❥ Chapter 3
Lyas POV
Nach einer Stunde ist es endlich vorbei und wir können gehen. Wir redeten über die vergangene Woche und wie wir uns jetzt fühlen. Es war wie immer: total langweilig und die reinste Zeitverschwendung. Keine Ahnung, irgendwie habe ich das Gefühl, mir wird diese Gruppe nicht helfen.
"Endlich! Ich dachte schon, diese Stunde würde gar nicht mehr enden", flüstert Hailey mir zu, als wir den Raum verlassen.
"Allerdings. Es hat sich wieder angefühlt wie eine halbe Ewigkeit." Hailey stimmt mir mit einem kleinen Lächeln zu.
"Ich wollte noch zu Jack gehen. Willst du vielleicht mitkommen?", fragt sie, während wir gemeinsam die Treppe hinuntergehen.
"Ich kann nicht, sorry. Ich muss hier auf meine Mom warten, weil wir noch einen Termin haben." Ausnahmsweise kommt mir Moms Termin sehr gelegen. Ich habe nämlich, ehrlich gesagt, keine Lust auf Haileys Kifferfreund Jack, aber so direkt möchte ich ihr das nicht sagen. Ich will keine Spielverderberin sein und außerdem würde sie es wahrscheinlich nicht verstehen. Wie gesagt, an sich ist Hailey kein schlechter Mensch, aber ich habe nicht vor, in meiner Selbsthilfegruppe Freundschaften zu knüpfen. Wir sind nur nett zueinander und das war's auch schon. Bin ich froh, wenn ich hier wieder weg bin und zu Hause in meinem Bett sein kann.
"Okay, dann vielleicht nächstes Mal. Bis nächsten Dienstag." Sie winkt mir kurz zum Abschied zu, während ich vor dem Eingang stehen bleibe und sie weggeht.
Nun stehe ich hier und warte auf meine Mom. Da ich nichts Besseres zutun habe, nehme ich mein Handy heraus und öffne meine SMS App. Ich schaue meine Chats durch und sehe den Namen Nick an erster Stelle angepinnt. Ich tippe auf den Chat und lese mir unseren letzten Verlauf durch. Immer und immer wieder. Dies tue ich in letzter Zeit ziemlich oft. Vielleicht sogar zu oft.
Diesmal schaue ich mir zuerst sein Profilbild an. Darauf sind er und ich zu sehen. Erinnungen kommen hoch und nehmen meine Gedanken ein. Es kommt mir vor, als wäre es erst vor wenigen Tagen entstanden und nicht schon vor über einem Jahr.
Damals waren wir, also meine Eltern und meine Schwester, mit Nick und seinen Eltern im Urlaub in London. Unser erster Aufenthalt außerhalb Amerika und wir haben uns so sehr darauf gefreut. Nick und ich mussten wirklich unsere Überzeugungskraft spielen lassen, damit unsere Eltern es überhaupt in Erwähnung ziehen, diese Reise, unseren gemeinsamen Traum, wahrzumachen. Also gaben wir alles und hatten richtige Argumentationen geschrieben und zwar so, wie wir es in der Schule gelernt haben. Nach einigen langen Diskussionen willigten sie erfreulicherweise ein und wir freuten uns sehr. Doch sie stellten eine Bedingung auf: Wir mussten einen Teil selbst dazugeben, indem wir uns kleine Jobs, wie Babysitten, Rasenmähen, für ältere Nachbarn einkaufen gehen und ähnliches suchen sollten, damit wir ihnen zeigen konnten, wie ernst wir es meinten. Also machten wir das und hatten bis zu den Sommerferien einiges an Geld zusammengespart. Da uns bewusst war, dass so eine große Reise teuer werden würde, strengten wir uns doppelt so sehr an und verzichteten auch öfter mal auf etwas. Aber das war es definitiv wert. Es waren die schönsten Tage meines Lebens und wir hatten eine Menge Spaß.
Auf dem Bild stehen Nick und ich vor der Tower Bridge und tragen einen Pulli mit der Aufschrift London – England. Die typischen Touris also. In unseren Gesichtern kann man ein breites und ehrlich glückliches Lächeln sehen. Bei diesem Anblick scheint der Gedanke unmöglich, dass Nick sich in weniger als einem Jahr darauf das Leben nehmen würde. Somit war es unser erster und auch letzter gemeinsamer Urlaub in unserer Lieblingsstadt. Wir hatten noch eine viel längere Liste an Städten, die wir zusammen bereisen wollten, aber das werden wir nie wieder können...
"Lyana?" Erschrocken fahre ich hoch und mir fällt schon fast das Handy aus der Hand, als meine Mom vor mir steht. Ich habe sie gar nicht kommen hören. Schnell sperre ich mein Handy wieder und packe es in die Jackentasche.
Darauf sagt sie nichts, schaut mich aber etwas bemitleidet an. Jap, sie weiß was ich mir da gerade angesehen habe. Sie hat mich dabei nämlich schon öfters erwischt.
"Also... was wolltest du hier jetzt noch besprechen bzw. mit wem?", frage ich in einem unschuldigen Ton, um das Thema zu wechseln.
"Ich habe einen Termin mit Mrs Jensen vereinbart."
Das hätte ich mir auch irgendwie denken können, aber trotzdem macht es mich stutzig. Warum möchte sie mit meiner Therapeutin reden? Und vor allem, warum muss ich dabei sein?
"Ja und? Das schaffst du ja dann alleine oder nicht?"
Mom atmet ruhig aus."Nein, Lyana, das kann ich nicht. Es geht schließlich um dich, also solltest du auch dabei sein."
Meine Güte, war das ihr verdammter Ernst? Ich weiß ja, dass ich nicht mehr so bin, wie ich mal war, aber das muss sie mir hiermit jetzt nicht auch noch bestätigen. Als ob es nicht schon genug für mich ist, dass ich eine Stunde hier war, jetzt muss ich wahrscheinlich nochmal eine Weile mit meiner Therapeutin und meiner Mutter gemeinsam reden. Super, was für ein toller Tag. Warum bin ich vorhin nicht einfach schon nach Hause gelaufen, als sie noch nicht hier war? Genervt rolle ich meine Augen.
"Ach komm, Lyana. Ich will doch nur..."
"...das Beste für mich. Schon klar", beende ich ihren Satz.
"Warte doch erstmal ab, okay? Wenn wir dann wieder Zuhause sind, mache ich dir etwas Leckeres zu Essen, in Ordnung?" Sie schenkt mir ein leichtes Lächeln.
Einen kurzen Moment sehe ich sie nur an und sage nichts. Das Essen ist mir sowas von egal und das weiß sie genau. Als ich noch klein war konnte sie mich so vielleicht zu verschiedenen Dingen überreden, aber jetzt nicht mehr. Das Problem ist, dass sie mich trotzdem dazu zwingen kann, mit ihr zu dem Termin zu gehen, weil ich noch 17, also minderjährig bin und sie meine Erziehungsberechtigte ist. Da ich schon genug Probleme anschleppe, sollte ich ihr wohl den Gefallen tun und es einfach über mich ergehen lassen, ohne eine Szene zu machen. "Na gut, wenn's sein muss."
"Ja, muss es. Und jetzt los, ich möchte mich nicht all zu sehr verspäten." Mom geht vor und ich tapse ihr hinterher zur Rezeption, wo wir auf Mrs Jensen warten.
*
"Guten Tag, Mrs Healey und noch mal Hallo, Lyana. Folgen Sie mir und nehmen Sie Platz." Mrs Jensen gibt erst meiner Mom und dann mir die Hand zur Begrüßung und führt uns zu ihrem Büro. Sie hält uns sie Tür auf und lässt uns zuerst hineintreten. Sie setzt sich auf ihren Bürostuhl, während wir uns auf die beiden Stühle gegenüber von ihr setzen. Ihr Büro sieht noch genauso aus wie vor wenigen Wochen, als meine Eltern mich das erste Mal hierher schleppten: weiße Wände, hinter ihr hängt ein Bild irgendeiner Landschaft und an der rechten Wand steht ein schwarzes Regal mit vielen Akten und Büchern. Alles in allem sieht es genauso aus wie das Sprechzimmer eines Arztes.
"Sie hatten mich angerufen, Mrs Healey, und wollten etwas mit mir besprechen. Soweit ich weiß, betrifft es Dich, Lyana", sagt sie freundlich und sieht zu mir, als sie meinen Namen erwähnt und dann wieder zu Mom.
"Ja genau, es geht um die Selbsthilfegruppe."
Jetzt werde ich hellhörig. Was ist denn mit der Selbsthilfegruppe? Will sie nun sagen, dass ich nicht mehr herkommen muss? Wobei das sicher nicht passieren würde... Schließlich hätte sie mich vorhin sonst nicht hergefahren. Das wäre ja auch zu schön.
Meine Therapeutin nickt und fragt, was spezifisch sie ansprechen möchte. Mom schwenkt ihren Blick kurz in meine Richtung und muss wohl bemerkt haben, dass ich verwirrt bin und nicht weiß, was sie sagen möchte. Im nächsten Moment fragt Mrs Jensen meine Mom, ob sie nicht erstmal alleine darüber mit ihr reden wolle und ich nicht vorerst vor dem Sprechzimmer warten solle und später wieder reinkommen könne.
Mom willigt zögernd ein und ich gehe nach draußen und setzte mich auf einen der Stühle im Warteraum, direkt neben ihrem Büro.
Ich nehme mir eins der Magazine, die auf dem kleinen Glastisch neben mir liegen und blättere darin herum. Artikel über Artikel über verschiedene psychische Krankheiten und Arten von Therapien schmücken die Seiten des Magazines. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, einen davon zu lesen und blättere einfach weiter. Obwohl erst Minuten vergangen sind, fühlt es sich an, als würde ich bereits Stunden hier sitzen.
Da ich mittlerweile an der letzten Seite angekommen bin, lege ich das Magazin wieder zurück auf den Stapel und schaue stattdessen durch die Gegend. Meine Aussicht ist mindestens genau so langweilig wie die veralteten Magazine, die hier ausliegen. Alles ist weiß und schreit förmlich das Wort Krankenhaus. Wie ich diese Farbe hasse. Es erinnert mich an das Badezimmer.
Bevor meine Gedanken noch in eine Richtung gehen, die ich nicht gehen möchte, suche ich nach etwas, das nicht weiß ist. Plötzlich höre ich das Öffnen einer Tür und denke erst, dass meine Mom mich wieder ins Zimmer bitten möchte, doch es ist eine andere Tür, die gerade aufgeht.
Reflexartig drehe ich meinen Kopf in die entgegengesetze Richtung und sehe einen Jungen, der gerade den Flur entlangläuft. Ich kenne ihn nicht, und doch habe ich das Gefühl, dass er mir irgendwie bekannt vorkommt.
Er hat ungestylte braune Haare und einen gelangweilten Ausdruck auf dem Gesicht. Mehr nehme ich auch gar nicht mehr wahr, als er meinen Blick erwidert. Ich erstarre. Der Junge sieht genauso aus wie Nick. Es kommt mir vor, als würde er mir gegenüber stehen und auf einmal sehe ich ihn wieder in blutüberströmt in seiner Badewanne liegen. Mir stockt der Atem und ich habe das Gefühl auf dem Stuhl zu kleben und mich nicht bewegen zu können. Am liebsten würde ich rausrennen, um frische Luft zu schnappen, aber ich kann nicht. Ich habe Angst zu ersticken, bis mein Körper wieder seinen natürlichen Ablauf einsetzt und mich atmen lässt.
Noch immer starre ich auf den Punkt, an dem der Junge die Türe hereinkam, als mein Verstand sich wieder einschaltet. Ich atme tief ein und bemerke, dass er schon längst wieder weg ist. Das war nicht Nick. Das war nur ein Junge, der ihm ähnlich sieht. Das konnte er nicht gewesen sein. Versuche ich mir immer wieder zu sagen. Er ist tot, Lya. Du hast die Leiche gesehen, er lebt nicht mehr.
Langsam beruhige ich mich wieder und frage mich, was dieser Junge wohl von mir dachte, als ich ihn wie eine Irre angestarrt habe. Wahrscheinlich, dass ich vollkommen gestört bin. Am richtigen Ort dafür bin ich ja bereits.
Das war nicht das erste Mal, dass ich in so eine Schockstarre verfallen bin. Seit Nicks Tod ist sowas bereits öfter vorgekommen. Auf der Straße, in Träumen... Besonders in Träumen. Seitdem ich Nick in in seiner Badewanne mit aufgeschnittenen Pulsadern in seinem Blut baden sah, ist nichts mehr wie es einmal war. Ich bekam immer mehr Albträume, von denen ich schreiend aufwachte und fing an, die Farbe Rot, ganz besonders Blut, zu meiden, was letztendlich das Tüpfelchen auf dem i war, warum meine Eltern mich in diese blöde Gruppetherapie gesteckt haben. Sie hatten Angst, ich würde damit nicht klarkommen und mir auch noch das Leben nehmen. Deshalb hatten sie es eigentlich schon kurz nach Nicks Suizid vor, aber ich blockte jedes Mal ab, bis sie irgendwann genug hatten und mich heimlich hier anmeldeten und mich unter einem falschen Vorwand hier absetzten.
"Lyana?" Vor Schreck drehe ich mich in Richtung Sprechzimmertür und sehe meine Therapeutin im Türrahmen stehen.
"Ähm... ja?", gebe ich verdutzt zurück.
"Du kannst wieder reinkommen", sagt sie in einem ruhigen Ton und schenkt mir ein Mut machendes Lächeln. Das ist kein gutes Zeichen.
Als ich ruhig aufstehe, sehe ich mich nochmal um und betrete erneut das Zimmer.
*
Niemand sagt etwas, also ergreife ich das Wort. "Also, was ist denn jetzt mit der Selbsthilfegruppe?"
Mom und meine Therapeutin sehen sich erst gegenseitig an, nicken sich leicht zu und schauen dann beide zu mir. Mrs Jensen antwortet auf meine Frage. "Deine Mom hat mir von dem Buch erzählt und..."
"Woah... Moment mal, von welchem Buch ist hier die Rede?", frage ich etwas verwirrt. Sie meint doch wohl nicht DAS Buch, oder?
"Von deinem kleinen, schwarzen Notizbuch, in das du immer noch Briefe an Nick schreibst." Als Mom seinen Namen erwähnt, überkommt mich ein Schauer und ich spüre Wut in mir aufschäumen.
Dass ich kleine Briefe an Nick schreibe ist kein Geheimnis. Mom und Dad haben mir das Notizbuch geschenkt, damit ich dort meine Gedanken niederschreiben und seinen Tod somit besser verarbeiten kann. Das habe ich auch getan, nur in der Form von Briefen an meinen besten toten Freund. Es ist ja nicht so, als wäre es verboten und als würde ich Geister beschwören.
Es ist einen Moment still, ehe meine Therapeutin wieder das Wort ergreift. "Lyana, ich weiß, der Verlust von Nick war und ist nicht leicht zu verkraften, aber wenn du trotzdem immer wieder Briefe an ihn schreibst, als würdest du sie ihm am nächsten Tag geben, euren Chatverlauf durchließt und ähnliches, wirst du es nie schaffen, das alles zu verarbeiten." Klar, sie hat leicht reden. Schließlich hat ihr bester Freund sich nicht umgebracht. "Es wäre vielleicht hilfreicher, wenn du mit jemandem darüber redest."
"Aber das tue ich doch! Sonst wäre ich ja schließlich nicht in dieser Gruppe. Mein Verarbeitungsprozess dauert nun einmal etwas länger", versuchte ich mich zu verteidigen.
Sie sieht mich mit einem bemitleideten Blick an. Wie ich das hasse.
"Ja, schon und das ist auch vollkommen in Ordnung, nur haben deine Mutter und ich das Gefühl, es wird nicht besser. Also sind wir zu dem Entschluss gekommen, dir zusätzlich noch einen Platz für eine Einzeltherapie zu geben. Vielleicht ist das besser für dich. So kann ich mich nämlich nur auf dich konzentrieren und ich denke, das ist, was du brauchst", anwtortet sie in einem sachlichen Ton.
"Und was soll mir das bringen?" War das ihr Ernst? Es reicht schon, dass ich jeden Dienstag zur Selbsthilfegruppe gehen muss. Und jetzt auch noch Einzeltherapie? Das wird ja immer schlimmer.
"Es soll dir die Hilfe bieten, die du brauchst. Gruppentherapien sind in vielen Bereichen hilfreich und sinnvoll, aber ich glaube, bei dir war es der falsche Ansatz. Es wäre besser, wenn du dich erst einmal einer Person, in diesem Fall, einer Therapeutin anvertraust. Das wäre sicher einfacher. Nicht jeder kann oder möchte sofort vor einer Gruppe fremder Menschen seine Probleme ansprechen. Und das ist auch komplett in Ordnung. Hauptsache, dir geht es dadruch besser."
Ich schaue zwischen den beiden hin und her und spreche endlich das aus, was mir auf der Seele liegt. "Nein. Soll ich jetzt auch noch mehr von meiner Zeit mit diesem Therapiemist verschwenden? Das wird nicht nötig sein. Ich habe nämlich keine Albträume mehr und Rot ist meine neue Lieblingsfarbe. Sehen sie, ich bin geheilt."
"Nein, Lya, bist du nicht. Du brauchst diese Hilfe, also bitte nimm sie an", höre ich Nicks Stimme in meinem Hinterkopf sprechen." Ich möchte nicht, dass du so endest wie ich. Bitte tue es für mich."
Als keiner der beiden etwas auf meinen Kommentar antwortet, ergreife ich erneut das Wort. "Tut mir leid... Vielleicht haben Sie recht. Versuchen kann ich es ja zumindest", willige ich schließlich ein und setze ein gequältes Lächeln auf.
Mom sieht mich erleichtert von der Seite an und lächelt meine Therapeutin an.
"Das ist eine gute Entscheidung. Dann würde ich vorschlagen, dass die Einzeltherapie von jetzt an im Vordergrund steht und die Gruppensitzungen erst einmal in den Hintergrund gestellt werden. Wie ich deiner Mutter bereits erklärt habe, sehe ich bei dir bisher keinerlei Veränderungen und da du dich so gut wie gar nicht an den Gruppensitzungen beteiligst, brauchen wir eine andere Lösung. Wenn nur wir beide miteinander reden wird es dir vielleicht leichter fallen, über das zu reden, was dich beschäftigt. Ich glaube nämlich, dass du zwar eine relativ offene Person bist, aber nur, wenn es jedoch nicht um deine Probleme geht. Was würdest du dazu sagen, Lyana? Möchtest du trotzdem noch zu den Gruppensitzungen kommen?"
Sie hat recht. "Ich möchte ausnahmsweise mal ganz ehrlich sein: Diese Gruppe ist komplett unnötig. Ich passe da doch überhaupt nicht rein. Die Leute sind zwar nett und so, aber es ist irgendwie nicht das richtige. Also würde ich wirklich wahnsinnig gern diese Gruppe verlassen, wenn das in Ordnung ist."
Meine Therapeutin hört mir aufmerksam zu und nickt. Moms Miene verändert sich und sie sieht mich wieder mit diesem ich-wünschte-du-müsstest-nicht-mehr-so-sehr-darunter-leiden -Blick an. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen.
"Natürlich ist es das, Lyana. Ich war anfangs bereits skeptisch, was das anging, aber damals hatten wir alle Termine voll und konnten keine Patienten mehr annehmen, außer in einer der Gruppen. Aber jetzt haben wir eine neue Therapeutin und somit wieder mehr Kapazität. Da ich dich schon etwas kennengerlernt habe und mit deinem Fall vertraut bin, werde ich deine Therapie übernehmen. Am besten fände ich, wenn wir diese Woche schon anfangen würden. Die Krankenkasse hat dies bereits genehmigt. Und Mrs Healey, ich weiß, dass Sie sich um Ihre Tochter sorgen, aber wenn sie meint, dass die Gruppe ihr nicht bringt dann sollten wir sie auch dazu nicht zwingen. Wir können ihr nämlich nur helfen, wenn sie sich öffnet und vielleicht fällt ihr das in einem Zweiergespräch leichter. Machen Sie sich darum keine Sorgen, wir werden unser Bestes tun."
Die Besorgnis verschwindet langsam aus Moms Gesicht und sie atmet tief durch, bevor sie Mrs Jensen zustimmt.
"Also Lyana, wie wäre es mit diesem Donnerstag um 11:30 Uhr? Aber das ist dann noch nicht der feste Termin, da wir nach den Ferien schauen müssen, wie dein Stundenplan aussieht, sodass wir die Zeiten gut einplanen können, okay?"
Ach ja, in zwei Wochen geht die Schule wieder los. Ein neues Schuljahr. Mein letztes Schuljahr und das erste Schuljahr ohne Nick an meiner Seite...
"Lyana? Schatz, ist alles in Ordnung?" Mom legt sanft eine Hand auf meine Schulter. Ich zucke kurz zusammen, fange mich jedoch schnell wieder.
"Ja. Nein... ich meine ja, das passt."
"Gut, dann sehen wir uns am Donnerstag." Mrs Jensen steht auf, gibt uns zur Verabschiedung die Hand und wir verlassen ihr Büro.
Eins muss man ihr lassen. Sie kann Dinge gut überspielen. Sonst hätte sie mich auf dieses Ja/Nein Debakel gerade eben angesprochen, aber das hat sie nicht. Ich glaube, sie wusste, dass ich darüber in diesem Moment nicht reden wollte. Vielleicht haben sie und Nick recht und ich sollte es wirklich versuchen. Wirklich ehrlich sein. Was habe ich schon zu verlieren, wenn ich einer der wichtigsten Dinge in meinem Leben bereits verloren habe?
*
Während der Rückfahrt schmeißt Mom mir hin und wieder mitleidige Blicke von der Seite zu, bis wir unsere Einfahrt erreichen. Vermutlich möchte sie das Gespräch von vorhin nochmal zu Sprache bringen, hat aber dann gemerkt, dass ich sowieso abblocken würde und es hat dann bei der Stille belassen.
Vorerst jedenfalls, da bin ich mir sicher.
Als wir an unserem Haus ankommen, fährt Mom das Auto in die Garage. Wir steigen beide aus und sie geht vor, damit sie die Tür aufschließen kann. Ich folge ihr.
"Wir sind wieder da!", ruft Mom durch unser Haus, als ich mir die Schuhe ausziehe und in das Schuhregal stelle.
Gerade möchte ich die Treppe hoch in mein Zimmer gehen, als Mom mir hinterher ruft: "Lya, ich habe das Essen soweit schon vorbereitet, ich müsste es nur nochmal kurz aufwärmen. Kannst du, wenn du dich umgezogen hast, bitte den Tisch decken?"
"Warum ich denn ich schon wieder? Tessa ist doch dran", protestiere ich.
"Weil Tessa noch nicht da ist und ich mir nicht sicher bin, wann sie kommen wird. Sie ist noch mit ihrer Lerngruppe beschäftigt. Also, würdest du das dann bitte tun?" Sie sieht mich bittend an.
Ich stöhne genervt auf, willige jedoch ein. Mom bedankt sich bei mir und verschwindet sofort in der Küche, während ich die Treppe hochlaufe und in mein Zimmer gehe.
Natürlich ist meine große Schwester Tessa wieder einmal nicht Zuhause. Sie ist Collegestudentin und obwohl sie auch Ferien hat, verbringt sie diese mit Lernen. Tessa ist die perfekte Tochter: groß, schlank, hellbraune lange Haare, braune Augen. Also alles in allem hübsch und auch noch klug. Sie hat zum größten Teil nur Einsen und ist auch sonst die reinste Vorzeigestudentin. Meine Schwester ist an einer guten Uni und scheint sich mit allen bestens zu verstehen. Als wir noch jünger waren, war unser Verhältnis viel besser, aber im Laufe der Zeit verschlechterte es sich immer mehr, da wir immer älter wurden und uns in verschiedene Richtungen entwickelten. Tessa hat irgendwann nur noch Schulaufgaben gemacht und uns, also die Familie und ihre damaligen Freunde, sehr vernachlässigt. Dafür hat sie aber einen nahezu perfekten Abschluss geschafft. Ich habe mich immer gefragt, ob es das wert war, das alles zu vernachlässigen, da ich mir niemals vorstellen könnte, meine Freunde hängen zu lassen. So wie du Nick hast hängen lassen? Da waren sie wieder: meine Schuldgefühle. Du hättest ihm helfen können, wenn du besser auf ihn geachtet hättest. Dann wäre das nie passiert.
Ich versuche diese Gedanken zu verdrängen und schüttele leicht meinen Kopf. Da ich diese Gedanken mittlerweile täglich mit mir herumschleppe, wird es allmählich leichter für mich, sie zu kontrollieren. Jedenfalls rede ich mir das ein.
Als ich meine Schranktür öffne, fällt mir meine Jogginghose fast schon in die Arme. Ich bin froh, dass Mom nicht mehr meinen Schrank einräumt, sonst würde sie mir noch einen Vortrag davon halten, wie wenig Sinn für Ordnung ich besitze. Aber das ist mir relativ egal, Hauptsache ich finde alles was ich suche im meiner eigenen persönlichen Chaosordnung.
Ich schnappe mir also die Hose und tausche sie gegen meine Jeans ein. Sofort fühle ich mich viel wohler und würde am liebsten sofort wieder ins Bett steigen, aber da es gleich Abendessen gibt, kann ich das vergessen. Also lege ich die Jeans gefaltet auf meinen Stuhl und gehe wieder runter.
Ich betrete die Küche und nehme vier Teller aus dem Schrank und das dazu passende Besteck in die Hand und gehe damit in unser Esszimmer, welches direkt das Nebenzimmer der Küche ist. Auf unseren abgerundeten quadratischen Tisch stelle an jede Seite einen Teller mit Gabel und Messer daneben. Außerdem hole ich noch Gläser und eine Flasche Wasser und Limonade.
Als als ich fertig bin mit Tischdecken, gibt Mom mir Bescheid, dass das Essen bereit ist, serviert zu werden. Ich gehe zurück in die Küche und sehe Dad, der gerade die Auflaufform mit Lasagne in die Hand nimmt.
"Hey, Dad", begrüße ich ihn.
"Hallo, Lya. Wie war dein Tag? Ach, das können wir ja gleich beim Essen besprechen. Du kannst dich schon hinsetzten, ich bringe das Essen mit. Deine Mom kommt gleich auch, sie ist noch schnell zur Toilette gegagen", teilt er mir gut gelaunt mit und ich befolge seine Anweisung und setzte mich auf meinen Platz.
Ich nehme mir die Limoflasche in die Hand und gebe davon etwas in mein und Moms Glas. In das Glas von Dad schütte ich etwas Wasser ein und da ich nicht weiß, ob Tessa rechtzeitig oder überhaupt zum Essen kommt, lasse ich ihr Glas vorerst leer.
Da kommen auch schon Mom und Dad, mit der Lasagne in der Hand, ins Esszimmer und nehmen an ihren Stammplätzen Platz. Mom sitzt mir gegenüber und Dad sitz links neben mir. Der Platz rechts von mir, Tessas Platz, bleibt frei.
Jeder von uns nimmt sich ein Stück der Lasagne und wir beginnen zu essen.
"Da hat Tessa es also doch nicht mehr geschafft", stelle ich fest, als es plötzlich an der Tür klingelt. Das kann doch jetzt wohl nicht wahr sein.
Mom steht auf und geht freudig zur Tür. "Schön, dass du es noch geschafft hast, Schatz."
"Dann bin ich also nicht zu spät?", höre ich Tessas weiche und helle Stimme fragen.
"Nein, noch rechtzeitig. Wir wollten gerade anfangen."
Die beiden kommen ins Wohnzimmer und Tessa setzt sich auf den Stuhl neben mir.
"Hallo, Dad", begrüßt sie zuerst Dad und dann mich. "Hey, Lya."
In einem gelangweilten Ton erwidere ich ihre Begrüßung.
"Hallo, Tessa, schön, dass du es doch geschafft hast", lächelt mein Vater ihr zu. Ja, wirklich toll.
Sie schaufelt sich ein Stück der Lasagne auf ihren Teller und richtet sich an mich. "Wie geht's dir, Lya?"
Haben meine Eltern ihr gesagt, dass sie mich das fragen soll? Mit einem übertrieben freundlichen Lächeln beantworte ich ihre Frage. "Sehr gut, danke der Nachfrage. Und wie geht es dir?"
Ihr Lächeln verliert an Freundlichkeit und schlägt in Mitleid um. In ihren Augen ist abzulesen, was sie gerade denkt: Die arme Lya... Was können wir nur für sie tun, damit es ihr wieder besser geht und sie wieder die Alte wird? Aber Pech gehabt, Tessa. So bin ich jetzt nun einmal und ihr müsst das alle akzeptieren.
Sie versucht ihre Sorge jedoch zu überspielen, was ihr aber nicht gelingt, da ihre Augen Bände sprechen. Tessa konnte noch nie gut lügen. "Gut, danke. Wir waren mit der Lerngruppe heute sehr produktiv."
Sie nimmt die Gabel in die Hand und steckt sich ein Stück der Lasagne in den Mund. "Mom, die Lasagne ist wirklich lecker", lobt sie.
"Danke, Tessa. Schön, dass es dir schmeckt." Sie schenkt ihr ein kurzes Lächeln, bevor sie ein weiteres Stück der Lasagne isst.
Ich verdrehe sie Augen. Klar, dass sie das sagen musste.
Wir essen weiter und für ein paar Minuten herrscht Stille. Bis mein Vater mich anspricht. "Wie war denn die Gruppe heute, Lya?" Ich schaue von meinem Essen hoch und ihm in die Augen.
In meinem Augenwinkel bemerke ich, wie Mom und Tessa ihm warnende Blicke zuwerfen, doch er bemerkt es nicht. Wahrscheinlich wollen sie ihm so mitteilen, dass er mich nicht weiter ausfragen soll, aber er lässt nicht locker.
"Wie immer, scheiße", ist meine Antwort und ich weiß, dass jetzt eine hitzige Diskussion folgen wird.
"Sollen wir das nicht lieber ein anderes Mal besprechen, John?", versucht Mom, die bis hierhin herrschende Ruhe vor dem Sturm zu bewahren, aber vergeblich. Er überhörte ihren Kommentar. "Wieso das denn, Schatz? Ich interessiere mich nun mal für die Gesundheit meiner Töchter." Dad runzelt die Stirn.
"Vielen Dank dafür und es tut mir wirklich leid, dass eure gestörte Tochter noch nicht geheilt ist", blaffe ich zurück. Somit kommt der Sturm immer näher auf uns zu.
"So denken wir doch gar nicht von dir, Lya, und dein Vater hat nur nachgefragt, weil er sich Sorgen um dich macht, so wie wir alle", schaltet Mom sich nun auch in das Gespräch ein.
"Ja, das habe ich gemerkt. Hast du mich deshalb zur Einzeltherapie eintragen lassen?" In mir brodelt Wut.
"Wenn du es genau wissen willst, ja. Wir merken doch, dass es dir nicht besser geht und wollen, dass du das Leben wieder genießen kannst." Ihr Ton verschärft sich.
"Ich gebe mein Bestes und genieße mein Leben, okay? Aber ich würde es definitiv mehr genießen, wenn ich nicht andauernd über diesen ganzen Mist sprechen müsste, der passiert ist. Das ist doch dann kein Wunder, dass sich nichts ändert." Meine Stimme wird lauter.
"Ich glaube nicht, dass du dein Leben genießt, wenn du fast jede Nacht schreiend oder weinend aufwachst, weil du wieder einen Albtraum hattest und dich nur noch in deinem Zimmer verschanzt." Vielen Dank für deine Teilnahme an dieser Diskussion, Tessa. Aber dich hat niemand gefragt!
Das ist der Punkt, an dem sich der Sturm in einen Hurrikane verwandelt.
"Ich verschanze mich gar nicht nur noch in meinem Zimmer. Ich gehe auch mal raus an die Luft und treffe mich mit Freunden und gehe auch mal auf Partys, okay? Ganz anders als du in meinem Alter, Tessa. Wenigstens habe ich noch Freunde, mit denen ich was unternehmen kann." Mittlerweile schreie ich schon und Tessa tut es mir gleich.
"Ach ja? Ich habe mich aus eigener Hand dazu entschieden, mich auf die Schule zu konzentrieren. Und welche Freunde, Lya? Meinst du die, die du andauernd von dir wegstößt oder den, der der nicht mehr lebt?"
"Tessa!", stoßen meine Eltern gleichzeitig entsetzt aus.
Als ihr bewusst wird, was sie da gerade gesagt hat, schlägt sie vor Schreck ihre Hände vor den Mund.
Jetzt reicht es mir. Ausdruckslos lasse ich meine Gabel fallen, stehe schnell von meinem Stuhl auf, sodass er laut über den Boden schabt und verlasse das Esszimmer. Tessa ruft mir hinterher, wie leid ihr das tut, was sie gerade gesagt hat und es nicht so meint, aber das ist mir nun auch egal. Ich drehe mich nochmal kurz zu ihr um und werfe ihr ein "Fick dich" an den Kopf, wofür ich fassungslose Blicke von Mom und Dad ernte.
Noch nie habe ich sowas zu jemandem gesagt und eigentlich ist das auch nichts, was ich sagen würde, aber irgendwie kam es in diesem Moment über mich. Wie kann sie es nur wagen, so über Nick zu reden?
Ich laufe die Treppe hoch in mein Zimmer und knalle die Zimmertür zu. Ich nehme mir meine Kopfhörer und stecke sie in mein Handy ein und gehe auf Spotify, während ich mich auf mein Bett fallen lasse. Mir werden einige Lieder vorgeschlagen, aber ich wähle das Lied Bang Bang von Green Day aus. Es passt perfekt zu meiner Stimmung und so kann ich meine Aggressionen am angenehmsten raus lassen, da die Melodie schnell ist und mich auf diese Weise erst mal etwas entspannen kann.
Heute werde ich keinen Schritt mehr nach unten machen. Ich will niemanden mehr sehen. Also werde ich den Rest des Abends weiter hier in meinem Bett liegen bleiben und meine Musik hören.
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