Kapitel 3

Am nächsten Morgen wachte Harry durch die grellen, warmen Sonnenstrahlen auf, die ihm durch das Fenster ins Gesicht schienen. Schnell kniff er die Augen wieder zusammen und stöhnte auf, noch müde und etwas verspannt.
Er hatte noch nie nachvollziehen können, wie Menschen es mögen konnten, wenn man durch die Sonne aufwachte. Es war unangenehm hell, man konnte nicht einmal die Augen aufmachen und wachte viel früher auf. Dementsprechend drehte er sich auf die andere Seite, zog die Decke etwas höher und versuchte noch einmal einzuschlafen.
Allerdings wollte auch das ihm nicht gelingen, denn nur kurze Zeit später, als er gerade dabei war wieder einzuschlafen, klopfte es an der Tür und ohne, dass er etwas gesagt hatte, öffnete sich diese.

Frühstück", ertönte die Stimme, von der der junge Mann eigentlich gehofft hatte, sie erstmal nicht hören zu müssen. Genervt drehte er sich auf die andere Seite, sein Blick nun wieder auf das Fenster gerichtet, und hörte augenblicklich ein leises, belustigtes Lachen.

Was?", fragte er sofort leicht gereizt, mit noch etwas kratziger Stimme, weshalb er sich einmal räusperte.

Dir auch einen guten Morgen, Harry", sagte Louis und sofort zog der Lockenkopf seine dunklen Augenbrauen verwirrt zusammen.

Woher kennst du meinen Namen?", hakte er nach, ohne sich umzudrehen. Er hörte, wie das Plastiktablett auf dem kleinen Tisch neben dem Bett abgestellt wurde, regte sich jedoch noch immer nicht.

Aus deiner Krankenakte. Du wolltest ihn mir ja nicht verraten", klärte Louis ihn auf und nun drehte sich Harry doch um. Der junge Mann stand neben dem Bett, das gleiche blaue Hemd wie gestern an und seine braunen Haaren verwuschelt, als hätte er nach dem Aufstehen keine Lust gehabt, sie zu machen.

Du schaust einfach in meine Krankenakte?"

So wie es aussieht, ja", entgegnete er grinsend und schaute auf Harry hinunter. Diesen nervte die gute Laune Louis' jetzt schon und er wollte einfach nur, dass der Krankenpfleger verschwand. Seufzend setzte er sich deshalb auf und griff nach dem Tablett, welches er, wie immer auf seinem Schoß platzierte.
Louis ließ sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, fallen und musterte Harry, wie er sein Toast strich. Der gleiche Vorgang wie am Vortag.
Der Lockenkopf versuchte den durchdringenden Blick so gut es eben ging zu ignorieren, doch trotzdem wurde er ein wenig nervös. Warum starrte Louis ihn so an? So interessant war er nun auch wieder nicht und es gab definitiv spannendere Orte, die er betrachten konnte. In der Hoffnung, dass der Pfleger schnell wieder verschwinden würde, beeilte er sich, die Brote zu streichen.

Warum bist du hier?", fragte Louis, als Harry gerade nach der Marmelade griff.
Er blickte seinen Gegenüber einen Moment lang stumm an, hielt weiter die Marmelade in der Hand und ließ diese dann sinken.

Ist das ernst gemeint? Ich dachte, du hast in meine Akte geschaut? Außerdem kann man sich das doch sicher denken...das hier ist schließlich die Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie", antwortete er und wurde am Ende etwas leiser, nuschelte die Worte nur noch. Er wollte Louis keine genauen Auskünfte über sein Privatleben geben, zumal sie sich ja nicht einmal richtig kannten. Wenn Louis sich vorstellte, er würde einem Fremden einfach seine privaten Angelegenheiten erzählen, hatte er sich mächtig getäuscht. Dieser musterte ihn mit seinen klaren, blauen Augen und zuckte mit den Schultern. Sein Lächeln war verschwunden und er wirkte auf einmal unglaublich ernst.

Klar weiß ich das, aber ich meine, warum? Es ist nicht schwer zu erkennen, dass du dir vermutlich die Pulsadern aufschneiden wolltest, aber warum?", fragte er und rutschte näher an das Bett heran. Harry beobachtete mit Argusaugen, was er tat, bemerkte den nun verringerten Abstand zwischen ihnen, rutschte automatisch ein wenig zurück und zog die Decke ein wenig mehr zu sich. Er konnte spüren, dass seine Wangen heißer wurden, als Louis die Tatsache so direkt aussprach, die Harry bisher nicht zugeben wollte. Zumindest nicht vor einer anderen Person.
Die restlichen Patienten waren bereits versorgt, da Harry der letzte auf dem Gang war, sodass Louis nicht wirklich in Eile war. Er saß vollkommen entspannt da und wartete auf eine Antwort Harrys.

Das geht dich gar nichts an", schnaubte der Lockenkopf abfällig und wandte sich wieder seinem Tablett zu. Wie kam diese Person dazu, ihn das einfach zu fragen?
Kopfschüttelnd bestrich er die andere Scheibe Toast und reichte Louis, welcher ihn nur stumm ansah, das Messer.
Dieser steckte es ein und stand dann auf, machte jedoch keine Anstalten, zur Tür zu gehen. Er bliebt stumm stehen, das Messer in seiner Hand, den Kopf ein wenig zur Seite gelegt.
Harry seufzte theatralisch auf und drehte seinen Kopf, sodass die dunkelbraunen Locken leicht wippten.

Was willst du noch?", der bissige Unterton in seiner Stimme war kaum zu überhören. Schon wieder ein Morgen an dem er, nur wegen Louis, aufgebracht war. Er wollte einfach nur allein sein, obwohl er dieses ständige Gefühl des Alleinseins verabscheute und es ihn innerlich auffraß. Allerdings ertrug er die Gesellschaft Louis' noch weniger.
Einen Moment beobachtete Louis ihn einfach nur, dann blitzte etwas in seinen tiefen, blauen Augen auf. Ein klar erkennbarer Gedanke, eine Idee, welche sich langsam formte und Gestalt annahm. Doch so schnell wie dieser kleine Funke in seinen Augen aufgetaucht war, so schnell verschwand er auch wieder, unsichtbar für jede andere Person.

Nichts. Ich geh schon. Guten Appetit", sagte er jedoch nur und verschwand dann durch die Türe nach draußen.
Verwirrt blickte Harry ihm einen Moment lang nach, ehe er sich wieder seinem Frühstück widmete.
Er verschwendete keinen weiteren Gedanken an diesen komischen, ständig lächelnden jungen Mann, denn er war schließlich nur ein unbedeutender Krankenpfleger. Nur eine weitere Person, die er demnächst zurücklassen würde.

Später, gegen zwölf Uhr, klopfte es erneut an der Tür. Harry kam gerade aus dem kleinen Bad, das an das Zimmer angrenzte, sein Handy in der Hand.
Als er von diesem aufsah, öffnete sich gerade die Tür und ein Schwall kühler Luft kam ihm entgegen und mit diesem seine Mutter Anne, sowie eine junge Frau mit langen, braunen Haaren. Sie trug einen langen, dunkelbraunen Stoffmantel, darunter eine weiße Bluse und eine hellblaue Hose. Ihre normalerweise strahlenden Augen waren nun gefüllt von Unsicherheit und Angst.
Es war Gemma, die langsam hinter Anne das Zimmer betrat und sofort aufschluchzte, als sie ihren kleinen Bruder dort sah.
Er schien in den Krankenhausklamotten zu versinken, wirkte so klein und dann entdeckte sie die Verbände um seine Handgelenke.
Augenblicklich lief sie auf Harry zu und zog ihn in ihre Arme, drückte ihn an sich und unkontrolliert liefen ihr Tränen über das Gesicht.
Sie hätte nie gedacht, dass ihr sonst so fröhlicher, kleiner Bruder nicht mehr leben wollte.

Du bist so dumm, H, so dumm. Mach das nie wieder. Ich hatte so Angst, als Mum mir das gesagt hat", wimmerte sie und Harry legte, komplett überfordert, seine Arme um den zitternden Körper seiner großen Schwester. Er hatte sich die Begegnung mit Gemma zwar ausgemalt und sich vorgestellt, wie diese ablaufen könnte, doch ihre Reaktion jetzt wirklich zu sehen, war etwas ganz Anderes.
Er sah zu seiner Mutter, die leicht glasige Augen hatte und langsam lief sie auf ihre beiden Kinder zu und legte dann ebenfalls die Arme um die beiden. Zusammen standen sie mehrere Minuten da und hielten einander, Harry in der Mitte des Knäuels. Er war wie erstarrt, denn er hatte dieses Gefühl einer liebevollen, schützenden Umarmung lange nicht mehr gespürt. Die beiden älteren Frauen versuchten ihm zu zeigen, wie sehr sie den Jüngsten liebten, wie wichtig er ihnen doch war. Doch das Einzige, was Harry dachte, war, dass er in einer Woche aus diesem Raum raus sein und dann alles beenden würde.

Die beiden Frauen blieben über zwei Stunden, spielten mit Harry verschiedene Spiele, redeten und aßen etwas zu Mittag. Gemma versuchte nicht dauernd auf die Handgelenke ihres kleinen Bruders zu sehen, doch ab und an starrte sie etwas zu lang darauf, sodass der Jüngere nervös seine Hände in den Ärmeln des Oberteils versteckte. Ihm waren die Blicke seiner großen Schwester und auch seiner Mutter unangenehm, doch wie am vorherigen Tag strengte er sich an, glücklich zu wirken. Auf die Frage hin, wie es ihm ginge, antwortete er möglichst überzeugend, dass es ihm gut ginge und er sich freute, so bald wie möglich wieder nach Hause gehen zu können.

Harry...ich habe vorher dem Arzt gesagt, dass wir gerne darüber reden würde, wann du gehen kannst", sprach Anne daraufhin das Thema an, bei dem sich der Kopf des jungen Mannes sofort zu ihr drehte.
Breit strahlend nickte er und ließ sich auf das Krankenhausbett fallen. Sie waren gerade von der Kantine zurück und nun wieder in dem Zimmer, welches durch die einstrahlende Sonne aufgewärmt wurde.

Der Arzt sollte auch demnächst kommen", fügte sie noch hinzu und nur wenige Minuten später öffnete sich die Türe.
Ein etwas älterer, aber durchaus freundlich aussehender Mann betrat den Raum und reichte Anne seine Hand. Er trug einen weißen Kittel und hatte ein Klemmbrett in der Hand. Auf seiner Nase saß eine runde, kleine Brille mit schmalem Rahmen, welche ihn noch älter aussehen ließ. Harry kannte ihn bereits, denn am Anfang war er ab und an bei ihm, hatte mit ihm geredet und ihn befragt.

So, Harry...", fing er an und blickte von dem Brett hoch zu dem Lockenkopf, der lächelnd auf dem Bett saß. Ihm war klar, dass es schwieriger werden würde, den Arzt zu überzeugen. Schließlich war er ein Profi und hatte täglich mit Leuten zu tun, die ähnliches wie er durchgemacht hatten und wegen des gleichen Grundes hier waren. Er musste einfach glauben, dass es ihm gut ging und er würde es so gut wie möglich versuchen.
Anne griff nach der Hand ihres Sohnes und drückte sie sanft, Gemma saß auf der anderen Seite von ihm und sah den Arzt fast genauso gespannt an, wie Harry es tat.

Du weißt, dass du eigentlich in eine extra Klinik müsstest. Das ist bei Patienten wie dir eigentlich der Normalfall. Wir können dich natürlich nicht zwingen, da es immer noch dein Recht ist, selbst darüber zu entscheiden. Außerdem müssen wir auch berücksichtigen, dass dies unter dem Einfluss des Alkohols passiert ist. Das heißt, dass dir möglicherweise nicht wirklich bewusst war, was du getan hast. Deshalb könntest du vorerst nach Hause. Sollte es aber einen Rückfall geben, wirst du umgehend zu einer Klinik gebracht, wo man dir hilft. Es ist somit eine Chance, denn das nächste Mal kannst du vielleicht nicht mehr frei entscheiden", erklärte der grauhaarige Mann mit ruhiger, aber fester Stimme und sah Harry eindringlich an. Seine Aussage war klar und deutlich, das war jeder Person in diesem Raum bewusst, auch Harry. Dieser schluckte einmal und spürte wie sich der Druck um seine Hand verstärkte. Keiner in diesem Raum hoffte, dass es einen Rückfall geben würde.
Keiner außer Harry, denn dieser hatte bereits alles geplant.
Er wusste, dass in einer Schublade, bei ihnen zu Hause die vielen Schlaftabletten seiner Mutter lagen. Diese hatte schon länger Probleme mit dem Einschlafen und so wusste Harry, dass die Schlaftabletten immer noch da sein würden, wenn er nach Hause kommen würde. Natürlich bestand immer eine gewisse Chance, dass er überleben würde, doch in der Zeit, die er in diesem Krankenhaus verbracht hatte, hatte sich die Idee, ihr Plan, genau geformt und er hatte genug Zeit gehabt, alles genau zu durchdenken. Diesmal würde auf keinen Fall etwas schiefgehen.
Während er noch überlegte, blickte der Arzt ihn genau an, musterte den jungen Mann, der versuchte weiterhin zu lächeln, was dieses Mal gar nicht so schwer war, denn er freute sich wirklich nach Hause gehen zu dürfen, auch wenn seine Freude einen anderen Hintergrund hatte.

Und wann darf er nach Hause?", fragte Anne vorsichtig den Arzt, der daraufhin seinen Blick von Harry abwandte und zu der Frau blickte, die ihn angesprochen hatte.

Ich würde sagen, in zwei Tagen. Heute wird noch einmal jemand die Verbände wechseln, aber die Wunden sind bereits gut am Verheilen", informierte er sie und Harrys Herz hüpfte aufgeregt. Zwei Tage und er könnte aus dieser Hölle verschwinden.

Sie besprachen noch ein paar organisatorische Dinge, danach verließ der Arzt das Zimmer und auch Anne und Gemma gingen nur wenig später. Nachdem sie immerhin den gesamten Tag bei Harry verbracht hatten, mussten auch sie wieder nach Hause.
Daraufhin saß Harry wieder allein in seinem Zimmer. Die plötzliche Stille war ein wenig bedrückend, jedoch auch erleichternd nach der ständigen Geräuschkulisse, die den Tag über in dem Zimmer geherrscht hatte.
Als sich wenig später erneut die Türe öffnete, welche den kleinen Raum von der Außenwelt abschirmte, blickte Harry auf und unterdrückte nur schwer ein genervtes Seufzen. 

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