Kapitel 10 - Midnight

Coldplay – Midnight (Kygo Remix)

Wir fuhren noch eine kleine Weile durch die nächtlich-beleuchteten Straßen der Stadt, bis Leon sich entschied, auf die Autobahn zu fahren.

Ein paar wenige Autos fuhren langsam auf dem rechten Fahrstreifen und manchmal kamen auf der anderen Seite ein paar Wagen entgegen. Ansonsten waren wir nur für uns und deswegen zog er seinen Mercedes auf die ganz linke Spur und gab Vollgas.

Ich spürte den Motor schnurren und den Wagen vibrieren und wurde auch schon in meinen Sitz gedrückt. Seine Arme spannten sich ein wenig mehr an und seine Konzentration stieg an.

Am liebsten musterte ich allerdings sein leichtes Lächeln beim Beschleunigen. Damn.

Ich wandte peinlich berührt meinen Blick von ihm ab und schloss müde die Augen. Der Abend war wahnsinnig toll geworden.

Er hatte mich in eine Studentenkneipe geschleppt, wo einige seiner Kumpels Billard und Dart spielten, denen er mich vorstellte.

Anschließend setzte er mich auf den einzig freien Barhocker, legte seine Hand auf mein Knie, um allen anderen zu zeigen, dass ich zu ihm gehörte. Auch wenn ich es für unnötig hielt, mochte ich diese in mir aufsteigende Wärme eindeutig. Ich genoss seine Fürsorglichkeit.

Er erkundigte sich ein paar Mal, ob das so okay sein, ob es mir hier wirklich gefiel und organisierte mir ein Gratis-Freigetränk durch seinen besten Freund hinter der Bar. Ich nahm ein Bier, ganz langweilig, meiner Meinung nach.

Für ihn schien es wieder eine 'Alex-wird-das-schon-erlauben'-Situation. Mein Bruder würde nichtmal seine Hand auf meinem Knie dulden, da war ihm das Bier wirklich scheißegal. Ich schmunzelte.

Seine Freude meinten manchmal, dass ich besonders wäre, weil er bei mir nicht das Standardprogramm abzog. Ich erhielt von niemandem eine Antwort, als ich nachfragte. Nur Leon sendete tötende Blicke, die alle verstummen ließen.

Vielleicht irgendwann einmal, hatte er gesagt, als ich nicht Locker lassen wollte. Vielleicht zeig ich es dir mal. Ich hoffte drauf.

Als ich meinte, ich wäre so müde, dass nur noch Tanzen mich wach bekommen würde, meinte er schließlich, wir würden es packen.

Ich hatte keine Idee, wie ich das interpretieren sollte. Aber er schleifte mich an meiner Hand nach draußen und deswegen konnte ich ihm nicht wirklich lange böse sein.

Mein Handy klingelte, weshalb Leon ein bisschen vom Gas runterging und auf die mittlere Fahrspur wechselte. Mein Bruder.

"Heeey", meldete ich mich müde.

"Wo bist du?", rief er fast schon, da man die Bässe von seine House Party deutlich hörte.

"Leon bringt mir nach Hause. Ich hab ihn in der Stadt getroffen", erklärte ich brav.

"Der Leon? Der, den Daniel nicht gut findet?", hakte er sehr aufmerksam nach, sobald er anscheinend das Wohnzimmer verlassen hatte. Seine Hintergrundmusik war kam noch wahrzunehmen.

"Mir gehts gut und wir sind in ungefähr... hm... in zehn Minuten bin ich schon da", versuchte ich ihn zu beruhigen.

"Darüber rede wir noch, Cam", entgegnete er streng. "Ich schmeiß meine Jungs raus", fügte er noch hinzu und legte auf.

Er und Daniel hatten mehrmals versucht mich zu erreichen.

Leon sah mich teils besorgt an. "Alles okay?"

"Sicher, ich hatte nur vergessen mich bei Alex zu melden", beschwichtigte ich ihn.

Die nächsten Minuten wurde kein Wort mehr gewechselt.

Ich ließ die Autotür nach dem aussteigen ein wenig zu schwungvoll zu knallen, denn Leon zog mich gleich damit auf, dass ich vollkommen gefühllos wäre und sein Auto kaputt machen würde.

"Tzzz...", entgegnete ich lachend, nachdem ich mich ernsthaft entschuldigt hatte.

Alex öffnete wie auf Kommando die Haustür und wie versprochen waren seine Freunde größtenteils weg und die Party war beendet. Es war kurz nach eins.

"Ich hätte sie früher Heim bringen sollen. Tut mir Leid, Alex", entschuldigte sich Leon sofort.

Es waren anscheinend Worte gewesen, die meinen Bruder beruhigten. Er nickte dankbar und machte mir Platz, um ins Haus zu gehen. Mir kam die ganze Situation wie ein Déjà-Vu vor.

Ich drehte mich nochmals zu Leon um und bedankte mich leise für den tollen Abend, umarmte ihn zum Abschied, wobei er seine Hand länger als nötig auf meinem Rücken ruhen ließ, bevor er die Situation vollkommen zerstörte.

"Gute Nacht, Camille", hörte ich noch seine angenehme Stimme rufen, bevor er in sein Auto stieg. Ich schmunzelte und musste innerlich seufzen. Er war so toll!

***

"Lass uns über gestern reden... Cam... heey... HEY, hör mir zu!!"

Verschlafen blickte ich von meinem Kaffee zu Alex auf.

"Hm?"

"Wieso warst du so spät mit Leon aus, ohne mir oder Daniel davon zu erzählen?", fragte er mich prüfend.

Bis auf ein paar Brösel war sein Teller leergeputzt. Wie war so etwas an einem Samstagmorgen möglich?

Widerwillig versuchte ich zu erklären, wie ich gestern Leon getroffen hatte, ließ allerdings den Teil mit dem komischen alten Mann weg. Alex würde mich nie wieder aus dem Haus lassen.

"Einfach so?", hakte er ungläubig nach. Ich hätte das mit dem Tunnel auch erzählen sollen, dachte ich mir verbittert und klatschte mir innerlich gegen den Kopf.

"Ich wollte noch nicht nach Hause. Du hast doch mit den anderen gefeiert und da hatte ich wirklich keinen Bock drauf", erwiderte ich stattdessen und nahm einen stärkenden Schluck vom warmen Kaffee. Mhmm.

"Deswegen fahrt ihr in 'ne Kneipe?"

"Er hat mir seine Freunde vorgestellt, die ich schon alleine gestern tausend Mal erträglicher fand als so manche deiner Kumpels, die mich nur schräg anschauen", entgegnete ich genervt.

"Sag mir, wer es war und ich mach ihn fertig", versicherte er mir brüderlich. Doch dann setzte sein Verstand wieder ein. "Und in der Bar hat dich keiner genauer angeschaut? In dem kurzen Kleid gestern?"

Er nervte sowas von.

"Das Kleid war nicht kurz. Es war voll in Ordnung und nein, Leon hat sich darum gekümmert", konterte ich pampig und spießte ein Stück Ananas auf.

"Tzz... Leon hat sich darum gekümmert?! Es hat bestimmt einen triftigen Grund, warum Daniel ihn nicht wirklich leiden kann!", schimpfte er.

Meine Stirn zog Falten. Ich war verärgert. Solange meine Ananas allerdings nicht runtergeschluckt war, musste ich mich mit Schweigen und bösen Blicken wehren.

"Daniel ist eifersüchtig, weil Leon und Hannah sich anscheinend relativ nahe stehen und er keine Ahnung hat, warum das so ist", argumentierte ich gegen seine Vorwürfe.

Er seufzte laut und sah erst seinen Kaffee und dann mich abschätzend an. Immerhin fand er meine Vermutung nachvollziehbar.

"Hör zu, Alex... Leon hat mich weder angefasst noch blöd angemacht und er hat mich verantwortungsbewusst nach Hause gebracht... Ich musste ihn fast schon überreden, dass er mich nicht sofort bei dir absetzen würde!", übertrieb ich ein wenig. Vielleicht kapierte Alex es ja dann.

"Pass nur auf dich auf... wenn er dir weh tut, ist er ein toter Mann", spricht er leise aus, was ihm so schwer auf dem Herzen liegt.

Was, wenn er Recht hat? Vielleicht liegt Leon gar nichts an mir, sondern er versucht mich nur auf seine Liste zu bekommen. Was, wenn ich mir alles nur einbilde?

Ich war es doch, die den Abend verlängern wolle. Und ich wollte tanzen. Ich wollte, dass er mich mit etwas neuem überrascht.

Weshalb sollte ihm dann aber die Meinung meiner Bruders wichtig sein? Hm... ich seufzte nachdenklich.

Nachdem Alex zum Joggen das Haus verlassen hatte, holte ich das schwarze Bucket-List-Notizbuch raus und vermerkte bei drei To-Do-Punkten das gestrige Datum und malte ein X auf die Aufzählungskästchen.

X     Mit jemandem fremden REDEN.     18/06/15

X     Etwas verrücktes tun.     18/06/15

X     Mit unbekannten Jungs feiern.     18/06/15

Wobei mir bei letzterem Punkt bewusst war, dass er zu 50% erfüllt wurde. Leon war mir schließlich nicht ganz so unbekannt. Und wirklich gefeiert hatten wir auch nicht.

Allerdings könnte ich mir nicht vorstellen, wie dieser Punkt jemals in meine Leben auftreten und ich dabei am Ende nicht bei irgendwelchen Freaks landen sollte.

Zum allerersten Mal kam in mir der Gedanke auf, dass diese Liste nicht das beinhaltete, was ich unbedingt einmal getan haben wollte. Sondern Dinge, die für manche Menschen da draußen in der weiten Welt alltäglich waren.

Für mich waren sie das nicht. Für mich kosteten sie eine Menge Überwindung und eigentlich legte ich keinen Wert darauf, diese neuen Erlebnisse zu genießen, sondern sie einfach nur abzuhaken.

Betrüb schloss ich das Notizbuch, sprang von dem Hocker und verstaute es zwischen meinen Schals im Eingangsbereich.

Vielleicht war diese ganze Geheimnistuerei und die Bucket-List ja einfach nur eine Schnapsidee gewesen. Und je länger ich darüber nachdachte und dabei mies gelaunt durch das Haus tigerte, desto eher bekräftigte sich mein Gedankengang.

Als ich überaus demotiviert auf der Couch lag und meine Nachrichten checkte, wurde meine Laune nur noch schlechter und verfrachtete jeglichen Optimismus, der sich zwischen meinen Zellen versteckte, zurück in die Eiszeit.

Warum wollen alle was von mir?!, schimpfte ich genervt und schmiss das iPhone ans andere Ende der Couch und bat sogleich aus tiefstem Herzen, dass es nicht von der Couch geschleudert und die Treppe hinunterspringen würde. – Danke.

Der Tag verstrich ohne weitere Vorkommnisse und wie schon den restlichen Tag, suchte ich wieder meine heiß-geliebte Couch auf.

Ich lies meine Beine über die Sitzlehne baumeln und beobachtete Kopfüber durch das Fenster den kleinen getigerten Kater, der unseren Garten in dieser Dämmernacht unsicher machte.

Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss und mir schwindelig wurde. Mit all den Bauchmuskeln, die ich besaß, beförderte ich meinen Oberkörper wieder auf die Couch, sodass ich einfach nur verkrüppelt herum lag, die Augen schloss und diesen irre gemütlichen Moment zu genießen versuchte.

Ein genervtes Stöhnen entfuhr mir, als es doch tatsächlich an der Haustür klingelte.

Ungalant lies ich mich auf den Boden plumpsen und schlürfte dann halb Mensch, halb Zombie, zur Haustür, wo mir ein grandioses Grinsen entgegen lächelte.

"Ich seh aus wie eine Vogelscheuche", stellte ich unbequem fest und versuchte die zerzauste Mähne glatt zu streichen.

"Nee... geht schon", erwiderte er aufmunternd und zwinkerte mir zu.

Ich ließ meine Haare los und lehnte mich an den Türrahmen.

"Was machst du hier?", fragte ich verwundert und blickte in seine ruhigen grünen Augen, die zum ersten Mal heute so etwas wie Ausgeglichenheit in mir hervorholten.

"Ich wollte schauen wie es dir geht? Du hast nicht geantwortet", weihte er mich in seinen Plan ein.

"Ich muss auch nicht sofort antworten", konterte ich kalt, fühlte mich angegriffen.

"Ehm...", er stockte und setzte nochmals an. "...ich hab dir mehr als fünf Nachrichten geschrieben und du hast rein gar nichts dazu zu sagen?", fragte er leicht nervös, als könnte er mich diesmal nicht lesen und vorhersehen, wie ich mich verhalten würde.

"Uhm...", mir fehlten die Worte. Ich hatte schließlich keine Ahnung, was er mir geschrieben hatte. "Scheiß blaue Häkchen...", murmelte ich wieder mal genervt vor mich hin.

Leon hatte mich anscheinend verstanden und lachte leise darüber.

"Komm rein, ich geh erstmal mein Handy suchen...", bot ich ihm an. Das Mindeste, was ich tun konnte.

Ich schlürfte zur Couch und hob alle Kissen auseinander, um das beginderte iPhone zu finden, bis ich Leons Stimme hinter einem der großen Sessel vernahm.

"Du wirst von ganz schön vielen Leuten vermisst..."

Ich drehte mich zu ihm um und griff nach dem Stück Metall in seiner Hand.

"Super",  entgegnete ich sarkastisch und wurde sogleich in eine Umarmung gezogen.

Nachdem ich mich von meinem ersten Schreck und seinem angenehmen Pulli erholt hatte, stieß ich mich leicht von ihm ab und schob ihn zur Couch, wo ich mich gemütlich neben ihn setzte.

"Was war das denn eben?", fragte ich ihn, während ich durch die Millionen WhatsApp Nachrichten wegen sämtlichen Gruppenchats klickte.

Er hatte keine Antwort. Ich beschloss es dabei zu lassen und mir seine Nachrichten vorzuknöpfen.

Ach du scheiße, dachte ich mich schmunzelnd und spürte, wie sich meine Backen bei seinen Worten rosig färbten und mir wohlig warm wurde.

"Und?", hakte Leon nach, als ich bestimmt schon zum dritten Mal las, was er gestern mitten in der Nacht und heute den Tag über verfasst hatte.

"Warte, gleich...", schüttelte ich ihn mit meinen Worten ab.

"Ich warte schon seit einer halben Stunde!", zog Leon mich etwas unsicher auf.

Ich schmunzelte wissend. "Wenn du auch so viel schreibst?", konterte ich grinsend, wandte meinen Blick jedoch nicht von unseren Chatverlauf ab.

"So lange kann man gar nicht brauchen...", kommentierte er ebenfalls schmunzelnd und hatte vermutlich sein Selbstbewusstsein wieder gefunden.

"Ehm, doch?!"

"Sicher nicht! Und wenn du nicht lieben würdest, was ich geschrieben habe, dann würdest du es bestimmt nicht zum fünften Mal lesen", neckte er mich, legte seine Hand auf meinen Oberschenkel, damit ich mich zu ihm drehte.

Und tatsächlich sah ich in seine leuchtenden Augen und musterte sein wundervolles Grinsen. Also wenn er schon verwirrenden Kram schrieb, dann war es voll in Ordnung, dass ich ihn mehr als nur mochte.

"Lass uns ein Spiel spielen", begann er plötzlich.

"Never!", entgegnete ich alarmiert.

"Okay..."

"Okay"

"Okay?"

"Nein"

"Du bist clever...", meinte er niedergeschlagen.

"Zeig mir, was du mir gestern nicht gesagt hast", forderte ich ihn daraufhin auf. Er schien es als Antwort auf seine Ellenlangen Nachrichten zu verstehen und lächelte.

"Dann lass uns in die Bar von gestern fahren und normal feiern", plante er.

Ich schwang mich von der Couch hoch und machte mir einen Zopf, während ich ihm erklärte, dass ich nur mal eben meinen Schlabberlook gegen Jeans und T-Shirt tauschen würde.

"Beeil dich, ich warte im Auto!"

Grinsend lief ich die Treppen zu meinem Zimmer rauf und schälte mich aus der Jogginghose und dem Hoodie, um mich daraufhin in eine dunkelblaue Jeans zu zwängen und ein weißes Top über zu ziehen.

Deo, Zähne putzen, Ausweis, Handy, Geld.

Das was sowas von unvernünftig, lachte ich in die Nacht, als ich in meinen Nikes zu seinem Auto lief und mich glücklich auf den Beifahrersitz fallen ließ.

Verrückt.

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