❥ Chapter 20
Lyas POV
"Das hättest du sehen sollen. Lilian ist komplett ausgerastet deswegen", sagt Maddie, während sie ihre Sachen in die Tasche packt, da es gerade zur Pause geklingelt hat.
Nachdem ich gestern nach Hause gegangen bin, ging es anscheinend kurz vor Schulschluss nochmal richtig zur Sache zwischen Dean und Lilian aus meinem Jahrgang. Ich kenne die beiden nicht so gut und habe nur Sport mit Lilian, aber ich sehe sie immer in der Mittagspause. Lilian und Dean sind schon seit einigen Monaten ein Paar und zwischen ihnen schien immer alles harmonisch zu laufen, aber anscheinend hat Dean Lilians ältere Cousine Emma geküsst, als sie letztes Wochenende auf einer Party von einem von Deans Freunden waren. Lilian hat es nicht gesehen, weil sie wohl früher nach Hause ging, aber eine ihrer Freundinnen hat es gesehen und es ihr erzählt. Als sie Dean dann über den Weg gelaufen ist, konnte sie ihre Gefühle nicht mehr unterdrücken und hat ihn mitten im Flur, vor allen anderen Schülern, angeschrien. Und jetzt ist endgültig Schluss zwischen den beiden.
"Das glaube ich dir. Sie ist ja sowieso schon sehr temperamentvoll."
"Ja, aber wie sie ihn angegegangen ist, war schon krass. Aber ganz ehrlich, ich hätte auch so reagiert, wenn mein Freund mit meiner Cousine rumgeknutscht hätte. Er hat's verdient."
Ich stimme ihr nickend zu. "Dean ist sowieso ein Arschloch, was eigentlich jeder weiß, aber anscheinend gibt e simmer Leute, die darauf reinfallen." Wir stehen auf und begeben uns zur Tür.
"Lyana, würdest du nochmal kurz herkommen? Es dauert nicht lange", unterbricht Mrs Anderson unser Gespräch.
Verdattert sehe ich Maddie an, doch sie zuckt nur mit den Schultern. "Wir treffen uns in der Mensa", ruft sie mir zu und verlässt mit Alec und Jonah den Klassenraum.
Langsam schlendere ich auf Mrs Anderson zu und bleibe vor ihr stehen. Ich habe keine Ahnung, was mich jetzt erwartet, aber so, wie sie da gerade sitzt, vermute ich eine Moralpredigt oder so. "Setz dich doch kurz hin." Sie deutet auf den Stuhl vor ihrem Pult und ich setze mich hin. Abwartend schaue ich sie an. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, kann es nichts schlimmes sein und das beruhigt mich ein bisschen. Sie legt ihre Hände gefaltet vor sich auf den Tisch und ich weiß, dass ernst wird. "Gestern kam Mr Samuels auf mich zu und hat mir erzählt, was im Biologieunterricht passiert ist." In ihrem Blick ist Sorge und Mitgefühl zu erkennen. Voller Unbehagen fange ich wieder an, meine Hände zu kneten.
"Geht es dir wirklich gut, Lyana? Ich weiß, die ganze Sache mit Nick geht besonders dir sehr nah und ich sehe, dass du zurückhaltender geworden bist."
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, denn damit habe ich ganz bestimmt nicht gerechnet. Warum hat Mr Samuels gedacht, das wäre wieder wegen Nick gewesen? Nicht alles hat mit ihm zutun. Auch, wenn es so war, hätte er das doch nicht gleich der ganzen Lehrerschaft erzählen müssen.
"Deswegen bin ich zu Mrs Prentiss gegangen und habe dir für heute einen Termin geben lassen. In der nächsten Pause kannst du dorthin, wenn du möchstest."
Kurz herrscht Stille zwischen uns, bis ich meine Stimme wieder gefunden habe. "Sie meinen die Vertrauenslehrerin?", frage ich fast schon flüsternd.
Mrs Anderson nickt. "Und sollte dieses Treffen länger dauern als die Pause, ist hier die Entschuldigung, die du deinem Lehrer oder deiner Lehrerin in der darauffolgenden Stunde geben kannst." Sie holt einen Zettel aus ihrer Unterlagenmappe und schiebt ihn mir zu.
"Es wird wieder besser, Lyana. Glaub mir."
Daraufhin sehe ich sie nur ungläubig an und stehe auf. Kurz bevor ich den Raum verlasse ruft sie mir noch ein "bis dann" hinterher, doch ich drehe mich nicht mehr herum, sondern gehe einfach weiter. Sie hat doch keine Ahnung, wie das ist. Alle tun so, als würde ich das, was passiert ist, bald vergessen können und einfach so weitermachen, als wäre nie etwas gewesen. Es ist leicht sowas zu sagen, wenn man selbst nicht in dieser Situation ist.
Wütend zerknülle ich den Zettel und setze mich zu Maddie, die direkt neben dem Mensaeingang sitzt. Diese sieht mich nur fragend an und mustert den zerknüllten Zettel in meiner Hand.
"Was wollte sie?"
"Mich zur Vertrauenslehrerin schicken wegen gestern." Genervt verdrehe ich die Augen.
"Oh. Ich habe nichts gesagt, ehrlich", entgegnet sie sofort und hebt abwehrend ihre Hände.
"Ich weiß. Sie meinte auch, dass sie Veränderungen an meinem Verhalten bemerkt habe und so. Aber es wird ja wieder", äffe ich sie nach. Resigniert stütze ich mein Kinn in die Hände. "Das hat mir gerade noch gefehlt. Mann, ich bin doch schon in Therapie, was wollen die denn alle noch?"
"Hey, sie meint es doch nur gut. Wir alle meinen es nur gut. Es ist doch nur ein Gespräch, oder? Außerdem wirst du ja zu nichts gezwungen", sagt Maddie mit ruhiger Stimme. Ich weiß ja, dass es alle nur gut mit mir meinen und mir helfen wollen, aber so langsam ist es zu viel des Guten. "Wann musst du denn dorthin?"
"In der nächsten Pause."
"Soll ich dich begleiten?", bietet meine beste Freundin an.
Ich schüttle den Kopf. "Nein, ist schon okay. Trotzdem danke. Ich werde sowieso nicht lange brauchen."
"Okay, und du wirst auch wirklich hingehen?", fragt sie zögerlich.
"Mir bleibt wohl nicht anderes übrig, weil sie das wohl sonst Mrs Jensen petzen wird." Also bin ich wohl oder übel dazu gezwungen.
"Wie auch immer. Wo sind eigentlich die Jungs? Die waren doch eben noch da." Verwirrt sehe ich um mich, doch ich kann sie nirgends sehen.
"Jonah musste kurz zu seinem Auto, um die Parkscheibe zu drehen und da ist Alec mitgegangen."
"Warum grinst du denn jetzt so?", frage ich Maddie skeptisch und wüsste nicht, warum sie in so einer Situation zu lachen hätte.
"Ach nichts", antwortet sie mit einer wegwerfenden Handbewegung und ich weiß ganz genau, dass da doch etwas ist, was sie mir aber nicht sagen möchte.
"Du kannst doch nicht so vor dich hingrinsen und mir dann sagen, dass da nichts wäre. Spuck's einfach aus, Maddie."
Sie tut kurz so, als würde sie überlegen. "Okay, ich sag's dir." Sie klingt genauso aufgeregt wie damals, als Harry Styles sein erstes Soloalbum angekündigt hat. Meine beste Freundin lehnt sich nach vorn und beginnt zu erzählen, als handele es sich um ein wohlgehütetes Geheimnis. "Gestern hat Alec nach dir gefragt."
Abwartend sehe ich sie an, doch danach kommt nichts mehr. "Das war's? Deswegen rastst du aus?", frage ich und verstehe gar nichts mehr.
"Äh, ja. Ich glaube er steht auf dich."
Augenrollend wende ich mich ab und suche in meiner Tasche nach meiner Flasche.
"Du liest zu viel, Maddie. Wir kennen uns gerade einmal seit ein paar Wochen. Mein Leben ist kein Teenagerroman." Sondern eher ein Albtraum. Man muss doch nicht an jemandem interessiert sein, wenn man sowas fragt.
"Nein,", sie schüttelt den Kopf. "Du hättest ihn sehen sollen. Er schien sich wirklich Sorgen zu machen."
"Kein Wunder, so wie ich gestern aus dem Raum gestrümt bin. Da hätte ich auch nachgefragt."
"Lya..."
"Hier sind wir wieder", unterbricht Jonah sie und er und Alec setzen sich zu uns. Das würde ich mal perfektes Timing nennen. Aber das war sowieso schon immer eine Stärke von ihm. Ich sehe kurz auf und werfe ihnen ein dankbares Lächeln zur Begrüßung zu.
Maddie sieht mich noch immer an und deutet kaum merklich mit ihrem Augen auf Alec neben mir. Oh Mann, das kann doch nicht wahr sein. Ich rücke meinen Stuhl nach hinten und stehe auf. Alle drei starren mich an.
"Ich muss los. Heute sollen wir etwas früher da sein." Meine Tasche schulternd, verlasse ich die Mensa. Mir entgeht jedoch nicht der frustrierte Blick, den Maddie mir hinterherwirft.
*
Vor der Tür von Mrs Prentiss' Büro beibe ich stehen. Das kann doch wirklich nicht wahr sein. Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen, verdammt. Zögernd klopfe ich an die Tür, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich einfach reingehen kann, oder draußen warten soll, bis sie mich hineinbittet, auch wenn ich einen Termin habe.
Kurz darauf öffnet sich die Tür und vor mir steht unsere blonde Vertrauenslehrerin, die mich mit einem willkommenden Lächeln empfängt. "Hallo, Lyana. Komm doch rein."
Sie tritt zur Seite und ich gehe an ihr vorbei ins Büro. Es sieht genauso aus, wie man es sich bei einem Vertrauenslehrer ausmalt: an der Wand hängen Poster mit Jugendlichen, die irgendwelche Probleme haben mit verschiedenen Sprüchen, Pflanzen stehen auf der Fensterbank und generell hat alles hier einen persönlichen Touch, finde ich. Vielleicht ist es der vollgestellte Schreibtisch oder die volle Pinnwand mit Fotos von ihr und Tieren. Teilweise erinnert es mich an den den Therapieraum von Mrs Jensen. Mrs Prentiss schließt die Tür und geht danach an mir vobei und lässt auch auf ihren Schreibtischstuhl nieder.
"Setz dich doch bitte auf den Stuhl", bittet sie mich freundlich und deutet auf den besagten Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Ich setze mich hin und lasse meine Tasche neben mir auf den Boden sinken. Dann sehe ich wieder zu Mrs Prentiss und sie blickt mich an, als wäre ich ein hilfloses kleines Kind, das gerade seine Mutter im Supermarkt verloren hat und jetzt beruhigt werden muss. Sie ist noch recht jung, jünger noch als Mrs Jensen. Vielleicht Anfang 30.
"Schön, dass du gekommen bist, Lyana."
"Ja", engegne ich darauf kurz angebunden und und versuche ein Lächeln aufzusetzen. Schön finde ich es nicht, aber das muss ich ihnr ja nicht direkt auf die Nase binden. Doch genau diese Geste treibt ihr eine Spur von Mitgefühl in die Augen, das ich mittlerweile sehr gut erkennen kann, so oft wie ich das in den letzten Monaten gesehen habe.
"Wie geht's dir denn so?", fragt sie eindringlich und ich muss mich zuammenreißen, damit ich nicht die Augen verdrehe. Gott, wie ich diese Frage hasse. "Gut, danke der Nachfrage."
"Wirklich?" Sie sieht mich skeptisch an. "Ich meine, die letzen Monate waren bestimmt nicht einfach für dich und viele machen sich sicher Sorgen um dich. Nach... nach dem Vorfall sind viele deiner Mitschüer zu mir gekommen und haben mit mir über Nick gesprochen. Nur du bist nie gekommen, obwohl es dich doch am meisten getroffen haben musste. Du warst schließlich seine beste Freundin, wenn ich das richtig verstanden habe."
Ich versuche den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, der sich bei ihren Worten gebildet hat. Ich weiß, dass ich das Angebot, mit ihr über das Geschehene zu sprechen, nicht angenommen habe. Auch wenn ich schon mehrere Male eine Einladung dazu bekommen habe, habe ich sie immer wieder ignoriert, bis jetzt. Und all die anderen, die bei ihr waren und über Nick geredet haben, waren wahrscheinlich sowieso nur Heuchler, die nie etwas mit ihm zutun hatten und plötzlich traurig waren.
Ich glaube, Jonah war einmal in der letzten Woche vor den Ferien bei ihr, aber das bin ich mir nicht sicher. Er hatte einen Grund, schließlich war einer von Nicks engsten Freunden. Ob Maddie auch bei ihr war, weiß ich nicht, könnte aber sein. Die letzten Wochen vor den Somerferien habe ich sowieso kaum noch etwas mitbekommen und jeder war wohl froh, dass alle Klausuren und Tests vorbei waren. Die hätte ich nämlich hundertprozentig verhauen.
"Ich wollte dich wirklich nie bedrängen und das möchte ich heute auch nicht, aber der Vorfall ist jetzt schon länger her und deine Lehrer machen sich noch immer Sorgen um dich. Klausuren und Tests wurden jetzt zwar noch nicht geschrieben, aber es ist dein letztes Schuljahr bevor du aufs College gehst und wir wollen, dass du einen guten Abschluss schaffst, auch wenn es schwer ist." War ja klar, dass das kommen musste. Anscheinend ist ja nichts wichtiger als die Schule.
Ich verstehe ja, dass das College wichtig ist, aber auch noch daran zu denken, engt mich noch mehr ein.
"Das ist alles nicht leicht und wir wissen das. Deswegen versuchen wir dir so gut es geht zu helfen." Ja, aber Sie hätten Nick helfen sollen.
Mrs Prentiss lächelt mir ermutigend zu. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und meine Augen beginnen leicht zu brennen. Nein, ich werde jetzt nicht weinen. Nicht jetzt und auf keinen Fall hier. Also wende ich meinen Blick ab und räuspere mich. "Ich weiß, danke." Meine Stimme ist leise und zerbrechlich, also versuche ich mehr Kraft hineinzupacken, um sicherer zu klingen. "Ich bin bereits in Therapie und meine Familie und meine Freunde unterstützen mich. Es ist... nicht leicht, aber ich arbeite daran." Diese Sätze habe ich mir in der letzten Unterrichtsstunde ausgedacht und seitdem immer wieder im Kopf wiederholt, damit ich möglichst sicher klinge. Hoffentlich ist es mein Ticket aus dieser Situation heraus.
Wieder huscht Mitleid über ihr Gesicht. "Das ist schön zu hören. Es ist toll, dass du weitermachst und nicht aufgibst, Lyana." Jetzt fühle ich mich, als wäre ich bei den anonymen Alkoholikern. Du bist stark und lässt dich nicht von einem Rückschlag einschüchtern. Hilfe. Aber was sie eigentlich damit sagen möchte: Es ist toll, wie du das durchstehst. Du bist ein starkes Mädchen. Es tut mir sehr leid, dass du das durchmachen musst, aber das wird schon wieder.
Das sagen sie auch nur, weil sie sich auf irgendeine Art schuldig fühlen und sonst nicht wissen, was man sagen kann. Doch in Wirklichkeit haben sie keine Ahnung, wie es ist, seinen besten Freund tot aufzufinden. Egal, wie empathisch sie auch sind, sie werden es nie nachempfinden können.
"Ja", ich ziehe das Wort in die Länge und deute mit einem Finger auf dir Tür, "dann kann ich also wieder gehen?"
"Oh, äh ja, wenn du nichts mehr sagen möchtest. Aber wenn doch noch irgendwas sein sollte... meine Tür steht immer offen." Zum Abschied lächelt sie mich wieder mit diesem typischen Vertrauenslehrer-Lächeln an, wie am Anfang unseres Gespräches.
Ich nicke und setze ebenfalls ein Lächeln auf. "Danke." Ich stehe auf, nehme meine Tasche und verlasse den Raum.
Zum Glück hielt sich die Peinlichkeit in Grenzen und ich konnte das Gespräch verkürzen. Das Letzte, was ich jetzt noch gewollt hätte ist, dass ich auch noch mit ihr hätte reden müssen. Es ist ja nett von allen, dass sie sich um mich kümmern wollen, aber mir wär's lieber, wenn sie mich einfach mal in Ruhe lassen würden, mir Luft zum Atmen geben würde. Wahrscheinlich haben alle hier Angst, ich wäre die Nächste, die sich das Leben nehmen würde. Obwohl ich ihnen schon so oft klargemacht habe, dass ich mich das nicht trauen würde. Die sind schon genauso schlimm wie meine Eltern.
Aber ich glaube, nach einem Fall davon steigt die Angst bei sowas umso mehr.
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