❥ Epilog

Lyas POV

Noch vor einem Jahr hätte ich nicht gedacht, dass ich heute auf dieser Tribüne sitzen würde. Nun ja, eigentlich schon, aber ich wollte mir nicht vorstellen, ohne Nick den Schulabschluss zu machen. Schließlich wurden wir ja auch gemeinsam eingeschult.

Gerade hören wir unseren Schüler- und Jahrgangssprecher Isaac Miller zu, wie er eine Rede für uns hält. Maddie, Alec, Jonah und ich sitzen zusammen in der dritten Reihe. Links neben mir sitzt Alec und hält meine Hand.

Nach Isaacs Rede kommen noch einige andere Reden unserer Tutoren und die des Direktors. Danach werden auch schon die Zeugnisse ausgeteilt. Wir werden je nach Kurs einzeln aufgerufen. Als ich auf Mrs Anderson zutrete, um mein Zeugnis in Empfang zu nehmen, lächelt sie mich an. "Glückwunsch, Lyana. Es war nicht leicht, aber du hast es geschafft. Alles Gute für deine Zukunft."

"Danke, Mrs Anderson", antworte ich und erwidere ihr Lächeln.

Als wir alle unsere Zeugnisse haben und wieder auf unseren Plätzen sitzen, denke ich, dass die Feier jetzt vorbei ist, doch da tritt Isaac erneut ans Mikro. Verwirrt schaue ich zu Maddie, die nur mit dem Kopf schüttelt. Was kommt denn jetzt noch?

"Vielen Dank für all die netten Worte und unsere Zeugnisse. Jeder von uns hat eins bekommen, doch hier vorne liegt noch eins von einem Schüler, der heute nicht hier sein kann."
Fragend drehe ich mich nach rechts und links, doch ich sehe keinen leeren Stuhl. Alle scheinen heute hier zu sein und niemand fehlt.
"Unser ehemaliger Mitschüler Nick Clarke kann heute leider nicht hier sein. Trotzdem gehörte er jahrlang zu unserem Jahrgang und deshalb haben wir uns entschieden, dass auch er an unserer Abschlussfeier teilnimmt. Lya, würdest du bitte nach vorne kommen und Nicks Zeugnis entgegennehmen?"

Wie eingefroren sitze ich auf dem Stuhl. Erst als Alec meine Hand drückt, kann ich mich wieder bewegen und gehe zitternd nach vorne auf die Bühne. Als ich erneut oben stehe, suche ich nach den Augen meiner Freunden, die mich mit einem Lächeln angucken. Sofort flacht meine Nervosität ab und ich bringe ebenfalls ein Lächeln zustande.

"Da du immer seine beste Freundin warst und ihr wie Zwillinge wart, dachten wir uns, dass wir Nicks Zeugnis dir geben. Wir sind sicher, dass er das so gewollt hätte. Da stehen jetzt nicht alle Noten drauf, aber es gilt als eine Art Zeugnis", sagt Isaac zu mir abseits des Mikrofons.

Mit brennenden Augen nehme ich es an. "Danke, Isaac." Mehr bekomme ich nicht heraus, aber ich glaube, mein Gesichtsausdruck sagt alles. Nach einer kurzen, aber ehrlich gemeinten Umarmung gehe ich wieder auf meinen Platz zurück.
Maddie dürckt mich leicht an der Schulter, woraufhin ich ihr ein kleines Lächeln zuwerfe.

Auf meinem Platz schaue ich mir das Papier in meinen Händen an. Eigentlich hätte Nick es heute selbst abholen sollen. Eigentlich hätte Nick heute neben mir sitzen sollen. Eigentlich hätten Nick und ich unseren Schulabschluss gemeinsam machen sollen. Aber so weit sollte es wohl nie kommen. Eine Träne tropft auf das Papier. Kurz stelle ich mir vor, wie die Feier wohl mit Nick ausgesehen hätte. Das komplette Jahr wäre anders verlaufen. Ob es besser gewesen wäre? Ganz klar. So wäre mein Wunsch des perfekten letzten Schuljahres vielleicht in Erfüllung gegangen. Alles wäre perfekt gewesen. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit hätte ich Alec niemals kennengelernt. Ich hebe meinen Kopf und schaue in seine Richtung. Alecs Blick ist nach vorn gewandt und auf seinen Lippen ist ein kleines Lächeln abgezeichnet. All die Momente, die ich mit ihm verbracht habe, spielen sich vor meinem inneren Auge ab. Kaum merklich schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. Als Alec sich schließlich zu mir dreht, verschwindet sein Lächeln und er sieht mich besorgt an. "Ist alles okay?", fragt er und lehnt sich näher an mich heran.

"Ja", antworte ich. Und zum ersten Mal meine ich es ehrlich. Ja, es war ein verdammt schweres Jahr und zwischenzeitlich wusste ich nicht, wie ich das durchstehen würde. Aber jetzt weiß ich, dass ich nie alleine war. Ich hatte immer meine Familie, meine Freunde und meine Therapeutin, die mich unterstützt haben.

Ich lege meine Hand auf seine und sofort wird sein sorgvoller Ausdruck mit einem liebevollen überschattet.

*

Nach der Abschlussfeier und nachdem wir uns von allen anderen verabschiedet haben und Glückwünsche entgegengenommen haben, sind Alec, Maddie, Jonah und ich ins Auto gestiegen, um noch eine letzte Sache zu erledigen.

Als Alec den Motor austellt, wirft er mir einen Blick zu. "Ja, ich bin mir sicher", sage ich zu allen und steige demonstrativ als Erste aus dem Auto. Je näher ich Nicks Grab komme, desto schwerer fallen mir die Schritte. Zwar war ich in den letzten Monaten ziemlich regelmäßig hier und man müsste meinen, dass es irgendwann einfacher wird, vor dem Grab meines besten Freundes zu stehen, doch so ist es nicht. Es ist jedes Mal eine Überwindung für mich, aber wenn ich einmal davor stehe und anfange, mit ihm zu reden, wird es besser und ich fühle mich ihm sofort näher.

Vor Nicks Grab bleibe ich stehen und warte auf meine Freunde. Seine Mom musste wohl vor Kurzem hier gewesen sein und neue Blumen draufgestellt haben. Nick war nie ein Fan von Blumen und all sowas, aber die Sonnenblumen, die auf seinem Grab stehen spiegeln ihn mehr als gut wider. Ebenfalls ist eine Kerze an, wie eigentlich immer.

Kurz zucke ich zusammen, als Alec seinen Arm um mich legt. Doch sein warmes Lächeln verstärkt mein Gefühl, das Richtige zutun. Maddie und Jonah stehen jetzt auch neben mir. Jonah hat seinen Arm ebenfalls um Maddie gelegt. Es ist das erste Mal, dass ich mit all meinen Freunden, die auch Nicks Freunde sind, hier bin, abgesehen von seiner Beerdigung vor einem Jahr. Wahrscheinlich sollte es sich komisch anfühlen, tut es aber nicht. Irgendwie fühlt es sich so an, als wären wir das erste Mal seit langem wieder vereint.

Nach einer kurzen Stille, räupere ich mich. "Hey Nick. Heute sind wir mal alle gemeinsam hier. Wie du vielleicht siehst, kommen wir gerade von unserer Abschlussfeier." Es ist mir überhaupt nicht peinlich, vor meinen Freunden mit einem Grabstein zu reden und ich bin ehrlich froh, dass sie mich deswegen nicht schräg von der Seite anschauen. "Wir haben es alle geschafft", fahre ich fort und spüre bereits, wie mir die Tränen hochkommen. Wir alle, nur du nicht, Nick.
Maddie hakt ihren linken Arm bei mir ein und ermutigt mich somit, weiterzureden. Ich atme tief ein und wieder aus. "Obwohl du nicht da warst, warst du trotzdem irgendwie bei uns. Isaac, unser Jahrgangssprecher, wie du weißt, hat mir auch ein Zeugnis für dich gegeben. Es ist zwar kein richtiges Abschlusszeugnis, aber es ist besser als nichts. Wir haben es vorhin mit deiner Mom, die ebenfalls da war, aufgemacht und durchgelesen. Weil wir uns ja immer die Zeugnisse des anderen gesehen haben, wie auch die Tests und Klausuren, dachte ich, du hättest damit sowieso kein Problem." Ein kleines Lächeln huscht mir über die Lippen.
"Jedenfalls waren wir uns alle einig, dass wir es dir aufs Grab legen wollen." Ich löse mich aus den Umarmungen von Maddie und Alec und trete einen Schritt auf das Grab zu. "Nick Clarke, dies hier ist dein Abschlusszeugnis." Ich gehe auf seinen Grabstein zu und lege die Papierrolle davor ab. "Herzlichen Glückwünsch", flüstere ich und spüre, wie mir die erste Träne über die Wange rollt.

Einen kurzen Moment verweile ich noch davor kniend, ehe ich mich wieder zu meinen Freunden zurückstelle. Maddie versucht ebenfalls, ihre Tränen zurückzuhalten und Jonah wischt sich mit einem Anzugärmel über die Augen. Alec steht mit gefalteten Händen und gesenketem Blick davor und betrachtet den Boden.

"Da wäre noch eine Sache." Alle drei schauen überrascht zu mir auf, doch ich achte nicht auf sie und fahre unbeirrt fort. "Das ganze letzte Jahr über habe ich in dieses schwarze Notizbuch Briefe an dich geschrieben. Über all die Dinge, die ich dir gerne gesagt hätte, aber nicht konnte. Es ist einiges zusammengekommen und das Buch ist auch bis auf einige wenige Seiten vollgeschrieben. Aber in den letzten Monaten habe ich immer weniger Briefe geschrieben. Es ist nicht so, dass ich dir nichts mehr sagen wollte, sondern dass ich gelernt habe, darüber reden zu können." Ich schlucke. "Keine Ahnung, ob ich das jemals vollständig verarbeite werde, aber ich schätze, ich bin auch einem guten Weg. Ich werde dich auch immer vermissen, denn niemand wird jemals deinen Platz in meinem Leben ersetzen können." Jetzt schaffe ich es nicht mehr, meine Tränen zurückzuhalten und lasse sie einfach fließen. Ich trete einen Schritt nach vorn, sodass ich etwas Abstand zwischen mich und meine Freunde bringen kann.
"Heute möchte ich dir dieses Buch mit all meinen Briefen an dich, hierlassen. Deine Mom sagte mir, es sei okay, wenn ich es neben die Lampe mit der Kerze lege. Ich habe auch noch ein Schloss besorgt, um es abzuschleißen, falls es jemals irgendwie wegkommen sollte. Die Schlüssel habe ich an einen geheimen Ort gebracht, den nur wir beide kennen. So wird nie jemand wissen, was ich dir geschrieben habe. Genauso wie es früher immer war, als du meine Geheimnisse nie ausgeplaudert hast und ich deine nie."

Wieder gehe ich auf das Grab zu und lege mein Buch neben die Lampe. "Ich habe dich lieb, Nick. Immer", flüstere ich noch ein letztes Mal und gehe wieder zurück. Als ich wieder neben meinen Freunden stehe, kommen alle drei auf mich zu und umarmen mich. Ich bin nicht die Einzige, die weint, aber das ist okay. Mittlerweile habe ich gelernt, dass es okay ist zu trauern und dass gemeinsames trauern machmal die beste Lösung ist, um den Schmerz zu teilen und sich weniger alleine zu fühlen.

Als wir uns wieder voneinader lösen, spüre ich, wie ein warmer Sonnenstrahl auf mein Gesicht scheint und muss lachen. "Es sieht so aus, als würde er sich darüber freuen", sagt Jonah und lächelt mich an.

"Ja, ich glaube auch." Vielleicht ist es naiv zu denken, dieser Sonnenstrahl wäre eine Antwrt von Nick, aber das ist mir egal. Er gibt mir das Gefühl, von ihm angelächelt zu werden und hinterlässt ein warmes Gefühl in mir.

Alec kommt erneut auf mich zu und mustert mich besorgt. "Ist alles okay?"

Nach einer kruzen Denkpause nicke ich. "Ja, es ist okay." Ich strecke mich ihm entgegen und küsse ihn kurz, bevor ich ihn in meine Arme schließe. "Danke, dass du da immer da bist, Alec", murmle ich ihn sein Ohr.

"Das werde ich auch immer sein, Lya. Ich liebe dich zu sehr, um dich zu verlieren", entgegnet er.

Ich löse mich von ihm und schaue ihm in die Augen. "Ich liebe dich auch."

Hätte mir jemand gesagt, dass ich nach einem Jahr doch noch irgendwie glücklich sein würde, hätte ich denjenigen wohl ausgelacht. Aber es stimmt wohl, dass Zeit alle Wunden heilt. Klar, Narben werden immer bleibe, aber ich weiß, wie ich damit umgehen kann und wen ich um Hilfe bitten kann, wenn die Narben mal wieder zu sehr schmerzen sollten. Früher habe ich nie daran geglaubt, dass ich nach so einem Fall jemals wieder aufstehen könnte, aber manchmal trifft man auf Menschen, die den Fall stoppen können und einem wieder aufhelfen. Ohne meine Familie, Mrs Jensen, Maddie, Jonah und Alec hätte ich das nie geschafft. Ich bin froh, all diese Menschen an meiner Seite zu haben. Und noch froher bin ich, dass ich Alec in mein Leben gelassen habe. Vielleicht wurde er mir von Nick geschickt, vielleicht war es auch Schicksal oder auch nur ein Zufall. Aber im Endeffekt ist es auch egal. Das Wichtigste ist, dass er jetzt zu meinem Leben gehört und meinen Fall gestoppt hat.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top