frage.

"In die Hölle" Aljan lacht.

"Da bin ich schon, denke ich."

"Stimmt. In eine andere Darstellung davon. Dahinter liegen die neun Kreise der Hölle, wie sie Dante Alighieri im 14. Jahrhundert in der Divina Commedia beschrieben hat. Ich würde sie dir zeigen, aber ich will dich nicht gleich wieder abschrecken."

Ich begutachte das riesige Portal aus dunklem Material mit den vielen eingearbeiteten Figuren rundherum, darüber, obenauf und sogar auf den beiden Türflügeln.

"Er hat viele Künstler inspiriert. Maler, Bildhauer. Das hier ist das Höllentor von Rodin."

"Nie davon gehört."

"Wirklich nicht?" Er zuckt mit den Schultern. "Eine Kopie davon steht seit 1949 nebem dem Eingang des Kunsthauses in Zürich. Das Original steht hier. Soll ich dir mehr darüber erzählen?"

Ich wehre ab. "Nein danke. Kunst ist nicht wirklich mein Fall. Also nicht diese Art von Kunst."

Er lacht kurz auf. "Zu viel Schrecken und Qual? Kann ich verstehen. Ich würde dir ja gerne etwas Erheiterndes zeigen, aber-"

Ich schaue ihn fragend an. "Aber das gibt es hier nicht?"

"Doch, ich finde schon." Er hält inne, sein Blick schweift über die schlichten Türen auf der linken Seite. In diesem Augenblick verändert sich das Licht. Schlagartig. Von einem beruhigendem Grün zu einem tiefen Rubinrot. Die Nebelschwaden schlagen um sich, wie als wäre ein unsichtbarer, nicht spürbarer Wind heraufgezogen, der sie durcheinanderwirbel.

"Es ist soweit." Aljan sieht mich an. "Komm mit, jetzt ist wirklich kein guter Zeitpunkt, um meinem Vater über den Weg zu laufen." Die Nebelschwaden erinnern mich wieder an von ihren Ketten gelöste Hunde. Aljan greift meine Hand. Für einen Moment erstarre ich. Dann lasse ich mich von ihm mitreißen. Er zieht mich zu einer massiven schwarzen Tür und öffnet diese.

Vor uns liegt eine Stadt im nebligen Nachtlicht. Triste Betonbauten. Hinter manchen Fenstern brennt ein trübes Licht. Immer wieder führt mich Aljan um Risse im Asphalt herum. Keiner ist hier unterwegs, keine Autos fahren. Es ist Nacht. Die Sterne leuchten trüb durch eine Schicht aus violettem Nebel, aber es hat nichts Schönes. Immer wieder werfe ich einen Blick über die Schultern. Alles wirkt bedrohlich, verfallen, trostlos.

Noch immer hält Aljan meine Hand. "Nicht mehr weit", sagt er.

"Wo gehen wir hin?", frage ich und weiche einem langgezogenen Riss im Boden aus, der tief hinunterführt.

"Siehst du gleich."

"Gehört das so? Oder ist das der Verfall?", erkundige ich mich, als ich wieder festen Grund unter mir habe.

"Diese Gegend ist zwar nicht besonders einladend, zugegeben, aber das gehört nicht dazu." Aljan begutachtet die Rille mit gerunzelten Augenbrauen. "Jedes Mal, wenn ich herkommen, sind es ein paar Risse mehr."

Auf einmal geht ein Ruck durch die Straße. Ich werde zur Seite geworfen, halte mich an seiner Schulter fest, während direkt zu meinen Füßen ein Spalt aufreißt. Im letzten Moment zieht mich Aljan fort. Dort wo ich gerade noch stand, klafft eine gähnende Lücke. Dann ist alles wieder ruhig. Tiefe Dunkelheit blickt mir entgegen. Mein Herz klopf. "Ich wäre fast abgestürzt", bemerke ich atemlos.

"Tut mir leid. Es geht immer schneller."

Wir eilen weiter. Vor uns erhebt sich wie aus dem Nichts eine Querstraße und die Kulisse verändert sich. Die Häuserfronten gehen in eine Wand über. Sie wirkt künstlich, ist einfach nur da und hebt sich gegen den Hintergrund. Die Querstraße erhebt sich wie eine Brücke ohne Geländer und führt in eine lange Röhre mit riesigem Durchmesser. Darauf steuert Aljan mit mir zu. Die Straße ist furchteinflößend, wie sie sich immer weiter erhöht, ohne Begrenzung zu beiden Seiten. Links und Rechts endet die Fahrbahn und es geht einfach hinunter. Ich halte Aljans Hand fester.

"Höhenangst?", fragt er. Ich nicke und fixiere den breiten Tunnel vor uns.

"Schließ die Augen, ich führe dich. Es wird gleich besser, versprochen". Wie sanft seine Stimme klingt. Ich vertraue ihm, aber ich bringe es nicht über mich, mich gänzlich von ihm leiten zu lassen. Nur durch einen Spalt linse ich auf den sich erhebenden Asphalt, um sicher zu gehen, dass Aljan mich in keinen Abgrund führt.

Nach einer gefühlten Endlosigkeit durchschreiten wir den Tunnel. Die Wände bestehen aus zusammen genieteten Platten. Wenn die Größe nicht derart überdimensional wäre, könnte es sich einfach nur um eine Art Autobahntunnel handeln. Wenigstens sind zu unserer Seite keine Abgründe mehr, aber ich atme erst durch, als Aljan mich auf eine weite Fläche führt. Hier wächst nichts. Nur Einöde und Sternenhimmel soweit das Auge reicht. Wolkenfetzen ziehen über uns hinweg. Aber auch hier erkenne ich die tiefen Risse und Furchen. Aljan findet einen Weg darum herum.

Fast unbemerkt erreichen wir eine Blumenwiese. Weiße Blüten recken ihre Köpfe ins dämmrige Sternenlicht.

"Es ist schön hier", flüstere ich, um den Zauber nicht zu zerstören.

"Auch das ist eine Jenseitsvorstellung", erklärt Aljan ebenso leise.

Dann geht die Wiese in eine spiegelklare Oberfläche über. Sanfte Wellen streichen darüber hinweg. Am Horizont verglüht eine Sternschnuppe.

"Es ist wunderschön."

"Ich habe doch gesagt, dass es hier auch schöne Orte gibt. Den hier habe ich gestaltet. Schließ die Augen", fordert er mich auf. "Wünsch dir etwas."

Dieses Mal gehorche ich seiner Aufforderung. Als ich sie wieder öffne, hat er sich ins Gras am Ufer des Wassers gesetzt und die Hände auf seine Knie gestützt.

"Es ist meine Zuflucht. Eine davon", erklärt er, als er sieht, dass ich die Augen wieder geöffnet habe und ihn anschaue. "Setz dich zu mir. Ich dachte, hier ist ein guter Ort zum Reden."

Auch dieser Bitte folge ich und lasse meinen Blick über die weiten Wellen gleiten. Entgegen seiner Ankündigung sitzen wir lange so da. Schweigend und jeder sich selbst und seinen Gedanken überlassen.


https://youtu.be/AsLf5yZMkmU


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Zwei kleine, aber feine Video-Clips zur Untermalung der Atmosphäre.

Aljans Ding sind mehr die Mangas und modernen Darstellungen (Videospiele and the like) -also falls ihr mir da noch ein wenig Input liefern könntet, wo es noch schöne Jenseits/Totenwelt/Höllen-Darstellungen gibt, wäre ich Euch sehr dankbar.

Achja, Feedback und Kritik aller Art ist auch immer gern gesehen.

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