❥ Chapter 55

Lyas POV

"Ist alles okay?", fragt Alec besorgt, als wir zur Treppe gehen.

"Nein, aber es wird", antworte ich darauf und zum ersten Mal meine ich es so, wie ich es gesagt habe. Diesmal sind es keine leeren Worte, die meine Umgebung hören möchte, sondern Worte, die ich aus tiefsten Herzen auch so meine.

"Lyana, hast du noch kurz Zeit für mich?" Mrs Clarke kommt aus dem Wohnzimmer zum Treppengeländer und bleibt neben uns stehen. Sie bemerkt, dass ich Nicks Pulli in der Hand habe und schenkt mir ein winziges Lächeln.
Ich drehe mich zu Alec, der einen Schritt abseits tritt. "Schon gut, ich warte im Auto. Nimm dir die Zeit, die du brauchst", sagt er an mich gewandt.

"Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mrs Clarke", sagt er zu Nicks Mutter und macht sich auf den Weg zum Auto.

"Was für ein freundlicher Junge." Weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll, verziehe ich meine Lippen nur zu einem peinlich berührten Lächeln und folge ihr ins Wohnzimmer, in das sie mich bittet. Dort setze ich mich auf das Sofa, während Mrs Clarke sich auf einen der Sessel setzt. "Möchtest du etwas trinken?", fragt sie freundlich, doch ich lehne ab. "Wie ich sehe, möchtest du den London Pulli behalten." Mit einer flüchtigen Handbewegung deutet sie auf den Pullover in meiner Hand.

"Oh, ich kann ihn auch hier lassen, wenn Sie..."

"Nein, das ist okay. Wirklich. Wir haben ja sowieso keine Verwendung für... für Nicks Klamotten. Sobald Joseph und ich bereit sind, sein Zimmer zu betreten, wollen wir seine Klamotten spenden. So findet sich wenigstens noch eine gute Verwendung dafür." Ein trauriges Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab; ich senke meinen Blick.

"Wie geht's dir denn?", fragt sie fürsorglich und ich sehe ihr wieder in die Augen.

"Es, ähm, tut immer noch sehr weh. Auch, wenn es fast ein Jahr her ist, gibt es Tage, an denen ich am liebsten einfach nur im Bett liegen und weinen würde, weil ich diese Bilder nicht aus meinem Kopf bekomme und mir alles zu viel wird", gebe ich zu und sehe, wie sehr meine Worte sie treffen.

"Ich weiß, wie du dich fühlst. Seit Nick... seit dem Tag, an dem du ihn in der Badewanne gefunden hast und er weggetragen wurde, haben weder ich noch mein Mann dieses Badezimmer betreten. Ich habe es versucht, aber... ich konnte es nicht. Seitdem benutzen wir nur noch das Badezimmer hier unten und die Dusche im Keller. In Nicks Zimmer waren wir seitdem auch nicht mehr. Den Abschiedsbrief, wie du ja jetzt weißt, hat er uns aufs Bett gelegt." Ich nicke. "Wir hatten zuerst vor, ausziehen, aber wir konnten uns nicht von den Erinnerungen, die wir mit diesem Haus verbinden nicht trennen. Ein neues Haus würde einen Neuanfang ohne Nick bedeuten und das wollen wir nicht. Unsere Therapeutin hat uns einen ähnlichen Vorschlag gemacht, aber wir sind noch nicht bereit, ihn loszulassen."

"Kann ich verstehen. Ich möchte Nick auch nicht loslassen, aber ich glaube, ich habe verstanden, dass ich das nicht muss, um weiterzuleben. Natürlich werde ich ihn nie vergessen, aber so langsam wird es einfacher, an gemeinsame Erinnerungen zu denken, weil ich es zulasse und nicht mehr dagegen ankämpfe, so wie vorher."

"Es freut mich, dass du das so siehst, Lya. Wir haben uns ja lange nicht mehr richtig gesehen aber ich merke, dass du dich verändert hast", stellt Mrs Clarke fest.

Für einen kurzen Moment setzt mein Herz einen Schlag aus. "Wie meinen Sie das?", frage ich unsicher und spiele mit der Kordel des Pullis in meiner Hand.

"Du läufst nicht mehr vor mir weg, bist wieder in diesem Haus und du siehst nicht mehr aus, wie ein Zombie." Das erinnert mich wieder daran, woher Nick seine Direktheit hatte.
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, also halte ich meinen Mund, bis sie anfängt zu lachen. "Ich meine es ernst. Es ist schön, dich wieder lebendig zu sehen." So wie sie es ausdrückt, klingt es, als wäre ich das ganze letzte Jahr tot gewesen. Aber vielleicht war es ja auch so. Vielleicht war ich innerlich für eine kurze Zeit so gut wie tot. "Liegt es vielleicht an dem Jungen?", fragt sie.

"An welchem Jungen?" Als wüsste ich genau nicht, wen sie meint.

"Dein Freund, der gerade im Auto auf dich wartet."

Ein peinlich berührtes "oh" etfährt mir und ich spüre, wie heiß meine Wange werden.

"Das muss dir nicht peinlich sein. Er scheint ein guter Mensch zu sein und wenn ich bedenke, dass du ihn mitgebracht hast, muss er dir wirklich viel bedeuten."

"Ja schon, aber er wird niemals ein Ersatz für Nick sein", erwidere ich schnell, worauf Mrs Clarke nur lacht und ich sie verdutzt angucke.
"Ich glaube kaum, dass, wie heißt er nochmal, Alec?" Ich nicke. "Nick ersetzten wollen würde. Wenn es so wäre, hätte er dich nicht hierhin begleitet. Außerdem habe ich gesehen, wie er dich ansieht. Ihr beide seid auf eine andere Ebene verbunden als Nick und du."

"Ich weiß, aber..."

"Es ist okay, Lyana. Mach dir keinen Kopf. Nur weil Nick zum Ende hin nicht glücklich war, muss das nicht automatisch für dich bedeuten, dass du es auch nicht sein darfst." Mrs Clarke beugt sich nach vorn und legt ihre Unterarme auf ihren Schoß ab. Ich senke meinen Blick und versuche das Brennen in meinen Augen wegzublinzeln, als sie eine Hand auf mein Knie legt, was meinen Blick wieder hochfahren lässt.
"Nick hätte sich nichts anderes für dich gewünscht, als dass du glücklich bist."

Ein Kloß in From einer unausgeprochenen Frage bildet sich in meinem Hals. Und warum hat er sich dann umgebracht, wenn er dich seinen Teil zu meinem Glücklichsein beigetragen hat? Doch ich schlucke die Frage runter. "Das habe ich mir auch immer für ihn gewünscht", murmle ich vor mich hin und spüre sofort wieder aufkommende Schuldgefühle.

"Das wusste er. Das wissen wir alle. Aber lass dich nicht davon runterdrücken. Mach das Beste aus deinem Leben. So kannst du Nicks Wunsch für dich wahrmachen." Ein schüchternes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Das ist genau der Satz, den Nick mir auf meine Geburtstagskarte geschrieben hat.
"Das werde ich. Danke, Mrs Clarke."

Sie lächelt mich an. "Dann hoffe ich, dass wir dich bald wieder öfter sehen. Auf jeden Fall auf eurer Abschlussfeier."

"Ja, das werden sie." Ich bin die einzige Verbindung, die sie noch zu ihrem Sohn haben und Mr und Mrs Clarke lieben Nick genauso sehr wie ich und ich glaube, dass diese Gemeinsamkeit etwas schönes sein kann, wenn ich mich darauf einlasse. Wenn wir uns an die schönen Erinnerungen mit Nick erinnern.

*

Nachdem mich Alec Zuhause abgesetzt hat, setze ich mich auf mein Bett und betrachte Nicks Tagebücher, die vor mir liegen. Ihr schwarzer Ledereinband starrt mich förmlich an. Sie erinnern mich an mein Notizbuch, in dem ich die Briefe an Nick geschrieben habe.
Ich stehe auf und hole es aus meiner Schublade. Dazu nehme ich mir noch einen Stift und setze mich wieder zurück auf mein Bett. Ich schlage es auf und weiß, was zutun ist.

Hey Nick,
das hier wird mein letzter Eintrag sein. Ich habe mich schon seit einiger Zeit nicht mehr so bei Dir gemeldet und das tut mir leid, aber es geht mir von Zeit zu Zeit besser. Klar, ich vermisse Dich immer noch wie verrückt, aber ich komme klar.
Deswegen war ich heute das erste Mal wieder bei Dir Zuhause in Deinem Zimmer und ich habe den Brief gefunden. Danke, dass Du mich nicht vergessen hast. Das war nämlich genau das, was ich von Dir hören musste. Auch, wenn Du es mir nicht mehr persönlich sagen konntest.
Ich habe die Tagebücher in Deinem Schrank gefunden und mitgenommen. Gerade liegen sie vor mir, aber ich glaube, ich bringe es nicht über mich, sie zu lesen. Es tut mir leid, aber ich glaube, ich werde sie einfach verbrennen. Wenn ich jetzt alles lese, was Dich in den Suizid getrieben hat, weiß ich nicht, wie und ob ich damit klarkommen werde. Also werde ich sie verbrennen.
Wenn ich das nächste Mal mit Dir reden möchte, werde ich Dein Grab besuchen und Dir einen kleinen Stern mitbringen, denn Du bist ja schließlich unser Lieblingsstern.
Gut, das war's wohl dann. Danke Nick, dass Du ein Teil meines Lebens warst und immer sein wirst. Danke, dass Du mein bester Freund warst. Es tut mir leid, dass ich Dir nicht helfen konnte, auch wenn Du es nicht wolltest.
Ich verspreche Dir hiermit, mein Leben zu genießen und das Beste daraus zu machen.
Ich habe Dich lieb, Nick Clarke. Ich werde Dich nie vergessen und Dich immer vermissen.
Deine
Lya

Ich klicke den Stift zu, lege ihn zur Seite und schließe das Notizbuch entgültig. Noch kurz bestrachte ich es und lege es dann zu Nick Tagebüchern. Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich bemerke, dass wir die gleichen Bücher haben. So anders waren wir nie und es erleichtert mich, dass Nick niemals kein Teil von mir sein wird. Das war er immer und das wird sich nie ändern.

*

Am Abend, als Tessa bei Garrett ist und Mom und Dad essen gehen, gehe ich bepackt mit Nicks zwei Notizbüchern in unseren Garten. Ich gehe zu unserer Feuerstelle neben dem Grill und zünde das Feuer an. Bevor ich die zwei Bücher hineinwerfe, schaue ich in den Himmel und bemerke, dass die Sonne untergeht. Der Himmel hat sich bereits leicht rot verfärbt. Es sind kaum Wolken zu sehen und ich weiß, dass in wenigen Stunden der Sternenhimmel zu sehen sein wird. Nick hätte das sicher gefallen.

"Danke für alles, Nick. Ich hab dich lieb", flüstere ich in das Knistern des Feuers und schmeiße die Bücher hinein.

Ich bereue nicht, die Tagebücher nicht gelesen zu haben. Es waren Nicks Geheimnisse und obwohl ich als seine beste Freundin gerne davon gewusst hätte, sind es immer noch seine. Vielleicht hätte ich ihn besser verstehen können, aber das hätte nichts an der Tatsache geändert, dass er tot ist.

Der Qualm, der wegen der brennenden Bücher nach oben steigt, stelle ich mir vor, wie eine Nachricht in den Himmel zu Nick.

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