02 | lip gloss

they say my lip gloss is cool, my lip gloss is poppin'
i'm standing at my locker, and all the boys keep stopping

🅱︎🆁🅸🅳🅶🅴🆃'🆂 🆁🅴🅶🅴🅻🅽
#2: Ein Tag ohne Lipgloss ist kein richtiger Tag.


GRAHAM

Nun, wo sollte ich beginnen? Die Liste der Dinge, die mich maßlos ärgerten, wurde von Sekunde zu Sekunde länger. Traurigerweise war das nicht einmal ein Scherz. Normalerweise hatte ich meine Emotionen gut im Griff, aber heute war Montag – der mit Abstand schlimmste Tag der Woche, wenn man mich fragte – und dazu noch der erste Tag nach den Sommerferien. Ich glaubte nicht, dass wir jemals ein derartig schlechtes Training abgelegt hatten wie heute Morgen, aber ich redete mir ein, dass es daran lag, dass viele den ganzen Sommer nur auf ihren Ärschen gesessen und Chips gegessen hatten, statt auch nur ein Gewicht zu stemmen oder eine Runde zu rennen. Und verdammt, das war Rugby und nicht irgendeine Runde eines Kindergarten-Fußballspiels. Es war in diesem Jahr genauso ernst wie in den letzten. Am Ende der Woche würde das Probetraining für die Jüngsten beginnen, aber die waren im Normalfall ohnehin nicht bereit, sofort aufs Spielfeld zu gehen, wenn sie in Sekundarstufe kamen. Sie saßen meist erst ein Jahr auf der Bank, während sie wie verrückt trainierten, um auch nur fünf Minuten lang aufs Spielfeld geschickt zu werden. Dass es jemanden gab, der jetzt schon einsetzbar war, war ungefähr so wahrscheinlich, wie im Lotto zu gewinnen: nicht unmöglich, aber, seien wir mal ehrlich – darauf zählte man lieber nicht, wenn man in einer Saison erfolgreich sein wollte. Also redete ich mir ein, dass die absolute Katastrophe des Trainings nicht auf den Schulabschluss der unendlich talentierten Spieler zurückzuführen war. Nein, das wollte ich mir an diesem besonderen Montagmorgen nicht antun. Ich konnte in den folgenden Monaten die Hoffnung aufgeben, aber heute würde es noch nicht dazu kommen. Also schob ich den Gedanken zur Seite. Es gab nämlich noch weitere Gründe, wieso meine Laune heute im Keller war.

Ich freute mich zwar, wieder den ganzen Tag mit meinen Freunden zu verbringen, aber das hatte alles einen Preis. Meine Schwester. Wynona. Wyn redete nicht gerne darüber, aber ich wusste, dass ihre Schulzeit nicht einfach war. Sie erfand oft Ausreden, dass sie ausgerutscht war oder dass sie eine schlechte Note hatte, wenn sie Kratzer, einen Bluterguss oder ihre rot angeschwollenen Augen erklären wollte. Ich war nicht dumm. Ich wusste, dass ihre Schulzeit nicht einfach war, aber ich hatte mittlerweile alles versucht, um sie zu beschützen, während nichts dagegen half. Es interessierte plötzlich kein Mädchen mehr, ob ich im Rugby-Team war oder nicht. Man mochte Winnie nicht, Ende der Geschichte. Ich hasste es, dass man sie stets als „Winnie Puuh, die Dicke" bezeichnete und ihr klarmachte, dass sie hier keine Freunde finden würde. Ich hatte einen ganzen Sommer gebraucht, um sie davon zu überzeugen, sich nach den Ferien zu uns an den Tisch zu setzen, weil ich sie von hier aus beschützen konnte. Aber sie ließ sich schon wieder nicht blicken und das machte die Verzweiflung in mir nur noch schlimmer.

„Und du hast sie heute sicher nicht gesehen?", fragte ich meinen besten Freund, Tagdh Tennyson, der ein Jahr jünger war als ich und Wyn deswegen in der Schule öfter sah.

„Du hast sie heute sicher in die Schule gefahren?", konterte er unbeeindruckt und schob sich einen Bissen des Kartoffelstocks in den Mund. Tenn war einer der witzigsten und aufgedrehtesten Menschen, die ich kannte, aber seine gespielt ruhige Haltung verriet, dass ihn das alles nicht so kaltließ, wie er es gerne vorgab. Ich wusste an der Art, wie er Wynona behandelte, dass da etwas lief, von dem er mir nichts erzählen wollte, aber er war ungefähr so leicht zu lesen wie eine Betonmauer. Er blockte jegliches Gespräch in diese Richtung ab, obwohl er natürlich wissen musste, dass ich etwas wusste. Er sah sich im Essenssaal um und gab vor, dass er nonchalant durch die Gegend blickte, aber mir war klar, dass er ebenfalls nach Wyn suchte, und das machte alles irgendwie nur noch schlimmer.

„Sie wird schon vorbeikommen", mischte sich Charlie ein, der neben mir saß und genüsslich den Inhalt seiner Thermosflasche leertrank. Normale Menschen nahmen so ihren Tee oder Kaffee mit, aber Charlie trank stattdessen etwas, das verdächtig nach Whiskey roch. Charlie war einer der talentiertesten Spieler des ganzen Teams, und wenn er einmal in seinem Leben vielleicht nicht angetrunken gewesen wäre, hätte er mittlerweile vermutlich die gesamte Aufmerksamkeit der Scouts auf sich gezogen. Ich hatte schon oft versucht, ihm das klarzumachen, aber Charlie zuckte dann nur mit den Schultern. Finnegan Doyle, der letzte in unserer kleinen Truppe, sagte, dass Charlies Art mit seinen Problemen umzugehen vielleicht nicht ideal war, aber es war nicht so, als bliebe ihm viel anderes übrig. Seine Mom war alleinerziehend und sie schuftete schon so jeden Tag, was die kleine Familie kaum ernährte. Eine Therapie oder Sitzungen bei einem Psychologen waren unbezahlbar. Also ließ ich die Diskussion bleiben. Es würde niemandem helfen, wenn es ihm nur noch schlechter ging und er dadurch nur noch mehr trinken würde.

„Vielleicht sollte ich sie suchen gehen", beschloss ich und überging Charlies Kommentar. Ich schätzte zwar, dass er mich beschwichtigen wollte, aber ich machte mir Sorgen. Bei Wynona konnte alles los sein. Gerade als ich begann, meine Sachen zusammenzupacken, öffneten sich die Türen des Essenssaals wieder. Meine Augen blieben an meiner Schwester hängen. An ihrer sauberen Uniform und an ihren schlammigen Strümpfen. Sie sah sich unsicher im Raum um, ehe ihre Augen an unserem Tisch hängen blieben. Ich sah den inneren Kampf, den sie mit sich führte und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, damit sie ja nicht auf die Idee kam, schon wieder allein in einer Ecke zu sitzen und zu versuchen, sich hinter ihren Haaren oder einem Buch zu verstecken. Endlich setzte sie sich in Bewegung und kam zu uns gestolpert.

„Wynona", stellte Tenn fest und ließ seine dunklen Augen über meine Schwester wandern. Ein freundlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht und er schob sein Essenstablett etwas zur Seite. „Dein neues Lipgloss steht dir. Graham hat gar nicht erwähnt, dass du begonnen hast, dich zu schminken." Ich runzelte die Stirn. Wovon redete dieser Kerl denn eigentlich-...?

„Moment mal, seit wann benutzt du Lipgloss?", fragte ich sie. Charlie grunzte, während seine Mundwinkel zuckten. Natürlich fand er das witzig, aber er hatte Wynonas Rede darüber, dass man sie nur noch schlimmer auslachen würde, wenn sie sich schminkte, nicht gehört. Sie presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Ich schob ihr das Essen zu, das ich vorhin für sie gesichert hatte, als die besten Sachen noch zu Haben gewesen waren.„Danke", sagte sie an mich gerichtet.

„Wyn?", hakte ich etwas ungeduldig nach.

„Seit heute." Sie zuckte mit den Schultern und trank dann einen Schluck Wasser. Ich tauschte einen verwirrten Blick mit Doyle. Es war ein gewöhnlicher Montag, oder nicht? Sosehr ich mir auch wünschte, dass es so wäre, die Probleme meiner Schwester konnten sich über den Sommer unmöglich in Luft aufgelöst haben. Für jede außenstehende Person musste es wirken, als würden wir ein unnötiges Theater um Winnies Lipgloss machten, aber für sie war das eine riesige Sache.

„Du hast heute am Morgen noch kein Lipgloss getragen", stellte ich fest, als ich realisierte, wieso ich die ganze Zeit über so verwirrt war. Denn ich wusste, dass es mir aufgefallen wäre, als ich sie gesehen hatte. Wynona presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und warf mir einen entnervten Blick zu.

„Es ist nur Lipgloss, Graham. Wieso ist das alles so wichtig?"

Bingo. Da war also mehr dran, als sie mir verraten wollte, sonst wäre sie niemals so genervt von mir.

„Hat dich ein Mädchen dazu gezwungen, ihn aufzutragen?", hakte ich nach. Wynonas Wangen waren mittlerweile etwas gerötet und sie sah sich in der Runde um, aber niemand wollte dieses Verhör vermeiden. Wyn war für meine Freunde so etwas wie eine Schwester und es interessierte sie ebenfalls, ob ihr jemand Stress machte.

„Nein."

„Wie ist es dann dazu gekommen?"

Wynona kaute auf ihrer Lippe. Mir war schon klar, dass sie mich anlügen würde, bevor die Worte ihren Mund überhaupt verließen. Aus irgeneinem Grund schien sie die schlimmsten Menschen dieser Schule immer beschützen zu wollen. „Ich war auf der Toilette und da war eine Neue und sie hat mich gefragt, ob ich mir auch ihren Lipgloss auftragen möchte."

„Eine Neue?" Charlie setzte sich etwas gerader auf und wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Doyle. Ich knirschte die Zähne zusammen. Nein, nein, nein. Die beiden würden mich jetzt nicht von dieser Befragung abbringen-... „Wie heißt sie?"

„Bridget."

„Ist sie gerade hier?"

„Ich sehe sie nicht, nein."

„Und du hast Bridget nicht nur erfunden?", mischte sich Tenn ein, der erstaunlich lange nichts gesagt hatte. Von allen Menschen auf diesem Planeten stellte er wohl die direktesten Fragen. Sonst wäre diese Diskussion gar nie ausgebrochen.

„Nein, Tagdh Tennyson. Bridget ist so real wie du." Wynona sah aus, als würde sie gleich zu weinen beginnen. Ich stöhnte innerlich auf. Manchmal vergaß ich, dass sie ein wenig sensibler war als beispielsweise Doyle, den man problemlos ins Kreuzverhör nehmen konnte, ohne dass er damit überfordert war. Aber Wynona hatte täglich mit Menschen zu kämpfen und es war ein Fortschritt, dass sie sich überhaupt dazu überwand, bei uns zu sitzen. Wir mussten unser Glück nicht auf die Probe stellen, denn dann war das hier definitiv das erste und letzte Mal, dass sie überhaupt daran dachte, zu uns zu kommen.

„Ist sie hübsch?", fragte Doyle und warf ihr ein strahlendes Lächeln zu, um die kippende Stimmung zu überstrahlen. Wynona starrte ihn lange an, ehe sie seufzte.

„Ja, Bridget ist hübsch. Aber sie ist nichts für dich."

„So hübsch?"

„Eher so nett."

Charlie verschluckte sich beim Lachen an seinem Getränk und spuckte den Whiskey, den er gerade trank, direkt auf Doyles Essen. Auch Tenn konnte ein Lachen kaum unterdrücken, während ich Stolz verspürte, diese lebendige Seite von Wynona endlich einmal auch in der Schule zu sehen. Sonst war sie hier nicht mehr als der Hauch von einem Geist und zuhause dafür aufgeweckt und lebendig, weil sie zu verstecken versuchte, dass es ihr nicht gutging. Es war schwierig zu sagen, welche von beiden Versionen mir das Herz mehr brach. „Der war gut, Wyn. Wer hätte gedacht, dass du so viel Feuer in dir hast?"

Meine Schwester seufzte nur und machte sich danach schweigend über ihr Essen her. Ich sah sie an und lauschte dem Geplauder meiner Freunde. Bridget. Es war schwierig einzuschätzen, welcher Teil von ihrer Geschichte vorhin eine Lüge gewesen war, aber irgendetwas stimmte an der ganzen Situation nicht. Ich hatte noch nie von einer Bridget gehört und das war insofern merkwürdig, dass die meisten netten Menschen sofort in eine Gruppe fielen. Diese Gruppen aßen immer zusammen zu Mittag. Hier. Also blieb die Frage, wo Bridget war, wenn sie tatsächlich so nett war, wie Wynona es behauptete. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich von Wyn noch etwas herausbekommen würde, war sehr gering. Jedenfalls heute nicht. Also musste ich wohl selbst einige Recherchen anstellen, wenn aus dieser Sache etwas werden würde. Der Fall Bridget war somit offiziell eröffnet.

„Wie hast du deine Uniform überhaupt so gut gewaschen? Du hattest früher immer einige Ketchup-Flecken über dem Schullogo. Vielleicht müsste ich meiner Ma verraten, wie das geht, denn dann kriege ich vielleicht meinen Ru-...die Cola-Flecken raus", holte mich Charlie wieder zurück in die Realität zurück. Ich schnaubte, denn allen war klar, dass das keine Cola-Flecken waren, wie er es so schön formulierte.

„Oh...ähm...das ist-...also das ist ganz einfach-..." Wynona räusperte sich und wenn Tenn sich nicht verspannt hätte, dann wäre mir vielleicht gar nichts aufgefallen. Aber jetzt sah ich mir die Uniform ebenfalls genau an und die Flecken, die ich tausendfach versucht hatte herauszuwaschen, waren verschwunden. Ich runzelte die Stirn. Das konnte nicht sein. Wynona war in unserem Haus nie für die Wäsche zuständig, das war nämlich mein Job. Dementsprechend hätte ich diese Flecken herauswaschen müssen, aber das war unmöglich. Und wenn man sie nicht waschen konnte und da definitiv nicht einmal der Hauch eines Ketchup-Fleckens drauf war, konnte dies nur eine Sache bedeuten: Das war nicht dieselbe Uniform. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Wynona war nicht ganz ehrlich gewesen und was auch immer sie verschwiegen hatte, kam gerade an die Oberfläche.

„Was ist mit deiner echten Uniform passiert? Und woher hast du eine neue?", wollte ich wissen. So viel zu meinen Hoffnungen, dass sich etwas verändert hatte. So viel zum Thema, dass dieses Jahr anders werden würde. Besser.

„Ich weiß nicht, was du meinst", feixte sie. Nun, den panischen Ausdruck in ihren Augen konnte sie nicht verstecken und er war Antwort auf alle Fragen, die ich hatte. Es kostete mich alle Selbstbeherrschung, nicht aufzuspringen und die Person ausfindig zu machen, die ihr das angetan hatte. Aber dann fiel mir auf, dass sie theoretisch schon einen Namen genannt hatte.

„Was zum Teufel hat Bridget mit dir gemacht?", fragte ich, diesmal viel forscher. Nun, meine Selbstbeherrschung hatte sich schon lange verabschiedet, als ich aus dem Speisesaal stürmte, um diese neue Schülerin ausfindig zu machen. Vielleicht war es nötig, dass ihr jemand die Leviten las und ihr sagte, dass es nicht in Ordnung war, wenn man andere Menschen so schlimm behandelte, dass sie eine neue Schuluniform brauchten und ihrem Bruder gar nichts davon erzählen wollten. Ich hatte gesehen, dass nur die Strümpfe von Wynona Schlamm auf ihnen hatten, aber ich hatte mir nichts dabei gedacht. Und wenn Charlie oder Tenn nicht so vermeintlich harmlose Fragen gestellt hätten, wäre ich doch niemals selbst auf eine derartige Erkenntnis gestoßen. Und das nervte mich beinahe noch mehr, als dass eine sogenannte Bridget neu an der Schule war und es auf meine Schwester abgesehen hatte.


Ich denke, dass ich hier schon ein wenig Drama spüre 😌

Erste Einsrücke zu Graham und seiner Freundesgruppe?

Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat & wir lesen uns bald wieder 🫶🏻

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