❥ Chapter 44

Lyas POV

Nervös mache ich mich auf den Weg zu Alec. Eigentlich musste ich Zuhause nichts mehr holen, aber ich brauchte kurz Zeit für mich, bevor ich zu Alec gehe. Es ist nicht so, dass ich nicht gerne so oft in seiner Nähe bin, eher im Gegenteil.

"Ich bin dann weg", rufe ich in den Hausflur, als ich meine Schuhe anziehe.

"Alles klar. Wann bist du wieder zurück?", fragt Mom, den Kopf aus dem Wohnzimmer gestreckt.

"Wann soll ich wieder zurück sein?",  gebe ich die Frage zurück.

"Mir wäre es lieb, wenn du bis halb 11 wieder hier bist." Ich hatte wirklich gehofft, dass sie eine frühere Uhrzeit sagen würde, damit ich nicht allzu lang bei ihm hätte sein müssen.

"Okay. Bis dann." Ich schultere meinen Rucksack und verschwinde durch die Tür. Keine Ahnung, warum mein Herz immer schneller schlägt, je näher ich seinem Haus komme, aber ich hoffe, es normalisiert sich bald wieder. An der Haustür angekommen, atme ich noch einmal tief durch und drücke auf die Klingel. Es dauert nicht lange und ein lächelnder Alec, im schwarzen T-Shirt und Jeans steht vor mir mir. In der Schule vorhin hatte er noch einen Pulli an, den er jetzt wohl ausgezogen hat, weil es im Haus wärmer ist. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber so langsam wird mir ebenfalls warm.

Freundlich bittet er mich herein und ich stelle meine Schuhe an die Seite und hänge meine Jacke an den Haken. Wir gehen wieder hoch in sein Zimmer und ich sehe, dass Alec bereits eine Flasche Saft und zwei Gläser auf seinen Schreibtisch gestellt hat. Er bemerkt meinen Blick. "Ich hoffe, Saft ist in Ordnung. Wenn du lieber Limo oder was anderes möchtest, kann ich es dir gerne holen."

Seine Gastfreundlichkeit ist wirklich bemerkenswert, einfach zu süß. "Nein, ist schon okay. Vielen Dank."

Ich stelle meinen Rucksack neben den Teppich und lasse mich ebenfalls nieder. Alec setzt sich neben mich und holt auch seine Unterlagen heraus. Wir lernen still vor uns hin und beantworten uns gegenseitig aufkommende Fragen und fragen uns immer mal wieder ab.

Nach zwei Stunden kann ich nicht mehr sitzen und lege mich auf den Bauch. Meine Arme habe ich angewinkelt auf den Boden gestellt und stütze mein Kinn in meine Handflächen ab.

Alec steht auf und trinkt einen Schluck Saft. Als er sich wieder hinsetzt, berüht seine Hand leicht meinen Ellenbogen und sofort spannt sich mein ganzer Körper an. Er nimmt seine Hand wieder weg, zieht ebenfalls sein Biologiebuch hervor und liest weiter darinherum, während meine Gedanken noch immer vollkommen benebelt sind von dieser kleinen Berührung. Obwohl seine Hand schon längst wieder weg ist und es nur eine minimale Berührung war, kann ich sie noch immer spüren. Meine Konzentration ist weg, also klappe ich das Buch zu und setze mich auf.
Verwundert blickt Alec von dem Buch auf. "Ich kann mich nicht mehr konzentrieren", verkünde ich.

"Hm... ja, wir haben auch genug gelernt." Er klappt ebenfalls sein Buch zu und legt es zur Seite. "Ehrlich gesagt habe ich die letzte Viertelstunde nur irgendwelche Seiten gelesen, weil ich keine Lust mehr zum Lernen hatte, aber ich wollte dich nicht stören, weil du so konzentriert gewirkt hast", fügt er mit einem schüchternen Lächeln hinzu, was ein Flattern in meinen Magen verursacht.

Schnell verstaue ich meine Biologieunterlagen in meiner Tasche und drehe mich dann wieder zu ihm um. Alec sieht mich noch immer an und macht mich somit noch nervöser, als ich ohnehin schon bin. "Was ist?" Und dann fällt der Groschen. Diese Situation erinnert mich an meinen Traum. Sofort wird mein Hals trocken und mein Atem stockt.

Sein Grinsen wird breiter und mein Herzschlag erhöht sich. "Jetzt bist du also bereit, gegen mich anzutreten, ja?" Kurz verstehe ich nicht, was er meint, bis ich mir den eigentlichen Grund meines Besuchs wieder in den Kopf rufe. "Ach ja. Es kann zu jeder Zeit losgehen", formuliere ich kontrolliert ruhig, doch das leichte Zittern in meiner Stimme kann ich kaum verbergen. Was ist plötzlich nur los mit mir?

Alecs POV

Lya und ich sitzen, mit den Wiifernbedienungen auf dem Sofa vor dem Fernseher und spielen Mario Kart. Wie letzte Woche, ist es ziemlich knapp zwischen uns beiden, als plötzlich die Haustür aufgeht und ich erstarre. Ich lasse den Knopf der Fernbedienung los und bleibe stehen. Die meisten Fahrer überholen mich, sodass ich jetzt nur noch auf Platz 10 bin.

Lya fährt durchs Ziel und reißt triumphierend die Fernbedienung in die Höhe. "Ha! Siehst du?" Ihr Blick fällt auf meinen Teil des Bildschrimes. "Was ist denn mit dir? Eine Autopanne?", fragt sie belustigt, als ich Schritte ins Wohnzimmer kommen höre. Scheiße! Was macht er denn jetzt schon hier?

"Hey Alec, wo ist-" Carter stockt in seiner Bewegung und ich drehe mich blitzschnell um.

Mit zusammengezogenen und schiefgelegtem Kopf sieht er erst zu mir, dann zu Lya. Dann wieder zu mir und ein dämliches Grinsen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. "Hey, ich bin Carter", stellt er sich vor und tritt näher zu uns.

"Hi, ich bin Lya, eine Freundin von Alec." Die Peinlichkeit dieser Situation ist fast schon greifbar für mich.

"Ah, Lya. Schön dich kennenzulernen." Jetzt geht er näher auf sie zu und beide schütteln sich kurz die Hände. Mir entgeht der vielsagende Blick meines großen Bruders nicht, als er an mir vorbei wieder in den Flur geht. Genau deswegen wollte ich nicht, dass die beiden sich begegnen, doch jetzt ist es zu spät.

"Wow", sagt Lya, als nur noch wir beide im Raum sind.

"Was meinst du damit?" Eine Schwere breitet sich in meiner Magengegend aus. Was überrascht sie an meinem Bruder so sehr?

"Ihr seht euch kaum ähnlich", stellt sie überraschend fest, was mich erleichtert.

"Ja, das höre ich nicht zum ersten Mal. Gewisse Merkmale sind bei uns gleich, aber das ist nicht wirklich viel. Er hat mehr von meiner Mom als von meinem Dad." Ich frage mich, ob ich ihre Reaktion als gut oder schlecht einschätzen sollte. "Aber du siehst Tessa ziemlich ähnlich, finde ich."

"Ich weiß. Und doch wird sie immer der Sonnenschein von uns beiden bleiben", erwidert sie monoton. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie für mich der Sonnenschein ist, aber das wäre zu kitschig. Ich lege den Controler zur Seite und drehe mich zu Lya. "Wieso denkst du das?" Ehrlich gesagt kann ich diesen Gedanken gar nicht verstehen. Sie ist ein wirklich wundervoller Mensch, scheint das selbst aber nicht zu sehen. Okay, sie lächelt zwar nicht so oft, aber wenn sie es tut, dann ist es wie der erste Sonnenstrahl nach einem dunklen Winter. Man vergisst, wie hart die letzten Monate waren und ist einfach nur glücklich, dass die Sonne wieder scheint.

Kopfschütteld zuckt sie mit ihren Schultern.  "Tessa ist nunmal Tessa. Sie ist die Art Tochter, die sich jeder wünscht."

"Und du bist das nicht?"

Bevor sie die Möglichkeit hat, zu antworten, betritt Carter erneut das Wohnzimmer. Genervt drehe ich mich in seine Richtung. "Was ist?"

"Dad ist am Telefon und möchte mit dir reden." Mein ganzer Körper spannt sich an. Ich schlucke. "Du kannst ihm sagen, dass ich gerade nicht kann."

Vorwurfsvoll schaut er mich an. "Komm schon, Alec."

"Nein, Carter." Ich stocke. "Sag ihm, ich rufe ihn später nochmal an." Einen weiteren Moment bleibt er in dem Türahmen stehen und wartet darauf, dass ich meine Meinung doch noch ändere, aber das habe ich nicht vor. Ich habe jetzt keine Lust, mit Dad zu reden und mir noch mehr indirekte Vorwürfe anzuhören. Außerdem ist Lya gerade hier und das wäre unhöflich.

"Wegen mir musst du nicht darauf verzichten. Ist schon okay", sagt Lya an mich gerichtet, als Carter wieder aus dem Raum gegangen ist.

"Nett von dir, aber gerade möchte ich nicht mit ihm reden." Dabei kann ich nicht vermeiden, dass meine Stimme eine gewisse Schärfe in sich trägt. Auch Lya scheint das aufzufallen, denn ihre Augen verengen sich ein wenig. "Wieso, wenn ich fragen darf?"

Ich spüre, dass mein Herz immer schneller beginnt zu schlagen. Soll ich ihr wirklich die ganze Geschichte erzählen? "Wir ähm... kommen gerade nicht so gut miteinander klar", gebe ich zu und obwohl es der Wahrheit entspricht, ist es viel zu oberflächlich.

Lya sieht mich abwartend an und ich fühle mich gezwungen, weiterzusprechen. "Also, wir hatten eine Meinungsverschiedenheit."

"Verstehe. Worum ging es?" Das wird er wohl sein. Der Moment, in dem ihr klar wird, dass ich doch nicht dieser lässige Typ bin, den ich immer spiele und wahrscheinlich unsere Freundschaft zerstöre, weil ich ihr beichten muss, dass ich die ganze Zeit gelogen habe. Aber ich muss es ihr sagen. Schließlich hat sie mir auch viel über sich erzählt und da ist es doch nur fair, wenn ich das im Gegensatz auch tue. Es ist der Beweis, ob wir wirklich Freunde sind oder nicht. Ich atme tief durch, bevor ich spreche. "Ich muss dir etwas sagen", presse ich hervor und kann leichte Angst in ihren Augen aufflackern sehen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, als sie nicht antwortet, sondern mich nur gespannt anschaut. "Wir sind nicht wegen meinem Dad umgezogen. Er arbeitet beim Militär und ist somit immer mal wieder für eine längere Zeit von Zuhause weg." Kurz halte ich inne und warte eine Reaktion ab, doch nichts passiert.
"Es ist meine Schuld, dass wir umziehen mussten." Noch immer schaut mich stumm an und man könnte denken, dass sie mich nicht hören könnte, doch ich weiß, dass sie gerade nachdenkt und erst einmal meine ganze Geschichte hören möchte, bevor sie etwas dazu sagen möchte. "Okay, ich fange am besten mal von vorne an, damit du die ganze Geschichte verstehst." Lya setzt sich aufrecht und dreht nun auch ihren ganzen Körper zu mir. Ein Bein hat sie angewinkelt auf dem Sofa liegen, während sie das andere runterhängen lässt. Den rechten Arm hat sie auf die Sofalehne gelegt und der andere liegt auf ihrem angewinkelten Bein.
"Mein Dad liebt Sport. Er ist begeistert von allen möglichen Sportarten, aber Baseball fand er schon immer am besten. Früher haben er, Carter und ich jeden Tag gemeinsam in unserem Garten oder auf dem Platz gespielt. Dad hat immer gesagt, dass einer von uns beiden irgendwann bestimmt einmal ein Profispieler in der MLB sein würde. Zu diesem Zeitpunkt haben wir noch gelacht und dachten, das wäre ein Witz, aber er meinte das anscheinend ernst. Als Carter auf die Highschool kam, wurde er ins Baseballteam aufgenommen, worauf mein Dad extrem stolz war. Ich war total neidisch, weil ich auch unbedingt wollte, dass er auf mich stolz ist. Carter war ein guter Spieler, aber nach der Highschool hat er damit aufgehört. Dad war sehr traurig darüber, aber er hatte ja noch mich. Als ich auf die Highschool kam, wurde ich ebenfalls Teil des Baseballteams. Um ehrlich zu sein, war ich sogar einer der besten Spieler. Aber nach zwei Jahren wurde mir bewusst, dass ich eingentlich keinen Spaß mehr daran hatte und es nur noch meinem Dad zuliebe spielte. In der elften Klasse habe ich mich wirklich wie ein Arschloch aufgeführt und mich nicht von meiner besten Seite gezeigt, was mir im Nachhinein wirklich peinlich ist. Mein Team und ich, wir haben uns für die Könige der Schule gehalten, wie man es aus Filmen kennt. Aber ich habe nur mitgespielt, weil ich dazugehören wollte. Dumm, ich weiß. Keine Ahnung, irgendwann hat mich das alles erdrückt und ich habe angefangen, das Training zu schwänzen. Dad hat davon windbekommen und mich zur Rede gestellt, aber ich habe mir immer wieder Ausreden einfallen lassen, weil ich zu feige war, um ihm die Wahrheit zu sagen. Dann bekam ich die Idee, aus dem Team rausgeworfen zu werden. Ich habe mich wie der letzte Arsch aufgeführt und habe mich dafür gehasst. An einem Samstag im letzten Juni hatten wir ein Spiel, aber ich war nicht in Form. Mein Dad hatte uns überrascht, als er übers Wochenende zu uns kam und sich extra für mein Spiel freigenommen hat. Also wollte ich noch besser spielen als sonst und habe etwas Aufputschmittel genommen, damit ich wieder fit war, aber das ging komplett daneben. Ich bin im dritten Inning umgekippt, weil ich das Zeug anscheinend nicht vertragen habe und da mein Blut getestet wurde, kam das heraus." Lyas Augen weiten sich und sie schluckt. "Natürlich wurden alle benachrichtigt und das war mein Ende. Ich wurde sofort aus dem Team geschmissen, dessen Saison dann auch vorbei war und saß zwei Stunden lang im Büro meines Schulleiters mit meinen Eltern. Wie das gelaufen ist, kannst du dir wohl denken. Da unser Team sehr gut war, kamen die News mit meiner angeblichen Drogensucht und dem Ausscheiden der Mannschaft sehr weit in unserer Gegend und es dauerte nicht lange, da wusste jeder Bescheid. Ich durfte kein Baseball mehr spielen. Du glaubst nicht, wie wütend meine Eltern waren, als das rauskam. Dad hat eine Woche lang gar nicht mit mir geredet und mich nicht beachtet. Mom und meine Geschwister haben mich nur enttäuscht angeguckt und mich auch gemieden. Außer Mom, die mein Verhalten mit irgendwas psychologischem begründen wollte, so wie Psychotherapeuten sowas halt machen. Sie meinte irgendwas von einer Persönlichkeitsstörung, was kompletter Mist ist. Ja, ich hab Mist gebaut, sehr großen sogar, aber auch nur, weil ich dumm und zu feige war, die Wahrheit zu sagen."

Zwischen uns herrscht Stille und das einzige, was ich höre, ist mein Herzschlag. Lya sitzt noch immer stumm vor mir und schaut mich einfach nur an. Meine Angst vor ihrer Reaktion ist gewaltig. Ich habe Angst, dass sie jetzt aufsteht und nicht nur wortlos mein Haus verlässt, sondern auch mein Leben. Sie bedeutet mir einfach zu viel, um nicht Teil meines Lebens zu sein. Genau das versuche ich ihr mit meinen Augen zu sagen, so gut es geht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wendet sie ihren Blick ab und nimmt sich ihren Becher vom Tisch, um einen Schluck Saft zu trinken.

"Würdest du bitte irgendwas dazu sagen? Ich habe nämlich das Gefühl, hier gerade innerlich zu sterben", sage ich mit einem nervösen Lachen, was mein Zittern übertönt.

Lya stellt den Becher ab und dreht sich wieder zu mir. Sie rutscht ein Stück näher und setzt sich im Schneidersitz neben mich. "Okay."

Verwirrt blinzle ich sie an. "Was?", frage ich blöd. "Was meinst du damit?"

"Du hast mir den Grund erzählt. Was soll ich sonst noch sagen? Dass deine Aktion ziemlich scheiße war? Das weißt du selbst, denn ich habe noch nie jemanden gesehen, der so viel Reue in seinen Augen hatte wie du gerade. Dir jetzt noch mehr Vorwüfe zu machen, macht auch keinen Sinn mehr. Es tut mir leid, dass dieser Mist passiert ist und du jetzt noch immer die Konsequenzen zu spüren bekommst. Trotzdem danke, dass du es mir erzählt hast", antwortet sie mit einem kleinen Lächeln.

Ich ringe mich ebenfalls um ein Lächeln, jedoch wirkt es eher wie eine Grimasse. "Ich weiß, im Vergleich zu deinem Verlust ist das nichts, aber-"

Kopfschüttelnd sieht sie mich mit einem ernsten Blick an. "Das ist kein Wettbewerb, Alec. Ja, mein Verlust ist verdammt hart, aber das bedeutet noch lange nicht, dass deine Probleme weniger wichtig sind. Jeder von uns hat eigene Probleme, mit denen er oder sie klarkommen muss und ich finde, deins klingt auch nicht gerade einfach."

Wenn mich jemand fragen würde, ob es möglich ist, sich noch mehr in jemanden zu verlieben zu können, als man es sowieso schon ist, hätte ich die Antwort darauf. Und die lautet: ja.

"Ich denke, du solltst dich mal mit deinem Dad aussprechen. Nur ihr beide und dann komplett mit offenen Karten. Ich meine, er ist dein Dad und möchte mit dir reden, also wird ihm wohl etwas an dir liegen. Geh auf ihn zu."

"Verdammt. Du klingst genauso wie meine Mom, wenn sie mal wieder ihre Therapeutenstimme benutzt."

"Tja, irgendwas muss ich ja aus der Therapie mitnehmen, oder?"

Mein Lächeln friert ein. Natürlich konnte ich mir bereits denken, dass sie in Therapie ist. Nach so einem traumatischen Ereignis ist das klar und erleichternd zu wissen, dass sie sich frühzeitig Hilfe gesucht hat. Trotzdem trifft es mich immer wieder, wenn ich bedenke, was dieses wunderschöne Mädchen sehen musste.
Verunsichert zucke ich nur mit den Schultern.

"Nein, aber ich meine es ernst. Ihr solltet die Zeit, die euch noch bleibt gut nutzen. Man weiß nie, wann diese mal ablaufen wird", erwidert Lya fast flüsternd mit einem traurigen Lächeln.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und lege meine Hand sanft auf ihre, um ihr so zu vedeutlichen, dass sie nicht alleine ist und ich für sie da bin. Dabei dränge ich meine Gefühle für sie für einen kurzen Moment zur Seite und versuche, das Kribbeln in meiner Hand zu ignorieren. Lya zuckt kurz zusammen und blickt mich erschrocken an. Daraufhin schenke ihr ein warmes Lächeln und bemerke, wie sich das gewittrige Wolkengrau verzieht und ihre Augen etwas ausstrahlen, das ich nicht deuten kann. Ich weiß nur, dass unsere Blicke so intensiv miteinander verfangen sind, dass ich alles um mich herum vergesse. Selbst, dass der Fernseher noch an ist, aber schon seit dem Anfang unserer Unterhaltung auf stumm geschaltet ist. Es ist unmöglich, meine Augen von ihren abzuwenden.

"Du hast wirklich schöne Augen", unterbreche ich unsere angenehme Stille und bemerke, wie sich ihre Wangen zu einem leichten Rosa verfärben. Sie ist süß, wenn sie rot wird.

"Danke." Es ist deutlich, dass ihr dieses Kompliment unangenehm ist, jedoch gefällt.

Lyas POV

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber Alecs Geschichte ist ziemlich krass. Niemals hätte ich gedacht, dass ausgerechnet er solche Dinge getan hätte. Aber das zeigt mal wieder, dass niemand perfekt ist und alle einmal Fehler machen. Er wirkte auf mich nie wie jemand, der großen Mist baut oder so sehr seinem Vater gefallen will, dass er das, was er möchte, ignoriert, aber das hat er ja nur gemacht, weil es für ihn sonst keinen anderen Weg gab, obwohl es ihn gab. Vielleicht war genau das auch Nicks Problem. Er dachte, er hätte nur einen Ausweg, doch in Wahrheit gab es noch andere, die er nur nicht gesehen hat, weil er sich nur auf eine Richtung fokussiert hat.
Und genau diese Tatsache, dass er doch nicht so perfekt ist, wie ich dachte, macht ihn irgendwie noch sympathischer, irgendwie menschlicher. Ich weiß nicht, ob Jonah davon weiß, aber mit der Unsicherheit und Angst, die er eben noch in der Stimme hatte, lässt mich vermuten, dass er es bisher noch niemandem erzählt hat, außer mir und das lässt mein Herz schneller schlagen. Er vertraut mir. In seinen braunen Augen kann ich jetzt seine Offenheit und Wärme erkennen, die er zwar immer ausstralt, aber irgendwie wirkt es diesmal anders. Ich kann ihm deutlich in die Augen sehen. Nichts hängt mehr davor. Kein Schleier, keine Geheimnisse und auch keine Lügen mehr. Wahrscheinlich sollte ich mich jetzt erstmal zurückziehen und über die Dinge nachdenken, die er mir gerade gebeichtet hat, aber das muss ich nicht. Irgendwas in mir sagt, dass ich den wahren Alec Scott bereits kennengelernt habe und er mir seit Tag eins nichts vorgespielt hat.

Er lehnt seinen Oberkörper fast in Zeitlupe in meine Richtung und kommt mir somit immer näher. Ich kann das Blut in meinen Ohren rauschen hören und mein Kopf ist wie leergefegt. Immer wieder kann ich nur noch daran denken, wie sich seine Lippen wohl auf meinen anfühlen und dass ich es unbedingt herausfinden möchte. Mein Atem stockt und ich bin wie erstarrt, als Alecs Gesicht nur noch weniger Zentimeter von meinem entfernt ist.

Schlagartig wird mir bewusst, was ich eigentlich schon die ganze Zeit wusste, mir aber nicht eingestehen wollte.

Ruckartig stemme ich mich vom Sofa auf und sehe erschrocken auf ihn herab. In seinem Augen funkeln Verletzung und Verwirrung, die er nicht verstecken kann. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich kann nicht länger hier bleiben. "Ich muss los", sage ich, als ich endlich wieder meine Stimme wiedergefunden habe. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, stürme ich in den Flur, ziehe meine Jacke und meine Schuhe an, so schnell es geht, um von ihm wegzukommen, doch im nächsten Moment steht Alec bereits hinter mir und mustert mich skeptisch. "Ich lasse dich nicht alleine nach Hause gehen, Lya." In meiner hektischen Bewegung halte ich inne und presse meine Lippen aufeinander. Ich schaffe es nicht, mich umzudrehen und in seine Augen zu sehen, dafür schäme ich mich viel zu sehr.
"Es... es ist doch noch nicht spät und... und außerdem muss ich nicht lange laufen", stammle ich.

"Trotzdem. Man weiß nie, was passieren kann", erwidert er mit fester Stimme und ich hasse ihn für seine Fürsorglichkeit, weil dieses mir nämlich ein angenehm warmes Gefühl durch meinen Körper jagt.

Schließlich gebe ich mich geschlagen und stimme zu, dass er mich schnell nach Hause fährt, weil er nämlich niemals nachgegeben hätte. So gut kenne ich ihn mittlerweile. Alec ist nicht jemand, der ein Mädchen im Dunkeln alleine durch die Gegend laufen lässt, auch, wenn der Weg sich nur über einige Straßen zieht.

Den ganzen Weg über sprechen wir kein Wort miteinander. Während Alec seinen Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet hält, schaue ich durch das Fenster der Beifahrerseite, obwohl ich immer mal wieder durch meinen Augenwinkel zu ihm rüberspingse, doch sein Blick wandert nicht einmal zu mir.

Als er vor meinem Haus zum stehen kommt, schlatet er den Motor aus und dreht sich zu mir. Hastig nehme ich meine Tasche vom Fußboden und schnalle mich ab. Meine Hand liegt schon auf dem Türöffner, als Alec mich zurückhält. "Warte." Ich lasse meine Hand langsam sinken und drehe mich zögernd zu ihm. Im schwachen Licht des Autoinneren kann ich nicht viel von seinem Gesicht erkennen, aber die Angst in seinen Augen sehe ich mehr als deutlich. Wovor hat er Angst?

"Es tut mir leid." Das ist alles. Mehr sagt er nicht. Perplex blinzle ich ihn an. "Das muss es nicht, es ist ja nichts passiert", erwidere ich darauf und steige schnell aus dem Wagen.

Bevor ich die Tür zufallen lasse, rufe ich noch ein "Danke fürs Nachhausebringen" hinterher und laufe, ohne mich noch einmal rumzudrehen, ins Haus. Ich beeile mich und stolpere fast über die Stufen, als ich mich endlich auf mein Bett fallen lasse.
Ich bin ein schlechter Mensch. Ein wahrer Abtraum. Wie abserviert habe ich ihn stehen gelassen und mich dann noch von ihm nach Hause fahren lassen. Gott, wie erbärmlich ist das bitte? Dazu noch habe ich ihn angelogen. Natürlich war da nicht nichts. Da war etwas und fast hätten wir uns geküsst, wenn mein Hirn sich nicht rechtzeitig wieder eingeschaltet hätte. Keine Ahnung, ob ich froh darüber sein soll oder nicht. Überwältigt schlage ich mir beide Hände vor das Gesicht und stöhne frustriert auf. Ich hoffe, ich habe nicht allzu viel von unserer Freundschaft zerstört. Aber so, wie ich Alec kenne, wird er am Montag so tun, als wäre nichts passiert und weiterhin meinen guten Freund spielen. So wie bisher. Obwohl ich ihn nach meiner Zurückweisung noch nie so verletzt gesehen habe, wird er wieder sein typisches Alec-Lächeln auf den Lippen haben.

Bei diesem Gedanken zieht sich meine Brust zusammen, aber so ist er nunmal. Er ist er und ich bin ich. Er ist Alec Scott. Und ich, Lyana Healey, habe mich ihn in verliebt.

Alecs POV

Komplett abwesend fahre ich wieder nach Hause. Im Hintergrund läuft leise Radiomusik, doch das nehme ich gar nicht richtig wahr, weil ich viel zu sehr in meinen Gedanken vertieft bin. Ich weiß nicht genau, was eben passiert ist, aber ich weiß, dass ich zu weit gegeangen bin. Ja, ich wollte sie küssen und für einen kurzen Moment war ich davon überzeugt, dass sie das auch wollte. Doch so war es nicht. Am liebsten würde ich meinen Kopf so fest gegen die Wand schlagen, damit ich diesen Abend so schnell wie möglich vergessen kann. Jetzt habe ich alles kaputt gemacht. Verdammt, warum konnte ich mich nicht einfach zurückhalten? Ob es anders verlaufen wäre, wenn ich ihr nicht alles anvertraut hätte? Ob das vielleicht auch einer der Gründe für ihre Zurückweisung war?

In der Einfahrt angekommen, stelle ich den Motor aus und bleibe noch kurz sitzen. Ich genieße die Stille im Auto, bevor ich mich abschnalle und ins Haus gehe. Gerade, als ich die Haustür schließe, kommt Carter die die Treppe runter, bleibt jedoch auf der letzten Stufe stehen und betrachtet mich skeptisch.
"Ist sie schon weg?", fragt er überrascht.

"Ja", antworte ich knapp und ziehe die Schuhe aus, die ich danach zur Seite stelle. Ich trete näher zur Treppe und bleibe vor Carter stehen, der mir den Weg versperrt. "Kann ich mal durch?", bitte ich genervt und er tritt zur Seite.

"Was ist passiert?"

Auf halbem Weg nach oben drehe ich mich zu ihm um und begegne seinem leicht besorgten Blick. "Nichts." Daraufhin laufe ich weiter nach oben in mein Zimmer und lasse mich auf mein Bett fallen. Kurze Zeit später geht meine Zimmertür auf und Carter schiebt sich herein.
"Das sieht aber nicht nach nichts aus, Alec."

"Du brauchst mich nicht immer zu bemuttern, Carter", gebe ich bissgig zurück. Er verengt seine Augen, kommt auf mich zu und setzt sich neben mich. "Ich weiß, aber du bist mein kleiner Bruder und alles in deinem Gesicht schreit danach, dass irgendwas vorgefallen ist. Also, erzähl", fordert er mich auf und setzt sich auf meine Bettkante.

Seit der Sache mit dem Baseballspielen habe ich das Gefühl, dass meine ganze Familie mich genau im Auge hat. Als ob es nicht reicht, dass Mom mir ständig im Nacken hängt und wissen will, was in meinem Leben so abgeht, jetzt kommt auch noch er.

Seufzend fahre ich mir durch die Haare. "Ehrlich Carter, ich will nicht darüber reden." Demonstrierend stehe ich auf und setzte mich an den Schreibtisch. Ich nehme mir irgendein Schulbuch aus meiner Tasche, schlage es auf und tue so, als würde ich lesen.

Resigniert steht Carter auf und verlässt mein Zimmer. Als ich endlich alleine in meinem Zimmer bin, schlage ich das Buch zu und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Verdammte Scheiße!

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