I know what lies beneath this waking dream

Vollbepackt mit Tablett, meiner Umhängetasche und einem kleinen Stapel Zeitschriften manövriere ich mich durch die gut besuchte Mensa, direkt auf einen Tisch zu, an dem bereits meine Studienkollegin Andrea sitzt und mir hektisch zuwinkt.

„Was hast du denn da alles mit?", fragt sie überrascht, als ich die Magazine klatschend neben ihr Tablett fallen lasse. Sie nimmt sich die oberste Ausgabe und schaut mich skeptisch an. „Die RAWR!news?"

„Die aktuellste Ausgabe", bestätige ich nickend, stelle mein Essen – einen veganen Auflauf mit Brokkoli und Champignons – ab und lasse meine Tasche neben den Stuhl gleiten.

„Und warum so viele?" Andreas Augenbrauen wandern in die Höhe, als sie ein Heft nach dem anderen anhebt und feststellt, dass es immer das gleiche ist.

„Letztes Jahr wurde meine Schwester Kayce in ihrem Café interviewt und ich soll jeweils eine Ausgabe für sie, unsere Eltern, eine zur Ausstellung im Laden, eine für unsere Großeltern", ich hebe bei der Aufzählung jeweils eine Ausgabe an, „und eine für unsere Tante in Chicago besorgen." Anschließend nehme ich das Exemplar, das Andrea bereits in der Hand hält. „Und eine wollte ich für mich selbst haben", ergänze ich zwinkernd und blättere das Magazin durch, bis ich ein großes Foto von Kayce entdecke, die freudestrahlend hinter der Theke im Vital Spark steht.

„Hier", sage ich und halte es Andrea stolz vor die Nase.

Während ihre Augen neugierig über die Zeilen huschen, verstaue ich die restlichen Ausgaben in meiner Tasche.

„Wow", kommentiert sie schließlich und legt die Collegezeitung zur Seite. „Rein optisch hätte ich euch nicht als Schwestern erkannt, aber eure Motivation ..."

Ich zucke mit den Schultern und nehme einen Schluck von meinem stillen Wasser. „Verurteile mich dafür, dass mir unsere Umwelt am Herzen liegt."

Andrea grinst und schneidet sich ein Stück von ihrem Beefsteak ab.

Mein Blick gleitet wieder auf das Foto meiner älteren Schwester. Es stimmt, optisch sind wir ein bisschen wie Tag und Nacht – sie ist die kleine, trotz jahrelangen Trainings in der Profi-Softball-Liga zierliche Brünette, während ich sie mit meinen hellblonden Haaren und den langen Beinen um einen halben Kopf überrage. Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, werde ich häufig für die ältere von uns beiden gehalten, dabei trennen uns gut sechs Jahre. Doch unsere gemeinsame Leidenschaft ist der Kampf für mehr Tierrechte und Umweltschutz, den wir seit einigen Jahren unter anderem durch einen Wechsel zu einem veganen und nachhaltigen Lebensstil verfechten. Im Vital Spark, dem Studentencafé, das Kayce betreibt, verwirklicht sie ihren Traum einer vorbildlichen Gesellschaft. Ich selbst habe einen anderen Weg eingeschlagen, um meinen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten, und studiere Gesundheits- und Krankenpflege.

Ein aufgeregtes Flüstern hinter mir erregt meine Aufmerksamkeit und ich drehe mich auf meinem Stuhl um. Ein Grüppchen Studentinnen kichert und wirft verstohlene Blicke in Richtung der Theke, wo ein Polizist steht und sich etwas bestellt. Als er sich mit einem Becher umdreht, wird mir klar, warum die Mädels kichern, denn der Typ sieht wirklich verboten gut aus. Sein offensichtlich gut trainierter Körper in einer dunkelblauen Uniform in Kombination mit den dunklen Haaren, einem leichten Bartschatten und den jugendlich wirkenden Gesichtszügen würden auch bei mir weiche Knie bewirken.

In dem Moment fällt mir etwas ein, was ich Andrea, die gerade viel zu beschäftigt auf ihr Handy starrt und den Hottie nicht bemerkt hat, fragen wollte.

„Nächstes Wochenende findet ein Sitzstreik vor der Billings City Hall statt. Hast du Lust, mitzumachen? Ich könnte dich vor hier aus mitnehmen. Kayce hat sich extra freigenommen."

Sie schaut auf und ihre Stirn legt sich in Falten. „Ein Sitzstreik? So wie der Anfang Dezember, an dem ihr halb erfroren von der Polizei aufgemischt wurdet, weil ihr euch auf die Schienen gelegt habt?"

Ich zucke reuelos mit den Schultern. „Manchmal muss man es deutlicher zeigen, wenn man mit der Politik unzufrieden ist."

„Hast du die Nacht nicht in einer Zelle verbracht?"

„Nein, nur ein paar Stunden. Halb so wild." Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als ich an den Polizisten von eben denke und deute mit dem Daumen vage hinter meinen Rücken. „Aber wären alle Cops wie der da hinten, dann würde ich mich sogar freiwillig verhaften lassen und die gesamte Nacht in der Zelle verbringen, wenn du verstehst, was ich meine." Ich kichere albern. Nur Andreas Grimasse lässt mich verstummen. „Was ist?"

„Du meinst, den Cop, der direkt hinter dir sitzt?"

Meine Augen werden riesig, als ich meinen Kopf ruckartig umdrehe und nur einen Platz weiter der besagte Polizist an einem der Tische sitzt und an seinem Getränk schlürft. Der kurze Blick in meine Richtung und das offensichtlich unterdrückte Grinsen von ihm sind Beweis genug: Er hat jedes meiner Worte mitbekommen.

Stöhnend und mit einem glühend heißen Gesicht wende ich mich wieder zu Andrea, die gerade so herzhaft lacht, dass sich sogar ein paar Studenten neugierig umdrehen.

Ich wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass mich der Boden verschluckt.

Darf ich vorstellen? Josy Carrabassett, meines Zeichens Umweltaktivistin, angehende Kinderkrankenschwester und die peinlichste Versuchung, seit es schlechte Wortwitze gibt.

***

Meine Stimme dröhnt laut durch die kleine Autokabine und übertönt beinahe die Musik, die aus den Lautsprechern kommt. Ich gebe ein bisschen mehr Gas, als eigentlich erlaubt ist, weil ich zu spät dran bin. Heute findet eine Feier auf dem MSC statt, bei dem ein paar Lokalpolitiker sowie auch die Presse zugegen sein werden. Ich habe Kayce versprochen, ihr beim Café-Catering zu helfen, für das sie engagiert wurde. Leider hat sich mein Bewerbungsgespräch im Krankenhaus etwas hinausgezögert, sodass ich nun zwar den längeren, dafür aber den schnelleren Weg über den Highway nehmen muss.

Die Straßen sind heute glücklichweise frei, vor mir sind nur zwei Autos und hinter mir sehe ich in weiter Entfernung ab und zu die Sonne an einer Windschutzscheibe aufblitzen. Wenn es so weitergeht, werde ich mit einer Verspätung von fünfzehn Minuten ankommen. Ein Glück, dass ich die Kleidung zum Umziehen direkt mitgenommen habe und nicht erst in meinem Wohnheimzimmer vorbeischauen muss.

Mein Handy, das neben mir auf dem Beifahrersitz liegt, vibriert kurz und ich werfe einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm, der mir bestätigt, dass meine Schwester bereits mit den Hufen scharrt.

Ein ohrenbetäubender Knall lässt meinen Kopf nach vorne schießen. Ich reiße die Augen auf. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie das rechte Auto vor mir gegen das linke stößt. Dieses bekommt einen Rechtsdrall und beim offensichtlichen Versuch, es auszugleichen, gerät es ins Schlingern. Dann kracht erneut Metall auf Metall und mein Fuß sitzt bleischwer auf der Bremse. Mit angehaltenem Atem und einem extremen Druck auf den Ohren beobachte ich, wie sich eins der beiden Fahrzeuge vor mir überschlägt. Glas splittert, es fliegen Autoteile durch die Luft. Ich spüre das Ruckeln vom ABS und lenke das Auto mit mehr Glück als Verstand auf den Standstreifen, wo ich zum Stehen komme. Nur wenige Meter entfernt bleibt eins der Fahrzeuge auf dem Dach liegen, während das andere schräg auf der Straße anhält.

Mein Herz pumpt in einer Geschwindigkeit, die mich beinahe schwindelig werden lässt, als ich kopflos aus dem Fahrzeug stürze. Alles klingt gedämpft. Die Ränder meines Blickfelds verschwimmen, während ich mich auf alle viere schmeiße und einen Blick in das völlig zerbeulte Fahrzeug werfe. Das Fensterglas der Fahrertür ist zur Hälfte raus und ich sehe einen Mann, der kopfüber im Sicherheitsgurt hängt. Der ausgelöste Airbag blockiert die Sicht auf mögliche weitere Insassen. In meinem Kopf rattern im Sekundentakt Informationen aus dem Erste-Hilfe-Kurs von vor zwei Jahren. Doch nichts davon bleibt irgendwie hängen.

„Können Sie mich hören?", rufe ich und meine Stimme klingt fremd in den eigenen Ohren.

Ich bekomme keine Antwort.

Im Hintergrund höre ich mehrere Autotüren zuknallen und ich versuche erneut, die reglose Person anzusprechen.

Ich spüre das Zittern in meinen Armen, während ich mich auf dem Asphalt abstütze, und bemühe mich verzweifelt um eine ruhige Atmung. Panik ist in einer solchen Situation das letzte, was man gebrauchen kann. Ich schaue auf und sehe eine Person mit Warnweste auf mich zueilen. Mein Blick ist leicht verschwommen.

„Ist das dein Auto?", fragt der Mann mich, als er bei mir ankommt. Er hockt sich hin und zeigt hinter mich.

Ich nicke mechanisch.

„Hol deine Warnweste raus, falls du eine hast, und schalte die Warnblinker an. Hast du schon den Notruf gewählt?" Seine Stimme ist laut, aber irgendwie beruhigend. Sie widerspricht meinem inneren Chaos.

Mein Magen verkrampft sich. „Nein", antworte ich kopfschüttelnd.

Eilig rapple ich mich auf, während er sein Handy aus der Hosentasche zieht und gleichzeitig einen Blick ins Innere des Wagens wirft. Ich höre nicht mehr, was er sagt, sondern laufe zu meinem Auto, schalte den Warnblinker an und hole mit zittrigen Händen die Notfalltasche aus dem Kofferraum.

Als ich mich umdrehe, haben sich bereits einige Autos blinkend hinter dem Unfall versammelt. Mehrere Personen sind ausgestiegen und auch die Tür zum zweiten Unfallfahrzeug steht sperrangelweit auf.

Dann spüre ich eine warme Hand an meinem Rücken.

„Hey, es wird alles gut, ja? Ruhig atmen. Der Notarzt ist gleich da." Die Worte dringen wie durch Watte zu mir durch.

Erst dann fällt mir auf, dass ich den Atem wieder angehalten habe. Und ich schnappe japsend nach Luft.

Die Rettungsdecke eng um meinen Oberkörper geschlungen sitze ich auf einer Treppenstufe vom Feuerwehrauto und starre den Boden an. Die Situation um mich herum hat sich ein wenig beruhigt, auch wenn noch immer einige Helfer hastig über die Fahrbahnen laufen und den Weg freimachen, um den Stau, der sich hinter uns gebildet hat, nach und nach aufzudröseln. Mehrere Polizisten lenken den Verkehr an uns vorbei. Langsam sickert die Nachricht in mein Hirn, dass der Mann aus dem Auto, das auf dem Dach liegen geblieben ist, tot ist. Die Rettungskräfte, die nur wenige Minuten nach dem Anruf angekommen ist, konnten nichts mehr für ihn tun.

Ich schlucke schwer.

„Möchtest du etwas trinken?" Ich erkenne die Stimme wieder, die mich von der Seite anspricht. Es ist der Mann, der mich von dem verunglückten Fahrzeug weggeschickt hat.

Ich murmle ein „Danke" und nehme den Pappbecher mit dem Wasser an, den er mir hinhält. Dann schaue ich ihm das erste Mal richtig ins Gesicht und erstarre.

„Alles okay bei dir?", fragt er mich und hockt sich vor mich.

Mir bleiben die Worte im Halse stecken, als ich ihn einfach nur mit offenem Mund anglotze. Auch wenn ich ihn das letzte Mal vor fast zwei Monaten gesehen habe und er dabei eine Uniform getragen hat, habe ich keinerlei Zweifel, dass dieser Kerl vor mir der Polizist ist, den ich in der Mensa vom MSC gesehen habe. Und vor dem ich mich mit meiner großen Klappe so unglaublich blamiert habe. Mir schießt das Blut in die Wangen.

„Soll ich einen Sanitäter holen? Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen", kommentiert er meine Reaktion besorgt und legt beruhigend eine Hand an meinen Oberarm.

„Nein", antworte ich mit Verzögerung und er zieht skeptisch seine Augenbrauen zusammen.

Er nimmt seinen Arm wieder runter. „Wie heißt du?"

Ich schlucke erneut. „Josy."

„Josy", wiederholt er und ein leichtes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. „Ich bin Desmond. Darf ich mich setzen?" Er zeigt auf die schmale Stufe neben mich und ich nicke, ehe ich ihm ein bisschen Platz mache und er sich setzt.

Ich nehme einen Schluck vom Wasser und befeuchte so meine staubtrockene Kehle.

Desmond beugt sich vor und platziert seine Ellenbogen auf den Knien. „Ganz schön krass, was ein geplatzter Reifen anrichten kann, oder?" Er lässt den Blick über die Straße schweifen, auf der man die Spuren des Unfalls noch sehen kann. Die beiden Fahrzeuge wurden bereits zur Seite geschafft.

Ich nicke. „Das war das erste Mal, dass ich sowas live gesehen habe", entgegne ich leise und umklammere den Becher stärker, sodass er ein wenig eingedrückt wird.

„Hoffentlich auch das letzte Mal", sagt er und ich schaue ihn an. Er lächelt und ich sehe das Mitgefühl in seinen braunen Augen.

„Ich konnte ihm nicht helfen. In meinem Kopf herrschte absolute Leere", flüstere ich betreten und presse die Lippen aufeinander.

„Das ist nicht deine Schuld", versichert er mir. „Egal, wie oft man auch die Theorie in einem Erste-Hilfe-Kurs durchgeht, in der Praxis handelt man instinktiv."

Ich nicke erneut. „Danke für deine Hilfe."

„Das ist doch selbstverständlich. Und auch mein Job", fügt er hinzu. „Ich bin Polizist und da ist man auch in zivil ständig im Einsatz."

Und dann wird mir klar, dass er mich offenbar tatsächlich nicht erkennt, und ich atme mit einem Mal erleichtert aus.

Plötzlich schaut er auf und hebt die Hand, so als würde er ein Zeichen geben. Ich folge seinem Blick und sehe gerade noch so, wie eine junge Polizistin mit einem Block in der Hand ihm zunickt und sich wegdreht.

„Bist du bereit, gleich noch einmal eine Aussage zu tätigen, oder brauchst du noch etwas Zeit, durchzuatmen?", fragt er und sieht mich eindringlich an.

Kurz nachdem die Polizei und der Notarzt am Unfallort angekommen sind, habe ich einige wenige Fragen beantworten müssen. Mir ist sofort klargewesen, dass die richtige Befragung erst kommen würde, wenn die Situation unter Kontrolle wäre.

„Wir können das gerne jetzt machen", sage ich und setze mich etwas gerader hin.

Er schaut mich einen Moment schweigend an, als würde er meine Antwort abschätzen. „In Ordnung", erwidert er schließlich und steht auf.

Ich folge seinem Beispiel, lasse die Rettungsdecke aber um meinen Körper geschlungen. Erst jetzt, als mein Adrenalinspiegel wieder absinkt, merke ich die Kälte, die Mitte März in Montana noch vorherrscht.

„Einen Moment, ja?" Desmond lässt mich stehen und geht mit großen Schritten auf die Polizistin zu. Nach einigen Augenblicken kommt er mit Zettel und Stift zurück.

„Es kann passieren, dass, sobald du zu Hause bist und wieder richtig durchatmen kannst, dich eine Art Schock über die Geschehnisse ereilt", sagt er, hält das Papier gegen die offene Tür des Feuerwehrautos und schreibt etwas auf. „In einem solchen Fall ist es am besten, wenn man mit jemandem darüber sprechen kann." Er dreht sich wieder zu mir und hält mir das Stück Papier hin. „Du kannst mich gerne anrufen oder mich anschreiben, wenn du magst. Ich kann dir auch eine professionelle Hilfe vermitteln."

„Danke", stottere ich perplex und nehme das Stück Papier an mich.

Er lächelt und im selben Moment tritt die junge Polizistin an meine Seite, um mich für die Befragung mitzunehmen.

✼ ✼ ✼

Hallo und herzlich willkommen zu dieser bereits seit Monaten angekündigten Kurzgeschichte um Josy und Desmond <3

„Breathless Silence" gehört zwar zur MSC-Reihe, kann aber komplett unabhängig davon gelesen werden, da kein Vorwissen benötigt wird. Es wird auch keine Spoiler zu der Hauptreihe geben – zumindest keine klar erkennbaren, denn auch hier wird die eine oder andere Überschneidung zu den anderen Geschichten noch zu Tage befördert. ;)

Die Kapitelüberschriften sind aus dem Song „Dusk To Day" von Polaris, wie auch das Zitat in der Kurzbeschreibung. Ein wirklich schönes Stück, das ungewöhnlich sanft für die Band ist. Hört gerne mal rein, mich hat es durch den gesamten Schreibprozess begleitet.

Ich hoffe, euch hat der Anfang gefallen! Ich würde mich wie immer über Rückmeldungen aller Art freuen. :)

Liebste Grüße

Miss Impression

PS: Falls ihr Crystal Kaskade und mich noch nicht kennt, wir sind auch bei Instagram vertreten unter dem gemeinsamen Account Japperony – schaut gerne vorbei!

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