Kapitel 2

Harry bekam nicht mehr mit, wie Louis das Tablet abholte, denn gegen Mittag öffnete sich erneut die Tür. Jedoch betrat niemand des Krankenhauses das ruhige Zimmer, sondern Anne, seine Mutter.
Der Blick des brünetten jungen Mannes wanderte von dem Fenster, an welchem er stand, hinüber zu der hellbraunen Tür und seine trüben, grünen Augen weiteten sich überrascht, als er das bekannte Gesicht erblickte.
Die dunkelhaarige Frau wirkte müde und geschafft und die dunklen Ringe unter den sonst strahlenden Augen waren ein Zeichen der vielen schlaflosen Nächte, welche sie hinter sich hatte. Generell wirkte sie nicht ganz so gepflegt, als würde sie nur das Nötigste tun, um sich einigermaßen frisch zu halten und keinen ganz erbärmlichen Eindruck zu hinterlassen. Auch ihre Klamotten sahen aus, als hätte sie diese wahllos aus dem Schrank gezogen. Harry wusste, dass sie sonst sehr auf ihre Kleidung achtete und jedes Outfit bewusst zusammenstellte.
Trotzdem erschien ein sanftes, liebevolles Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie ihren Sohn erblickte.

Hallo Harry...", begrüße sie Harry, welcher noch immer an dem Fenster stand und sich auch nicht rührte, während Anne vorsichtig die Tür hinter sich schloss und dann langsam in Richtung Fenster schritt.
Harry setzt ein schwaches Lächeln auf, denn ihm war durchaus bewusst, dass er das Krankenhaus nicht verlassen durfte, bis seine Mutter sowie die Ärzte glaubten, dass es ihm wieder gut ginge. Demnach musste er bei jeder sich bietenden Gelegenheit so tun, als wäre alles okay, als wäre er glücklich.

Hi Mum", entgegnete er, weiterhin lächelnd und griff nach der kühlen Hand seiner Mutter, als sie neben ihm stand. Sie drückte die seine augenblicklich und wirkte sofort ein wenig erleichtert und entspannter.
Der junge Mann sah dies als seine Chance an und lächelte weiterhin glaubwürdig, auch wenn es ihm schwerfiel. Er wollte einfach so schnell wie nur möglich aus diesem Krankenhaus verschwinden und wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, den Vorgang etwas zu beschleunigen, dann ergriff er diese nur allzu gerne.

Wie geht es dir?", fragte Anne unsicher, das Zögern in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören. Jedoch konnte Harry das hoffnungsvolle Leuchten in ihren Augen klar und deutlich erkennen. Sie schien wirklich froh zu sein, ihren Sohn wieder lebensfroher zu sehen. Dabei bemerkte sie überhaupt nicht, dass sein breites Lächeln lediglich aufgesetzt war und wie erschöpft der junge Mann eigentlich war.

Gut, wirklich. Es tut mir nur so leid. Das was ich gesagt habe, war falsch. Ich hätte dir das nicht an den Kopf werfen sollen", entschuldigt er sich und schenkte ihr einen reuevollen Blick.
Seine Entschuldigung war, im Gegensatz zu seinem fröhlichen Gesicht, ernst gemeint, denn es tat ihm wirklich leid, was er zu seiner Mutter gesagt hatte. Alles was er ihr in seiner Wut entgegengeschleudert hatte.

Es ist alles okay, Schatz", beruhigte Anne ihren Sohn und strich sanft über seinen Handrücken. Ihr Blick war so voller Liebe und Fürsorge, so wie eine Mutter ihr Kind nun einmal ansah. Mit diesem ganz speziellen Blick, den nur Mütter hatten.
Ganz vorsichtig nahm sie ihren Sohn in den Arm und drückte ihn an sich, konnte dabei jedoch nicht sehen, wie das Lächeln fiel und sein Blick wieder dunkler wurde.

Wie wäre es, wenn wir zusammen in die Kantine gehen und etwas essen? Dann musst du nicht dauernd in dem Bett liegen und bekommst mal wieder ein bisschen Bewegung", schlug sie vor, nachdem sie sich wieder losgelassen hatten und Harry nickte sofort begeistert.
Er durfte das Zimmer ohne eine Begleitung nicht verlassen und er musste unbedingt mal wieder an die frische Luft. Natürlich konnte er das Fenster immer mal wieder ein wenig öffnen, jedoch nie ganz, denn es bestand ja die Gefahr, dass er springen könnte. Das war bei jedem Fenster auf der Station so, wie Isabelle ihm erzählt hatte.
Er selbst fand das definitiv viel zu übervorsichtig und war demnach ganz froh, dass seine Mutter etwas mit ihm essen wollte. Er hatte sich die letzten Tage auf jeden Fall zu wenig bewegt und merkte das an der Müdigkeit, die ihn ständig plagte.
Daraufhin sagte Anne dem zuständigen Arzt Bescheid, welcher den Ausgang erlaubte, seinen Patienten jedoch genauestens musterte. Dieser strengte sich an, so glücklich wie nur möglich zu wirken, damit auch der Arzt glaubte, es ginge ihm wieder gut.

Nach dem kurzen Gespräch machten sich Mutter und Sohn auf den Weg in die Kantine des Krankenhauses und setzen sich nur wenige Minuten später mit zwei vollen Tellern an einen leeren Tisch.
Der heiße Dampf der Suppe stieg Harry in die Nase und er sog den wohlriechenden Geruch ein. Das Essen war für ein Krankenhaus verhältnismäßig gut, worüber er wirklich froh war. Er hatte zwar noch kein Essen eines anderen Krankenhauses in London probiert, allerdings kannte er das Klischee, dass Krankenhausessen widerlich sei. Vorsichtig nahm er etwas der senffarbenen Suppe auf seinen Löffel und ließ die heiße Flüssigkeit kurz ein wenig abkühlen, ehe er probierte.
Der intensive Geschmack des Gemüses bereitete sich in seinem Mund aus und er musste zugeben, dass die Suppe, dafür, dass sie so einfach war, wirklich gut schmeckte.
Als er zu seiner Mutter blickte, sah er in ihrem Gesicht, dass auch ihr die Suppe zu schmecken schien. Schnell wandte er den Blick wieder ab, denn mit der Zeit spürte er, wie anstrengend es war, ständig etwas vorzuspielen und so zu tun, als wäre man glücklich. Er hatte lange nicht mehr so viel gelächelt und nun hatte er das Gefühl, dass seine Wangen schon schmerzten von der ungewohnten Anstrengung.
Doch trotzdem kämpfte er sich durch, denn immerhin hatte er es früher auch geschafft. Nun hatte er ein Ziel und das motivierte ihn dazu, weiterzumachen.
Eine Zeit lang war es, bis auf das gelegentliche Klappern der Löffel, still am Tisch und man konnte die Spannung in der Luft beinahe greifen. Keiner der beiden schien so recht zu wissen, was sie sagen sollten und es vergingen endlos lange Minuten, bis Anne schließlich das Wort ergriff.

Ich werde nachher mal mit dem Arzt reden und fragen, wie lange du voraussichtlich noch bleiben musst", teilte sie dem jungen Mann mit den lockigen, braunen Haaren mit. Dieser versuchte seine Begeisterung zu verstecken und nickte nur, während er weiterhin auf seinen nicht mehr ganz so vollen Teller blickte, aus dem jedoch immer noch der wohlduftende Dampf aufstieg.

Oh, und Gemma kommt morgen übrigens" teilte Anne ihm versucht beiläufig mit, woraufhin Harry erschrocken seinen Löffel sinken ließ. Dabei tropfte etwas von der noch immer ziemlich warmen Suppe auf seinen Handrücken, doch das störte ihn in diesem Moment kein bisschen.

Du hast es ihr erzählt?", fragte er und drehte den Löffel nervös in seiner Hand, sodass die Suppe etwas über den Rand des Tellers schwappte. Er konnte nur ahnen, wie seine große Schwester die Nachricht aufgenommen hatte. Gemma war schon immer sehr sensibel gewesen, wenn es um ihren kleinen Bruder ging. Als er sich damals das Bein gebrochen hatte, hatte sie ihn ständig umsorgt, als wäre er todkrank.
Harry konnte sich schon genau vorstellen, wie die erste Begegnung ablaufen würde und seufzte nur leise auf. Eigentlich hatte er gehofft, dass ihm dies erspart blieb.
Seine Mutter sah ihn genau an und strich sich einmal über ihre geschlossenen Augen, bevor sie ihren Löffel ebenfalls sinken ließ.

Ja natürlich. Harry, sie ist deine Schwester. Sie muss das auch wissen", rechtfertigte sie ihre Tat und sah ihren Sohn durchdringend, nun deutlich ernster, an.
Er senkte seinen Blick und nickte nur stumm, ehe er weiter aß. Eine kurze Stille trat ein, doch diese hielt nicht lange an.

Waren eigentlich Eleanor oder Niall schon bei dir?"

Nein. Sie wissen nichts. Ich habe ihnen gesagt, ich bin krank", murmelte er leise und aß dann weiter, denn er wollte das folgende Gespräch unter allen Umständen vermeiden. Eleanor Calder und Niall Horan waren seine beiden einzigen Freunde. Da sie sich in letzter Zeit jedoch voneinander distanziert hatten, verspürte Harry nicht das Bedürfnis, ihnen irgendetwas über seine momentane Situation mitzuteilen.

Ach Schatz...du kannst es nicht vor jedem verstecken. Sie werden es doch sehen...", wand Anne ein, doch der junge Brite blickte sie verärgert an. Die Freude, die er aufgesetzt hatte, konnte er nun nicht mehr aufrechterhalten, dazu war er in dem Augenblick zu aufgewühlt. Anscheinend sprach sein Blick Bände, denn Annes Augen wurden dunkler und ihre entspannten Gesichtszüge verhärteten sich.

Müssen sie nicht unbedingt. Außerdem ist das nicht dein Problem", entgegnete er demnach verärgert, seiner Mutter einen wütenden Blick schenkend. Es war gar nicht seine Absicht, so genervt zu reagieren, aber er wollte so wenig Leuten wie möglich an der Sache teilhaben lassen. Seine Familie reichte vollkommen aus, zumal Gemma nun auch Bescheid wusste.

Ja, du hast recht. Tut mir leid", antwortete die ältere Frau und musterte ihren Sohn. Sie war nun lieber übervorsichtig, denn sie wollte nicht, dass sie die ganze Sache nochmal erleben musste. Ob sie auch so handeln würde, wenn sie in diesem Moment gewusst hätte, dass Harry insgeheim schon seinen nächsten Versuch zu sterben plante? Diese Frage schwirrte dem jungen Mann durch den Kopf, doch statt über die Antwort nachzudenken, aß er seine Suppe auf.

Wenig später verließen sie die Kantine und gingen in Richtung des kleinen Parks, der an das Krankenhaus angrenzte. Er war wie ein kleiner, heimeliger Garten, nicht sehr groß, jedoch fast schon ein Paradies, wenn man bedachte, dass sich das Krankenhaus in der Londoner Innenstadt befand.
Es standen zwei Holzbänke darin, welche man über einen schmalen Steinweg erreichen konnte und dieser wiederrum umrahmte die kleine Wiese in der Mitte. Rechts und links standen jeweils zwei noch relativ junge Bäume, an welchen sich die Blätter teilweise schon leicht verfärbten. Dieser Ort, dieser kleine Garten, versprach Ruhe und Freiheit inmitten der ständigen, erdrückenden Hektik von London.
Als sie nach draußen traten, blieb der junge Mann einen Moment stehen, schloss seine Augen und atmete einmal tief durch. Er nahm die Luft, die nicht nach Desinfektionsmittel roch, in sich auf und genoss den Geruch von Gras und Natur. Wie sehr er diese frische Luft doch vermisst hatte. Diese Luft, die einen gleich viel befreiter fühlen ließ.
Die Vögel zwitscherten, auch wenn es bereits Anfang September war. Es würde zwar erst im November so richtig kalt werden, doch trotzdem wurde der Gesang der Vögel bereits weniger. Der Sommer nahm Abschied, starb langsam und machte Platz für den Herbst.

Zusammen liefen Mutter und Sohn etwas durch den Park, ohne ein Wort zu wechseln. Harry genoss die Stille und die Abwechslung zu dem Inneren des Krankenhauses und Anne genoss die Nähe zu ihrem Sohn. Es war eine angenehme Atmosphäre und sie liefen so lange herum, bis sie die Zeit vergaßen. Sie schlenderten zwei Mal um die kleine Wiese und ließen sich dann auf einer der Bänke nieder. Als es allerdings langsam dunkler wurde und die Sonne immer tiefer sank, wurde die zunehmende Kälte mit der Zeit unangenehm und so machten sie sich auf den Weg nach drinnen.
Nachdem sie zurück in das trostlose Zimmer gegangen waren, spielten sie noch eine Runde Scrabble, welches die dunkelhaarige Frau mitgebracht hatte. Früher hatte sie dies dauernd mit Harry gespielt, hatte ihn ab und an absichtlich gewinnen lassen, einfach weil sie sich darüber freute, ihren Sohn glücklich zu sehen.

Ich komme morgen mit Gemma, okay? Sie kommt heute Abend an", meinte Anne und es war eher eine Aussage als eine Frage, denn sie würden auf jeden Fall kommen.

Klar. Aber ihr müsst nicht so früh kommen. Zwölf passt auch", sagte der junge Mann und lächelte seine Mutter erneut an. Er hatte sich wirklich angestrengt und wenn seine Mutter dies morgen vielleicht dem Arzt erzählen würde, könnte er möglicherweise wirklich bald gehen.

Ja, ich schau mal, wie es bei uns passt", entgegnete Anne, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor sie sich noch einmal umarmten und verließ dann das Zimmer.
Augenblicklich ließ sich Harry in das Kissen zurückfallen und fuhr sich mit der Hand einmal über das Gesicht. Der Tag war anstrengend gewesen und er war froh, nun nicht mehr glücklich wirken zu müssen, denn er war allein und da interessierte es niemanden, wie er auf andere wirkte.
Etwas erschöpft griff er nach der Fernbedienung und schaltete etwas durch die Kanäle und obwohl es noch gar nicht so spät war, schlief er kurz darauf ein.

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